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Sabine Stamer

Autorin I Journalistin

Sabine Stamer trifft…
Interviews & Porträts

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© TVNOW/Vertigo

Sibel Kekilli über Alltagsrassismus: "Ich werde ständig gefragt, woher ich komme"

Als "Tatort"-Polizistin wurde sie einem breiten Publikum bekannt. Vor dem Start der neuen Serie "Bullets" erzählt Sibel Kekilli, welche Vorurteile sie ärgern. Ein Gespräch für Spiegel Online.

Sibel Kekilli, Jahrgang 1980, gilt nach ihrem Debüt in "Gegen die Wand" (2004) und ihrer überzeugenden Darstellung in "Die Fremde" (2010) als eine der profiliertesten deutschen Schauspielerinnen ihrer Generation. Von 2010 bis 2017 spielte sie die Kieler "Tatort"-Kommissarin Sarah Brandt. In der HBO-Serie "Game of Thrones" übernahm sie die Rolle der Shae. Für ihr Engagement für Frauen- und Mädchenrechte erhielt sie 2017 das Bundesverdienstkreuz. Ab 3. Dezember ist Kekilli auf RTL-Crime in der deutsch-finnisch-belgischen Thrillerproduktion "Bullets" zu sehen. SPIEGEL: In der Serie "Bullets" spielen Sie Madina Taburova, eine international gesuchte Terroristin, die Selbstmordattentäter rekrutiert. Haben Sie gezögert, diese Rolle anzunehmen? Sibel Kekilli: Nein. Mich faszinieren starke, gebrochene Charaktere. Und das habe ich in ihr gesehen. Ich lese ein Drehbuch als Schauspielerin, nicht als Privatperson. Als Mensch verurteile ich die Taten einer Terroristin, aber als Schauspielerin denke ich: Was für eine interessante Gelegenheit, sich dieser Person psychologisch zu nähern. Auch im wahren Leben möchte ich immer wissen, wie ein Mensch tickt und aus welchen Beweggründen er handelt. SPIEGEL: In der Vergangenheit haben Sie mehrfach gesagt: "Ich will nicht auf die Rolle der Türkin festgelegt werden." Jetzt spielen Sie eine Tschetschenin mit Kopftuch. Sind Ihnen die Angebote heute vielfältig genug? Kekilli: Ja, bis jetzt hatte ich hier viel Glück mit so unterschiedlichen Filmen und Rollen wie in "Game of Thrones", "What a Man" oder "Winterreise". In bestimmte Schubladen gesteckt zu werden, ist für mich als Schauspielerin problematisch. Und es ist offenbar schwierig, da schnell wieder herauszukommen. Die Rolle der Madina ist in jedem Falle sehr vielfältig. SPIEGEL: Also verlaufen Castinggespräche heute anders für Sie? Kekilli: Manche Regisseure und Caster haben sich gar nicht mehr getraut, mir türkische Rollen anzubieten. Dabei habe ich grundsätzlich nichts dagegen, hin und wieder eine Deutsch-Türkin zu spielen. Es kommt immer auf die Geschichten an. Es war mir aber wichtig, klarzumachen: Hey, ich bin keine Türkin, die Rollen verkörpert, sondern eine Schauspielerin, die versucht, verschiedene Rollen glaubhaft darzustellen. SPIEGEL: Als "Tatort"-Kommissarin Sarah Brandt spielten Sie von 2010 bis 2017 eine urdeutsche Rolle in einer urdeutschen Serie. Kekilli: Aber ich musste den Medien dennoch jahrelang erklären, warum ich als Kommissarin Sarah Brandt heiße. Eine türkische Ermittlerin zu spielen, sei doch viel interessanter, erklärte man mir. Ich empfinde das als Beleidigung für beide Seiten, für die deutsche Schauspielerin und für die Schauspielerin mit Migrationshintergrund. Das ist Alltagsrassismus. SPIEGEL: Das heißt, Sie begegnen heute noch immer vielen Vorurteilen, wenn es um die Besetzung spannender Rollen geht? Kekilli: Ja, die Filmbranche ist ein Spiegel der Gesellschaft. Wenn die Gesellschaft Frauen ab vierzig nicht mehr beachtet, dann kommen sie in Filmen auch nicht mehr vor. Definitiv sind viele deutsche Filme immer noch zu "weiß" besetzt. Regisseure klagen zum Beispiel, dass sie hierzulande aufgrund ihres ausländischen Namens keine Förderung erhalten. Aber diese Kollegen melden sich leider nicht öffentlich zu Wort. Nur so könnte sich etwas ändern. Aber viele haben Angst, dann erst recht keine Aufträge oder Rollen mehr zu bekommen. SPIEGEL: Sie arbeiten längst in internationalen Produktionen. Sind denn die US-amerikanische oder die finnische Filmbranche weniger von Klischees geprägt? Kekilli: Am Set von "Game of Thrones" hieß es immer "You are so German!": Vor zehn Jahren hat sich eine finnisch-englische Schauspielerin bei mir beschwert, dass sie in Finnland als englische Schauspielerin und als Ausländerin gesehen wird, obwohl sie dort lebt, Finnisch ohne Akzent spricht und einen finnischen Mann hat. Dieses Problem gibt es überall. In den USA ist man etwas mehr sensibilisiert. Es gab die #MeToo-Debatte und breite Diskussionen über das sogenannte Whitewashing, also die Besetzung nicht weißer Charaktere mit weißen Schauspielerinnen. Man ist vorsichtiger geworden. SPIEGEL: Als Schauspielerin Halle Bailey jüngst als "Ariel" für eine Disney-Neuverfilmung gecastet wurde, gab es einen Aufschrei im Netz. Eine Meerjungfrau könne nicht schwarz sein. Kekilli: Wer sagt denn, dass Ariel weiß sein muss? Es handelt sich doch sowieso um ein Märchen. SPIEGEL: Die USA gelten als Schmelztiegel, in dem sich viele Ethnien integrieren. Trotzdem wird dort jeder dauernd nach der Herkunft gefragt. Kekilli: Das habe ich nicht so extrem empfunden wie in Deutschland. Hier werde ich tatsächlich ständig gefragt, woher ich komme. Wenn ich dann antworte, ich stamme aus Deutschland, aus dem Schwabenländle, dann will man sofort wissen, wo meine Eltern geboren sind, was meine Muttersprache ist und ob ich wieder zurückgehe in mein Land. Damit ist dann die Türkei gemeint. Das macht mich immer wieder traurig. Man hat mir dadurch oft das Gefühl gegeben, ich sei Gast, und kein willkommener. Ich unterstelle ja auch nicht jedem, der nicht blond und blauäugig ist, dass er kein Deutscher sein kann. In dem Land, in dem ich geboren bin, in dem ich lebe, wähle, Steuern zahle, möchte ich diese Fragen nicht jahrzehntelang beantworten müssen. Ich empfinde diese Fragen als Affront. Auch das ist Alltagsrassismus. SPIEGEL: Sie haben im Netz viele Hasskommentare erhalten und deshalb vorübergehend ihren Instagram-Account geschlossen. Haben die Angriffe nachgelassen? Kekilli: Es erreichen mich immer noch viele Beschimpfungen und Drohungen. Unsere Gesellschaft verroht, Höflichkeit und Respekt zählen nicht mehr. Es wird eher schlimmer. SPIEGEL: Was muss sich ändern? Kekilli: Die Rechtsprechung muss mehr Schutz bieten. Die sozialen Medien brauchen ein Korsett. Mobbing und Stalking müssen bestraft werden, und zwar nicht erst, wenn schon jemand zu Schaden gekommen ist. SPIEGEL: Trotzdem sind Sie selbst in den sozialen Netzwerken präsent? Kekilli: : Ob ich einen Instagram-Account habe oder nicht, möchte ich nicht von diesen Menschen und ihren Beschimpfungen abhängig machen. Aber manchmal frage ich mich, warum ich mich mit solchen Kommentaren überhaupt beschäftigen muss. Das ist Selbstvergiftung. SPIEGEL: Sie halten mit Ihrer politischen Meinung nicht hinter dem Berg. Raten andere Ihnen, sich zurückzunehmen? Kekilli: Immer wieder. Ich solle mich nicht zu sehr gegen Ehrenmorde und für Frauenrechte engagieren, dann würde ich nicht als Schauspielerin wahrgenommen, hieß es mal. Andere meinen, ich solle mich auf keinen Fall zu politischen Fragen äußern. Aber ich habe eine Stimme und die werde ich nutzen, um mich für bestimmte Dinge zu engagieren, die mir wichtig sind. 01.12.2019

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© Stefan Flad

Schauspieler Peter Sattmann: "Einsam wäre übertrieben, aber allein"

Diesen Mann kennen Sie bestimmt: ARD, ZDF, Inga Lindström, Herzkino. Aber Peter Sattmann ist nicht der, den Sie zu kennen glauben. Sein Leben ist voller Abgründe, eine Geschichte von Süchten und Sehnsüchten. Ein Gespräch für Spiegel Online.

Peter Sattmann ist einer jener Schauspieler, dessen Name nicht sofort jedem etwas sagt, dessen Gesicht aber viele kennen. Der 72-Jährige spielte in den Siebzigerjahren unter Claus Peymann am Theater in Stuttgart, wurde in dieser Zeit zweimal zum Schauspieler des Jahres gekürt. Später trat er vor allem im Kino und im Fernsehen auf, hatte zahlreiche Rollen in Erfolgsfilmen wie "Karambolage" mit Constanze Engelbrecht und Iris Berben oder "Abgeschminkt" mit Katja Riemann. Mit Riemann war er zehn Jahre lang liiert. Die beiden haben eine gemeinsame Tochter. Am 4. November erschien Sattmanns Autobiografie "Mein Leben ist kein Drehbuch", in der er seine wechselvolle Vergangenheit erzählt: Es geht um seine Jugend in der DDR, seine Übersiedlung 1957 in den Westen, die Misshandlung durch einen Geistlichen, seine Zeit als Stadtstreicher in den Sechzigerjahren und seinen unsteten Lebenswandel mit Drogen und Spielen. Nichts von alledem will Sattmann missen. SPIEGEL: Herr Sattmann, Ihre Autobiografie ist gleichermaßen geprägt von Komik und Dramatik. Wie erinnern Sie Ihre Kindheit? Sattmann: Ich habe da ausnahmslos gute Erinnerungen. Im Gegensatz zu vielen anderen Menschen. Ich bin sehr dankbar für mein Leben, für alles, was passiert ist. Ich finde mich reich beschenkt vom Schicksal. Allein die Tatsache, dass man in dieser Lücke lebt, wo gerade mal kein Krieg ist. SPIEGEL: Sie haben schon als Kind Erfahrungen machen müssen, die andere als traumatisch bezeichnen würden. Fast belustigt beschreiben Sie, wie Sie als Vierjähriger Ihren Vater fanden, als der gerade versuchte, sich zu erhängen. Sattmann: Ich habe alles aus kindlicher Sicht aufgeschrieben. Dadurch entsteht vielleicht eine Leichtfertigkeit im Umgang mit diesen Geschichten. Ich sehe meinen Vater noch genau vor mir, wie er mich angeguckt hat. SPIEGEL: Was haben Sie denn gedacht, als Sie Ihren Vater so sahen - mit einem Seil um den Hals? Sattmann: Wenn er weint und nicht mehr leben will, habe ich gedacht, muss man ihm das gestatten. Ich habe meine Mutter weggeschoben, weil sie ihn herunterholen wollte. 'Du siehst doch, er will nicht mehr leben', sagte ich. Als Kind ist man eben der Meinung, einem Weinenden kann man nichts ausschlagen. Die beiden, die sich ständig trennen wollten, fanden das so lustig, dass sie sich im Grunde darüber wiedergefunden haben. SPIEGEL: Warum war Ihr Vater so verzweifelt? Sattmann: Mein Vater war ein sehr melancholischer Mann, sein Leben lang selbstmordgefährdet. Vor allem, wenn Vollmond war, war er depressiv. Wir hatten immer Angst, er könnte sich etwas antun. Wahrscheinlich habe ich das geerbt. SPIEGEL: Hatten Sie selbst auch Selbstmordgedanken? Sattmann: Immer wieder. Schon mit acht wollte ich von einer Brücke springen. Ich empfinde immer eine Todesnähe. Ich will damit leben, und ich will damit glücklich sterben. SPIEGEL: Warum haben Sie solche Gedanken? Sattmann: Weil ich es scheiße finde, alt zu werden. Dieser Leistungsschwund ist schrecklich. Seit ich 50 bin, nehme ich alle zwölf Stunden zehn Tabletten zum Überleben. Ich habe wahnsinnig hohen Blutdruck, Altersdiabetes und Vorhofflimmern. Bei einem Blutdruck von 230:190 und einem Puls von 160 dachte ich in den letzten Wochen, die Veröffentlichung meines Buches werde ich nicht mehr erleben. SPIEGEL: Sind das Folgen Ihres Lebenswandels? Sattmann: Kann sein. Aber lieber rauche ich, als zehn Jahre länger zu leben. SPIEGEL: Ihre Eltern sind mit Ihnen im Alter von zehn Jahren 1957 von Zwickau in Sachsen nach Friedrichshafen an den Bodensee gezogen. Wie war das für Sie? Sattmann: Ich habe heimlich ganz viel getrauert und wollte sofort wieder zurück. Nach dem ersten Schultag habe ich nur geweint. Ich bin eigentlich gerne zur Schule gegangen. Vor allem im Osten. Es gab im Osten keinen Leistungsdruck im klassischen Sinne, man hat miteinander gelernt. Ich habe mich dann auch im Westen darauf gefreut. Doch die Schokoküsse, die Bananen und Orangen konnten mir das Leben im Westen nicht versüßen. Es war Horror im Westen, in der Hauptsache durch einen Pfarrer, den ich den "schwarzen Mann" nannte. Generationen von Jungs haben unter seinen brutalen Schlägen gelitten. Prügel waren in Westdeutschland noch bis 1962 erlaubt, während sie in der DDR längst verboten waren. SPIEGEL: Der Pfarrer hat nicht nur geprügelt, er hat Sie und die anderen Jungs auch für seine sexuellen Fantasien missbraucht, indem er onanierte, während er Sie alle Blinde Kuh spielen ließ. Sie haben Ihren Eltern nie davon erzählt. Warum nicht? Sattmann: Ich glaube, ich habe mich geschämt, dachte, es wäre meine Schuld, dass ich Dresche gekriegt habe. Wenn meine Eltern noch leben würden, hätte ich es auch in meinem Buch nicht erwähnt. SPIEGEL: Wäre Ihr Leben anders verlaufen, wenn das nicht passiert wäre? Sattmann: Ja. Ich hätte die Schulzeit glücklich verlebt. Ich hätte diese schlimmen Erinnerungen nicht und diesen Hass auf diesen Mann, diese Verachtung. SPIEGEL: Sie sind danach als Jugendlicher in München auf der Straße gelandet. Sattmann: Ja, als Obdachloser, als Gammler, als Penner, als Stadtstreicher, nennen Sie es, wie Sie wollen. Als junger Mensch wollte man nach München, weil das die erste Anlaufstelle war für die Jugendbewegung. Ich wollte frei sein. Gammeln ist hervorragend, solange die Sonne scheint und man draußen lässig übernachten kann. Aber wenn es kalt war und der Bahnhof abgeschlossen wurde und alle von dort vertrieben wurden, habe ich Dauerlauf um den Bahnhof herum gemacht, damit ich nicht erfriere. SPIEGEL: Sind diese Erlebnisse vielleicht ausschlaggebend für Ihre Melancholie, Ihre Selbstmordgedanken? Sattmann: Das kann gut sein. Aber ich bin viel älter geworden, als ich es mir erträumt habe, ich bin sehr zufrieden. Im November '66 habe ich versucht, auf die Schauspielschule zu kommen, und das hat geklappt, damit war ich auch wieder raus aus diesem Gammlerleben. Trotzdem war ich schon in jungen Jahren überzeugt, mit 54 zu sterben. Meinen Töchtern sage ich immer: Trauert nicht, wenn ich mal sterbe! Seid froh, dass ich es geschafft habe. SPIEGEL: Was sagen denn Ihre Töchter dazu? Sie haben drei Kinder von drei verschiedenen Müttern, richtig? Sattmann: Ja, aber wir reden nur über zwei. Die ältere und die jüngste sind Auge in Auge gezeugt worden. Die andere, sie ist jetzt ungefähr 35, ist das Ergebnis einer Affäre, es war ein Versehen. SPIEGEL: Aber sie ist Ihre Tochter. Sattmann: Ich habe 20 Jahre lang Geld geschickt, aber ich habe kein Verhältnis zu ihr. Ich will das nicht erzählen, bitte. SPIEGEL: Und Ihr Verhältnis zu den anderen beiden Töchtern und ihren Müttern? Sattmann: Das ist innig. Die Mutter von Katrin lebt nicht mehr. Paulas Mutter Katja (Riemann) und ich sind nach wie vor befreundet, sogar noch verliebt. SPIEGEL: Warum sind Sie dann nicht mehr zusammen? Sattmann: Weil das nicht geht. Ich denke, ich bin für jeden anderen Menschen eine Zumutung, wenn es um das Zusammenleben geht, weil ich ein Eigenbrötler bin und ein großer Egozentriker. SPIEGEL: Sieht Katja Riemann das auch so? Sattmann: Ja, aber sie würde es nicht Zumutung nennen. Wir sagen uns: Ich liebe dich, aber ich möchte nie wieder mit dir zusammenleben. Wir waren zehn Jahre zusammen. Im Augenblick hat sie keinen Liebhaber, keinen Lebenspartner. Ich beende jede E-Mail mit: "Ich liebe dich, ich küsse dich". Herrlich! Wir haben uns ohne Rosenkrieg getrennt. Die Boulevardpresse schrieb, die Beziehung sei gescheitert. Ich bin allerdings der Meinung, wenn man sich nach zehn Jahren in Freundschaft trennen kann, dann ist eine Beziehung nicht gescheitert, sondern gelungen. SPIEGEL: In Ihrem Buch schreiben Sie, Freundschaft sei Ihnen inzwischen wichtiger als eine Liebesbeziehung. Weil Sex mit zunehmendem Alter weniger wichtig wird? Sattmann: Na ja, Sex kann auch in einer Freundschaft vorkommen. Man kann doch mit einer Frau befreundet sein, getrennt wohnen, getrennte Kühlschränke und Fernseher haben, sich aber trotzdem immer mal wieder im Bett finden. Oder in der Küche. SPIEGEL: Sie halten sich für einen Eigenbrötler. Was macht Sie so inkompatibel mit anderen Menschen? Sattmann: Ich empfinde es zum Beispiel als eine Art Unfreiheit, wenn man sich verabreden muss: Dann stehen wir auf, dann fahren wir los, dann gehen wir ins Kino. Es gibt schon auch Situationen, wo ich es sehr bereue, alleine zu leben. Das ist das Schlimme daran, wenn man als Single lebt, dass man nichts teilen kann. Wie sagte Albert Schweitzer? Glück ist das Einzige, das sich verdoppelt, wenn man es teilt. SPIEGEL: Fühlen Sie sich einsam? Sattmann: Einsam wäre übertrieben, aber allein. Schreckliche Situationen oder die Unglücke kann ich gut mit mir selbst abhandeln. Aber die schönen Sachen? Da fehlt mir häufig meine Mutter, die ich dann immer angerufen habe. Ich habe dennoch viele Freunde und viel Besuch. Ich mag es aber, allein zu sein. Allerdings nicht ohne Computer. Ich werde verrückt, wenn das Internet nicht geht. SPIEGEL: Wie viel Zeit verbringen Sie am Computer? Sattmann: Gestern waren es zehn Stunden. Ich bin ein Spieler, spiele seit 15 Jahren World of Warcraft. Dafür gab es gerade eine Erweiterung, und so habe ich gestern zehn Stunden gespielt. SPIEGEL: Sind Sie süchtig? Sattmann: Klar, ein Spiel, das nicht süchtig macht, ist kein gutes Spiel. SPIEGEL: Haben Sie es unter Kontrolle? Sattmann: Nee, das will ich auch nicht. Ich liebe meine Süchte, auch Rauschgift. Die Sucht bereichert mein Leben. SPIEGEL: Welche Rauschmittel nehmen Sie? Sattmann: Marihuana. SPIEGEL: Heute Morgen auch? Sattmann: Nein, immer erst nach Feierabend. Sonst hätte ich nicht überlebt. Ich habe wirklich alles probiert, synthetische Drogen, Gewürzmischungen, sogar Heroin. Ich habe es überlebt, weil ich die Maxime hatte, für die Arbeit ist ein klarer Kopf die beste Droge. Die Drogen gehören zum Feierabend und zu den Festen. SPIEGEL: Haben Sie Ihr Buch abends mit Marihuana geschrieben oder tagsüber ohne? Sattmann: Nie bekifft! Wenn ich kreativ bin, dann bin ich exzessiv. Dann geht das einen Monat durch, fast ohne Schlafen, also 16 Stunden am Tag mit viel Kaffee und Wasser, wenig Essen und wenig Schlaf. Meine Werke sind fast immer Pressgeburten. SPIEGEL: Sie touren seit ein paar Jahren auch mit einer Art Kabarettprogramm durch Deutschland. Unterscheidet sich das Publikum in Ost und West? Sattmann: Das unterscheidet sich sehr. Wir spielen wahnsinnig gern im ehemaligen Osten, wirklich. Die Leute sind durch die Bank dankbarer. Die freuen sich mehr, dass man kommt. Wenn ich diesen sächsischen Dialekt höre, fühle ich mich immer sofort zu Hause. Ich durfte leider nur einmal eine Rolle auf Sächsisch spielen. Das war mit Thekla Carola Wied. SPIEGEL: Stehen Sie noch häufig vor der Kamera? Sattmann: Selten. Ich habe keine Lust mehr. Im Vergleich zu den Siebziger-, Achtzigerjahren ist das deutsche Fernsehen heute nur noch langweilig. 1974 hatten wir für meinen ersten 90-minütigen Fernsehfilm 36 Drehtage. Heute bekommt man maximal 20. Die Bücher sind nicht mehr so gut, und vor allen Dingen stört das ständige Reinreden der Fernsehredakteure. Sie sind so mächtig geworden. Früher gab es nur eine Autorität, das war der Regisseur. SPIEGEL: Sie spielen häufig mit in Filmen von Inga Lindström oder Utta Danella. Sind Sie mit den seichteren Stoffen zufrieden? Sattmann: Ich habe eigentlich nur damit angefangen, weil das für meine Mutter das Größte war. Sie sollte ihren Sohn einmal in einem solchen Film sehen können. Ich komme ja vom Theater, bin mit ein bisschen mehr Ansprüchen an diesen Beruf herangegangen und habe in den Siebzigern und Achtzigern auch ganz andere Sachen gedreht im Fernsehen. Aber wenn Sie einmal in der Herzkino-Schublade sind, dann kommen Sie da nicht mehr raus. SPIEGEL: Sind Sie neidisch auf Charakter-Schauspieler wie Ulrich Tukur, Armin Mueller-Stahl oder Mario Adorf, die im Feuilleton besprochen werden? Sattmann: Schon. Manchmal wäre ich gern an ihrer Stelle gewesen. Ich hätte gern gespielt, was ihnen angeboten wurde. Ich hätte auch gern 'Honig im Kopf' von Til Schweiger gemacht, wenn er angerufen hätte. Es frustriert mich aber nicht, dass es nicht passiert ist. Ich mag den Hallervorden trotzdem sehr. Ich schmeiße auch ins Herzkino meinen ganzen Fleiß, meine ganze Fantasie und bin am Drehort diszipliniert. Es ist nicht so, dass ich das lässig nebenbei mache, ich nehme das genauso ernst wie eine Charakterrolle. SPIEGEL: Warum ist Ihre Entwicklung anders verlaufen als die eines Reputationsschauspielers? Sattmann: Weil ich immer Geld brauchte und es mir nie leisten konnte, etwas abzusagen. Ich war gut im Geschäft, kann aber nicht sparen. Ich habe immer Gefallen am Geld, wenn ich es ausgeben kann. Ganz viele Menschen haben davon profitiert. Ich war großzügig bis zur Verschwendungssucht. Wenn ich Geld hatte, habe ich unentwegt Leute eingeladen. SPIEGEL: Nehmen Sie sich manchmal vor, Ihr Verhalten zu ändern? Sattmann: Das habe ich gemacht, indem ich zum Beispiel mein Luxushaus in Zehlendorf aufgegeben habe und jetzt in Stahnsdorf lebe. Vor zwei Jahren habe ich plötzlich gemerkt, dass es nicht mehr für die nächste Miete reicht. Mein Konto war schon 25.000 Euro überzogen. Ich habe viele Jahre Geld verdient, und plötzlich war es weg. Es kamen keine Angebote mehr, denn mit dem Herzkino ist es nun auch vorbei, weil ich ein Opa bin. SPIEGEL: Im wirklichen Leben sind Sie noch nicht Opa. Sattmann: Das bedaure ich wirklich. Ich wäre es gern. Aber wahrscheinlich muss ich meine Enkelkinder selber machen. 09.11.2019

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© Gräfe und Unzer/ Sebastien Manigaud

Sie ist eine der bekanntesten deutschen Schauspielerinnen. Jetzt hat Marie Bäumer ein Buch über Selbstfindung geschrieben. Im Interview spricht sie über ihre Ängste und was wir von Tieren lernen können. Ein Gespräch für Spiegel Online.

Marie Bäumer, Jahrgang 1969, ist Schauspielerin und Schauspiel-Lehrerin. Zuletzt war sie als Romy Schneider in "3 Tage in Quiberon" auf der Leinwand zu sehen. Bäumer wurde in Düsseldorf geboren, heute lebt sie in der Provence in Frankreich. Vor einigen Jahren erkundete die leidenschaftliche Reiterin den Wilden Westen der USA zu Pferd. Jetzt hat sie ein Buch mit dem Titel "Escapade" geschrieben. DER SPIEGEL: "Escapade" lautet der Titel Ihres Buches. Aus dem Französischen übersetzt heißt das so viel wie Seitensprung. Beim Dressurreiten bezeichnet man damit ein Ausweichen des Pferdes. Was bedeutet "Escapade" für Sie? Bäumer: Mit einem Augenzwinkern einen Aufbruch starten, spielerisch einen Sprung aus der gewohnten Fassung wagen. DER SPIEGEL: Den vertrauten Rahmen zu verlassen, macht vielen Menschen Angst. Ihnen nicht? Bäumer: Angst verhindert vieles. Wir Menschen sind immer wieder konfrontiert damit, Ängste und Schwellen zu überwinden. Das geht schon los als Kind, wenn man im Schwimmbad auf dem Sprungbrett steht. Aber die Belohnung ist das Glücksgefühl, wenn man es geschafft hat, ins Becken zu springen. DER SPIEGEL: Gibt es etwas, das Ihnen Angst macht? Bäumer: Ich habe seit jeher Angst vor Spinnen. Eine Freundin riet mir, sie anzufassen. Dadurch konnte ich die Angst teilweise überwinden. Außerdem habe ich ein Kind, das noch mehr Angst vor Spinnen hatte, und da musste ich natürlich behaupten, Spinnen seien überhaupt kein Problem für mich. Es ist auch zu absurd, auf dem Land zu leben und Angst vor Spinnen zu haben. DER SPIEGEL: Vor drei Jahren haben Sie das Atelier Escapade gegründet. Was machen Sie da? Bäumer: Aus meinen Erfahrungen als Schauspielerin und Schauspiellehrerin habe ich eine Methode entwickelt, die hilft, die Energie, die wir im Körper halten, freizulegen, mentale und körperliche Blockaden zu lösen, und somit auf unsere zentrale Kraft zuzugreifen. DER SPIEGEL: Dabei setzen Sie auch Pferde ein. Bäumer: Pferde legen emotional sehr viel frei bei uns. Im Atelier Escapade bewegen sich, innerhalb eines eingezäunten Bereiches, Menschen und Tiere frei, die Pferde sind ohne Halfter und Strick. Wenn jemand erlebt, dass er 500 Kilo nur durch seine Energie bewegen kann, dann ist er überwältigt. DER SPIEGEL: Was kosten Ihre Kurse denn - und wer bucht das? Bäumer: Die Preise variieren. Unter den Teilnehmern sind Ingenieure, Leute aus der Werbung, bis hin zur Lehrerin. Das Thema ist universell. DER SPIEGEL: Der Mensch sei die einzige Spezies, die in Körperausdruck und Sprache widersprüchlich sein kann, schreiben Sie in Ihrem Buch. Bei Tieren hingegen seien Körperhaltung und Stimme immer kongruent. Wer ist denn hier im Vorteil, Tier oder Mensch? Bäumer: Die Tiere machen es sich leichter. Deshalb gibt es deutlich weniger Missverständnisse bei ihnen. Der Mensch ist sehr komplex und vieldeutig. Das ist einerseits eine Qualität und andererseits eine Krux. Sowohl im Beruf, als auch in Beziehungen leiden Menschen darunter, dass körperliche Signale und Worte nicht übereinstimmen. Eine Mutter, die ihrem Kind sagt: "Ja, ich liebe dich", es aber gleichzeitig angestrengt von sich fernhält, weil sie telefonieren möchte, sorgt bereits für ein Missverständnis. Das Pferd führt uns unmittelbar zu Klarheit und innerem Gleichgewicht. DER SPIEGEL: Ihr Lieblingslehrer an Ihrer ersten Ausbildungsstätte, der Scuola Teatro Dimitri im Tessin, trieb Sie mit fast brutalen Methoden über Ihre Grenzen: Training bis zur Erschöpfung, Beschimpfungen, sogar Ohrfeigen. Wie konnte ausgerechnet er zu Ihrem Lieblingslehrer werden? Bäumer: Mir waren immer die strengsten Lehrer die liebsten, wenn ich gemerkt habe, dass es Hand und Fuß hatte, was sie vermittelten. Mir hat das Sicherheit gegeben, weil ich das Gefühl hatte, diese Leute nehmen wirklich ernst, was sie tun. Durch ihre Härte schimmerte immer auch eine tiefe Zärtlichkeit durch. Von Szilard, einem Ungarn, der von Kindesbeinen an als Akrobat beim Zirkus gearbeitet hatte, und bei Jutta Hoffmann vom Brecht-Theater, einer ebenfalls strengen Lehrerin, habe ich am meisten gelernt. DER SPIEGEL: Gehen Sie als Schauspiellehrerin und Mediatorin mit ähnlichen Methoden vor? Bäumer: Nein. Ich bemühe mich, stringent zu sein, aber ich bin nicht streng. Ich persönlich habe jedoch Strenge und Autorität nie mit etwas Negativem verbunden. Das wird in meiner Generation oft verwechselt, gerade in der Erziehung. DER SPIEGEL: Wie meinen Sie das? Bäumer: Ein klarer Rahmen gibt Kindern eine Orientierung. Wenn man ihnen alle Entscheidungen überlässt, führt das dazu, dass Kinder in ein Restaurant hineinrauschen und schreien: Ich will 'ne Cola! Das finde ich bedauerlich. Oder dass sie ständig Gespräche unterbrechen und nicht mehr die Hand geben. Kindern diese kleinen wertvollen Formen für Kontakte zwischen Menschen nahezubringen, ist anstrengend, aber lohnenswert, denn es ist der erste Schritt auf den Mitmenschen zu. DER SPIEGEL: Ist das in Frankreich, wo Sie leben, anders? Bäumer: Bei den Franzosen erlebe ich das anders. Sie sind früh mit den Kindern liebevoll didaktisch in der Erziehung, es ist selbstverständlich, eine gewisse Höflichkeit im Umgang zu lernen. In Deutschland erlebe ich beim Bäcker, wie kleine Kinder völlig überfordert sind von der riesigen Auswahl und Mütter, eine lange Warteschlange hinter sich, auf eine Entscheidung drängen. Es würde dem Kind und der Mutter helfen, dass sie eine Entscheidung fällt. DER SPIEGEL: Würden Sie sagen, dass man mit harten Methoden das Beste aus einem Menschen herausholen kann? Bäumer: Der Mensch lernt am Widerstand. Die Überwindung des Widerstands ist ein wichtiger Motor. Deshalb sollte man Kindern bei Entscheidungen helfen, aber ihnen nicht alles abnehmen. Heute werden sie oft von Erwachsenen hochgeschoben auf die Rutsche, hochgehoben auf den Baum und irgendwann sitzen sie nur noch passiv auf den Schultern ihrer Eltern und weinen, wenn sie alleine laufen sollen. Man nimmt ihnen die Freude, ihre eigenen Kräfte zu erkennen und zu messen. DER SPIEGEL: Als Mediatorin helfen Sie Menschen, den richtigen Weg zu finden. Wie weiß ich denn, dass ich auf dem richtigen Weg bin? Bäumer: Wenn es leicht ist. Deutschland macht es sich grundsätzlich gern schwer. Das ist natürlich auch eine Qualität, wir sind sehr arbeitsam und einsatzfähig. Wir sagen, solange etwas nicht anstrengend ist, war es nicht gut. Aber meiner Meinung nach ist es anders: Wenn uns etwas leichtfällt, können wir es gut, denn es entspricht unserem Wesen. DER SPIEGEL: Sie wollen Menschen dabei unterstützen, ihre Träume zu verwirklichen. Viele Menschen kennen ihre Wünsche, aber Sie zitieren ein italienisches Sprichwort: Zwischen dem Sagen und dem Tun liegt das Meer. Was hindert Menschen daran, ihre Träume in die Realität umzusetzen? Bäumer: Es gibt viele Einflüsse: die Stimmen aus der Familie, aus der Gesellschaft, die inneren Stimmen. Ab und zu muss man seine alten Glaubenssätze aussortieren wie alte Kleider. Das meine ich mit dem Sprung aus der gewohnten Fassung. Reisen und Ausflüge sind hilfreich, weil sie einen anderen Blick auf das eigene Leben schaffen. Ich habe zum Beispiel die deutsche Sprache in Frankreich richtig lieben gelernt, obwohl ich auch die französische liebe. Diese Vokale, die Kraft, die Poesie, die Tiefe! DER SPIEGEL: Welche Träume verfolgen Sie persönlich? Bäumer: Ich möchte einmal mit Pferden um den Erdball reiten. Außerdem habe ich die Vision, am Atlantik eine riesige Skulptur zu gestalten, einen Wal mit einem Elefanten, die letzten Dinosaurier unter uns, der eine vom Land, der andere aus dem Meer. Ein Elefant hat ungefähr das Gewicht der Zunge eines Blauwals. Das ist ein Bild, welches aus einem Traum, den ich in La Rochelle hatte, entstand. Ich hoffe, dass mich irgendwann jemand dabei unterstützt ihn umzusetzen. 05.10.2019

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© Sammy Hart

Schauspieler Ulrich Noethen: "Das Potenzial zur Gewalt ist in jedem von uns vorhanden"

Ulrich Noethen spricht über seine Pflichten, Erinnerungen an seinen Vater und schmerzliche Filmszenen in der "Deutschstunde". Und er verrät, ob er sich heute noch ein Bild des Antisemiten Emil Nolde aufhängen würde. Ein Gespräch für Spiegel Online.

Der Schauspieler Ulrich Noethen, Jahrgang 1959, ist aktuell in der Neuverfilmung des Romans "Deutschstunde" von Siegfried Lenz zu sehen. In München geboren, wuchs er als jüngstes von fünf Kindern einer Pfarrfamilie auf. Er hat eine 25-jährige Tochter aus erster Ehe sowie eine 6-jährige Tochter mit seiner Lebensgefährtin, der Schriftstellerin Alina Bronsky. Bronsky brachte darüber hinaus drei Kinder, die heute zwischen 14 und 20 Jahre alt sind, mit in die Beziehung. SPIEGEL: Herr Noethen, Sie spielen in "Deutschstunde" einen Dorfpolizisten zur Zeit des Nationalsozialismus, der sich durch nichts von seiner Pflichterfüllung abbringen lässt. Er liefert sogar seinen desertierten Sohn an die Nazis aus. Haben die Nazis den Begriff der Pflicht für immer diskreditiert? Noethen: Das sehe ich nicht so. Pflicht ist erst einmal nur ein Gefäß. Und es kommt auf den Inhalt an. Ich finde es heutzutage besonders wichtig, Verantwortung zu übernehmen. Viele Menschen - und ich schließe mich da nicht aus - legen sich nur ungern fest. Vorgaben und Regeln lösen sich auf. Hauptsache wir haben Spaß. Verpflichtungen, die man sich selbst oder anderen gegenüber eingeht, sind deshalb notwendig. SPIEGEL: Ist Ihr eigener Alltag sehr von Pflichten bestimmt? Noethen: Kommt darauf an, was Sie unter Pflicht verstehen. Wenn es um die Familie geht, gibt es Verabredungen, die meinen Alltag bestimmen. Pflicht hat ja diese negative Konnotation von Zwang. Wenn es mir aber gelingt, die Notwendigkeit und die Sinnhaftigkeit einer Pflicht zu erkennen, dann kann ich auch Freude daran haben. SPIEGEL: Ihnen würde also etwas einfallen, wenn Sie - wie Siggi im Film - die Aufgabe bekämen, einen Aufsatz zum Thema "Die Freuden der Pflicht" zu verfassen? Noethen: 'Freuden der Pflicht' ist bei Lenz natürlich ein Sarkasmus. Dem Dorfpolizisten Jens Ole Jepsen wird man nicht unterstellen können, dass er bei seiner Pflichterfüllung wahnsinnig viel Spaß gehabt hat. SPIEGEL: Welche Rolle spielt Pflichtbewusstsein bei der Erziehung Ihrer Kinder? Noethen: Ich habe Verantwortung für die Kinder - und die Kinder sollen auch irgendwann Verantwortung übernehmen. Das will ich ihnen beibringen. Wenn ihnen beispielsweise die Küche zur Verfügung gestellt wird, damit sie ein neues Kuchenrezept ausprobieren können, dann erwächst daraus die Verpflichtung, die Küche am Ende wieder in ihren Ursprungszustand zurückzuversetzen. 'Bitte hinterlassen Sie diesen Ort so, wie Sie ihn selbst vorzufinden wünschen!' Das gilt auch im globalen Maßstab. Solche Sachen versuche ich, den Kindern beizubringen. SPIEGEL: Klappt das? Noethen: Mehr oder weniger, wir sind eine ganz normale Familie. SPIEGEL: Was hat Ihre Filmfigur Ole Jepsen dazu gebracht, in seinem Pflichtbewusstsein so starr, geradezu brutal zu sein? Noethen: Ich weiß es nicht. Weil ihm niemand den Mut zum Nachdenken beigebracht hat? Weil Pflicht für ihn nicht in Frage gestellt werden darf? Weil er ein Angstbeißer ist, der sich bedroht fühlt? SPIEGEL: Als Jens Ole Jepsen verprügeln Sie Ihren zehnjährigen Sohn Siggi ausgiebig mit einem durch die Luft zischenden Rohrstock. Das Gefühl von Demütigung und Schmerz geht unter die Haut. Was empfanden Sie, als Sie die Szene spielten? Noethen: Das entfaltet seine psychologische Wucht bei mir erst hinterher. Zunächst mache ich es für mich zu einem technischen Vorgang: Ich frage mich, wie ich die Vorgabe des Drehbuchs so umzusetzen kann, dass keiner der Beteiligten zu Schaden kommt. So eine Szene wird ja mehrmals aus unterschiedlichen Blickwinkeln aufgenommen, in vielen Einstellungen ist das Kind gar nicht physisch anwesend, sondern ein Dummy, ein Lederkissen wird geschlagen. Erst im Schnitt ergibt sich das ganze Bild. Das sind Drehtage, an denen man sich später beglückwünscht, dass es eine klare Trennung gibt zwischen dem gespielten und dem eigenen Ich. Aber das Potenzial zur Gewalt ist in jedem von uns vorhanden. SPIEGEL: Ihr Gegenspieler, der Maler Max Ludwig Nansen, ist dem Expressionisten Emil Nolde nachempfunden. Ausgerechnet jetzt, im Erscheinungsjahr des Films, wird intensiv darüber diskutiert, dass Nolde nicht nur ein von den Nazis unterdrückter Maler war, sondern gleichzeitig Antisemit und Hitler-Verehrer. Spielte das während der Dreharbeiten eine Rolle? Noethen: Wir haben darüber gesprochen, aber wir wollten die starke Parabel in Lenz' Roman nicht durch einen Kommentar zu der Debatte um Nolde überdecken lassen. Schon Siegfried Lenz wollte nicht Emil Nolde beschreiben, er wusste auch nicht so viel über ihn, wie wir es heute tun. In der Rezeption hinterher wollte man dann allerdings Nolde in seiner Romanfigur erkennen. Die Figur des Malers im Film unterscheidet sich obendrein von der Romanfigur, sie ist weniger glänzend. SPIEGEL: Wenn Sie ein Gemälde von Nolde besitzen würden... Noethen: ... würde ich es Zuhause aufhängen. Mich beeindrucken viele dieser Bilder in ihrer Farbigkeit, in ihrer Plastizität, in ihrer Kraft. Wobei für mich viele Fragen dazu kommen: War es richtig, den Nolde im Kanzleramt abzuhängen? Ist ein Kunstwerk kein Kunstwerk mehr, weil es ein Nazi gemalt hat? Und warum genau ist es dann weniger wert, in des Wortes doppelter Bedeutung? Wir hatten Pressetag in München. Da steht vor dem "Bayerischen Hof" ein inoffizielles Michael-Jackson-Denkmal, wo Fans Devotionalien ablegen. Ist seine Musik nach den Missbrauchsvorwürfen wertlos? SPIEGEL: Haben Sie eine Antwort darauf? Noethen: Ja. Nolde hat tolle Bilder gemalt. Und er hat sich als ein mieser Nazi entpuppt. Ich kann es aushalten, mit Widersprüchen zu leben. SPIEGEL: Sie verkörpern häufig Figuren aus der Zeit des Nationalsozialismus... Noethen: Das mag öfter vorgekommen sein, aber viele Figuren, die ich gespielt habe, haben damit überhaupt nichts zu tun. Eine Zeit lang hat man mich fast ausschließlich mit Kinderfilmen in Verbindung gebracht. SPIEGEL: Man kennt Sie unter anderem als Professor Sauerbruch aus der Fernsehserie "Charité", als Kriegsheimkehrer, als Anne Franks Vater oder Heinrich Himmler. Ihr Vater, geboren 1920, war Wehrmachtsoffizier und wurde später Pfarrer. Verarbeiten Sie in diesen Rollen auch Ihre Familiengeschichte? Noethen: Der Vater meines Vaters war Kirchenrat in der lutherischen St. Lukas-Kirche in München. Die Gestapo hat seine Gottesdienste überwacht. Mein Vater war in der Jugendgruppe der Gemeinde. Nach der Gleichschaltung fand er sich in der Hitlerjugend wieder. Dann Reichsarbeitsdienst und Wehrmacht, später Gefangenschaft. Nach dem Krieg hat er Theologie studiert. Diese Widersprüche, in denen mein Vater stand, zwischen christlicher Botschaft und Nationalsozialismus, zwischen Bergpredigt und Vernichtungskrieg, beschäftigen mich noch immer. Ich würde nicht sagen, dass ich durch diese Rollen meine Familiengeschichte aufarbeite, aber sie helfen mir, meinen Vater und seine Generation besser zu verstehen. Und es ist von Vorteil, jemanden zu haben, mit dem man darüber sprechen kann. Spiegel Online 03.10.2019

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© Conny Trumann

Sebastian Bezzel und Johanna Christine Gehlen sind seit zehn Jahren verheiratet. Im Interview sprechen sie über den Provinzpolizisten Franz Eberhofer, barocke Traditionen und das Elterndasein als Schauspieler. Ein Gespräch für Spiegel Online.

Sebastian Bezzel und Johanna Christine Gehlen sind seit zehn Jahren verheiratet und leben mit ihrem achtjährigen Sohn und ihrer sechsjährigen Tochter in Hamburg. Der gebürtige Bayer Bezzel war bis 2016 gemeinsam mit Eva Mattes als "Tatort"-Kommissar vom Bodensee zu sehen. Er spielt in der Kinokomödie "Leberkäsjunkie" zum sechsten Mal den bayerischen Provinzpolizisten Franz Eberhofer. Gehlen wurde in Hamburg geboren und wirkte in vielen Fernsehproduktionen mit, zuletzt in "Papa hat keinen Plan". Sie steht häufig auf der Bühne des Hamburger St. Pauli-Theaters.SPIEGEL ONLINE: Wann gibt es bei Ihnen zuhause Leberkäs? Sebastian Bezzel: Der Leberkäs an sich spielt in meinem Leben keine große Rolle. Nachdem ich zwei Wochen durch bayerische Kinos getourt bin und überall Leberkäs bekommen habe, habe ich ihn etwas über. SPIEGEL ONLINE: Klingt, als habe Sie die Kinotour ziemlich geschafft. Bezzel: Diese laute Art, sich selbst zu feiern, so euphorisch, herzlich, manchmal auch krachledernd, das gibt es so im Norden nicht. Einige Zuschauer verkleiden sich sogar manchmal als Eberhofer, sie können die Filmdialoge auswendig und finden alles toll, auch weil es einfach bayerisch ist. Dabei habe ich manchmal das Gefühl, dass der eine oder andere bayerische Zuschauer die Eberhofer-Filme vielleicht falsch versteht. Sie kommen in Tracht und die Blasmusik spielt, aber sowohl Blasmusik als auch Trachten kommen in den Filmen kaum vor und ich spiele einen Misanthropen, der darauf sowieso keinen Bock hat. Jedenfalls finde ich es jetzt herrlich wieder bei meiner Familie im Norden zu sein. SPIEGEL ONLINE: Sprechen Ihre Kinder Bayerisch? Johanna Christine Gehlen: Leider kaum, aber sie lieben Leberkäs-Semmel. Sie freuen sich sehr, wenn sie in Garmisch-Partenkirchen, wo die Großeltern, also Sebastians Eltern, leben, zum Metzger gehen dürfen. Unsere Tochter trägt auch sehr gern Dirndl, allerdings nicht in Hamburg, nur in Bayern. SPIEGEL ONLINE: Was ist für Kinder in Bayern anders als in Norddeutschland? Bezzel: Ich denke nicht, dass die Unterschiede regional bedingt sind, aber es macht einen großen Unterschied, ob Kinder in der Stadt oder auf dem Land aufwachsen. Noch wichtiger ist meiner Meinung nach das soziale Milieu: In einem Viertel wie Hamburg-Ottensen leben Kinder ähnlich wie in München-Schwabing. Und die Kinder in Mümmelmannsberg in Hamburg haben die gleichen Probleme wie die Kinder in München-Hasenbergl. SPIEGEL ONLINE: Also bemerken Sie keine regionalen Unterschiede? Bezzel: Abgesehen davon, dass in Bayern alles etwas barocker ist, fällt mir die starke Leistungsorientierung dort auf. Man betreibt zum Beispiel keinen Sport, man spielt kein Theater, einfach nur, weil es Spaß macht - sondern es geht sehr oft darum, Leistung zu zeigen. SPIEGEL ONLINE: Erklärt sich dadurch, dass bayerische Schulen bei Ländervergleichen oft besonders gut abschneiden? Bezzel: Das kommt vielleicht auch daher, dass wir in Bayern eine Regierung haben, die ewig lange beharrlich ihren Kurs verfolgen konnte. Ich bin kein Anhänger der CSU, ganz im Gegenteil, aber in anderen Ländern gab es öfter einen politischen Wechsel und weniger Konstanz im Bildungsbereich. SPIEGEL ONLINE: In Bayern hängen Kruzifixe in Klassenräumen und Behörden. Spüren Sie als Familie den größeren Einfluss der Religion? Bezzel: In Garmisch-Patenkirchen, wo ich geboren bin, sind fast alle Kinder getauft. Wir stoßen dort ab und zu auf Besorgnis und Erstaunen, weil unsere Kinder nicht getauft sind. In Hamburg ist das gar kein Thema. Gehlen: Ich bin weder evangelisch noch katholisch getauft. Für Sebastians Familie war das nie ein Problem. Sebastian kommt allerdings auch nicht aus einer traditionell einheimischen Familie. Bezzel: Meine Eltern sind aus beruflichen Gründen in den Sechzigern von München nach Garmisch gezogen und eher großstädtisch geprägt. Sie sind beide Akademiker, das war damals auf dem Land eher ungewöhnlich. SPIEGEL ONLINE: Was schätzen Sie an Ihrer alten Heimat? Bezzel: Interessant finde ich den Spagat zwischen Laptop und Lederhose, den hat man in Bayern gut hinbekommen, und das ist nicht zuletzt Franz Josef Strauß zu verdanken. Er hat es geschafft aus dem Agrarland einen High-Tech-Staat zu machen, in dem die Menschen aber weiterhin ihre Traditionen leben. Ich könnte bei Siemens in der Chefetage hocken und dort jeden Tag in Tracht herumlaufen, mit kurzen Lederhosen und nackten Waden - keiner würde etwas sagen. Das ist für mich Bayern: Highend-Technologien kombiniert mit uralten Traditionen. Gehlen: Wir haben einmal eine Einladung zu einem Empfang der Bayerischen Staatsregierung bekommen und der Dresscode lautete: Smoking, Uniform oder Tracht. SPIEGEL ONLINE: Gehören zu den gelebten Traditionen nicht auch überlebte Rollenbilder? Gehlen: Da hat sich viel verändert, denn viele Familien brauchen heute ein zweites Gehalt. Frauen sollen auch immer gerne dann arbeiten, wenn das Geld gebraucht wird. SPIEGEL ONLINE: Aber die Kita-Quoten sind in Bayern trotzdem deutlich niedriger. Wie erklären Sie sich das? Gehlen: Ich kann nur über die Verhältnisse hier in Hamburg reden. Und ich finde die Kita-Politik dieser Stadt ist arbeitnehmer-, familien- und frauenfreundlich. SPIEGEL ONLINE: Provinzpolizist Franz Eberhofer tut sich etwas schwer mit seiner Vaterrolle. Bezzel: Ich finde, der Franz macht das nicht schlecht. Er erzieht das Kind so, wie er auch erzogen worden ist. Den Besuch in einem riesigen Spielzeugladen findet er zum Beispiel grauenvoll. Er ist eben der Meinung, dass es für den Kleinen Tausend mal besser ist, mit einer Brezel in der Hand die Hühner zu füttern, als mit Plastik zu spielen. SPIEGEL ONLINE: Aber an seiner Verlässlichkeit könnte er doch ein wenig arbeiten. Ist Sebastian Bezzel als Papa zuverlässiger als Franz Eberhofer? Gehlen: Sebastian ist ein toller Vater. Ich verbringe zwar mehr Zeit mit den Kindern, weil ich oft in Hamburg am St. Pauli-Theater arbeite und Sebastian häufiger auf Drehreise ist. Aber wenn er hier ist, ist er voll dabei. SPIEGEL ONLINE: Mussten Sie beruflich zurückstecken, um für die Kinder da zu sein? Gehlen: Naja also, wenn sich mir eine Filmfigur wie der Eberhofer bieten würde, dann würden wir das schon bewerkstelligen, auch wenn es fürchterlich anstrengend wäre. Vielleicht hätte mich das aber auch als Mama etwas unglücklich gemacht in den letzten Jahren. Bei Vätern ist das etwas anders, oder? Bezzel: Manchmal sitze ich im Zug und bin froh, dass ich mich auf meine Rolle konzentrieren kann. Und dann hocke ich irgendwo alleine in einem Hotelzimmer und denke: Was mache ich hier eigentlich? Am Telefon höre ich zuhause lautes Lachen, während sie Pfannkuchen backen. Da kann man auch in ein Einsamkeitsloch fallen. Gehlen: Und ich wünsche mir hin und wieder ein ruhiges Hotelzimmer in einer anderen Stadt, um zum Beispiel ungestört Texte lernen zu können. Das ist normal. Insgesamt hat sich bisher alles gut gefügt. SPIEGEL ONLINE: Wer kauft denn die Schuhe für die Kinder und kennt ihre Stundenpläne? Bezzel: Das machen wir zusammen. Gehlen: Also, um ehrlich zu sein, für den Überbau bin ich zuständig. Ich denke an alles und plane Arztbesuche, Kindergeburtstage, Geschenke, Einladungen. Das Ausführen der Aufgaben teilen wir uns - wenn Sebastian nicht unterwegs ist. Spiegel Online 31.08.2019

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Martina Gedeck spricht über Lebenslieben und Trennungen, über Kontrollverlust und ihr Zusammenspiel mit Ulrich Tukur. Zum ersten Mal bestätigt sie ihre Ehe mit dem Regisseur Markus Imboden. Ein Gespräch für Spiegel Online.

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Schauspielerin Martina Gedeck, bekannt u.a. aus "Das Leben der anderen" und "Die Wand", ist ab 8. August 2019 in deutschen Kinos zu sehen. In der Scheidungskomödie "Und wer nimmt den Hund?" steht sie als Doris nach 26 Jahren, zwei Kindern und einem Hund vor den Trümmern ihrer Ehe, denn ihr Mann Georg, gespielt von Ulrich Tukur, beginnt eine Affäre mit einer Doktorandin. Martina Gedeck war lange mit dem Schauspieler Ulrich Wildgruber liiert, bis der sich 1999 das Leben nahm. Mit Angaben aus ihrem Privatleben ist sie äußerst zurückhaltend, sie verrät nicht einmal ihr Geburtsdatum. SPIEGEL ONLINE: Frau Gedeck, haben Sie einen Hund? Gedeck: Nein, aber ich mag Hunde. In "Die Wand" war ein Jagdhund über zwei Jahre mein Spielpartner. Meine Großmutter hatte einen Hund, der mich in meine Selbstständigkeit begleitete. Mit ihm durfte ich allein durch Wälder und Wiesen streifen. Der Hund lief frei herum, aber er hat auf mich aufgepasst. Das war ein Gefühl von Sicherheit und gleichzeitig von Freiheit. SPIEGEL ONLINE: Der Filmtitel lautet "Und wer nimmt den Hund?" - trifft das den Kern der Handlung? Gedeck: Ja, genau. Der Titel stellt die Grundfrage einer Trennung, und diese lautet: Wie soll man etwas teilen, das nicht zu trennen ist? Man kann den Hund nicht zweiteilen. Der Hund verkörpert ein Problem, das nicht zu lösen ist. SPIEGEL ONLINE: Der Hund steht also symbolisch auch für Kinder - und wofür noch? Gedeck: Für die Liebe an sich, die man auch nicht trennen kann, dieses Band zwischen zwei Menschen. Eine Beziehung ist wie ein starkes Gewebe aus einem Faden, der hin- und hergeht, das kann man nicht einfach durchtrennen. Es bleibt als Lebensgewebe bestehen und begleitet einen weiter. Man kann - wenn wir beim Beispiel des Films bleiben - 26 Jahre Ehe nicht abschütteln oder ausradieren. Diese Ehejahre sind in einem drin, die haben das eigene Leben geprägt. Man kann sich von einer Person lösen und ein neues Leben anfangen ohne diese Person. Aber selbst dann bleibt der frühere Partner immer noch präsent in meinen Gedanken. SPIEGEL ONLINE: Haben Sie persönlich ähnliche Erfahrungen gemacht? Gedeck: Nein, ich habe das nicht erlebt; ich war nie ein halbes Leben verheiratet. SPIEGEL ONLINE: War es daher schwierig für Sie, sich in eine Figur wie Doris hineinzuversetzen? Gedeck: Als Schauspielerin versetze ich mich fast immer in Situationen hinein, die ich nicht kenne. Aber ich
kenne die Gefühle: Wut, Ohnmacht, Schwäche, Verzweiflung, Trotz oder Rache. SPIEGEL ONLINE: Wie machen Sie sich mit der Problematik vertraut? Lesen Sie oder sprechen Sie mit Leuten, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben? Gedeck: Ich stelle mir das vor. Mein Ausgangsmaterial sind der Text und die jeweiligen Spielsituationen. Ich fange lange vor dem Dreh an, mich damit zu beschäftigen, und schaue mir jede Szene an. Ich habe mir in diesem Fall zum Beispiel überlegt, dass Doris noch eine gewisse Kindlichkeit und etwas Unbefangenes in sich trägt. Sie versucht recht schnell, in ihrer Ohnmacht während der Trennungsphase ihre Würde wiederzubekommen und schafft sich dafür neue Felder. Sie lässt sich auf einen anderen Mann ein, sie denkt über Kunstprojekte nach. Das zeugt von einer Grundlebensfreude, die auch durch den Betrug ihres Mannes nicht kaputtgegangen ist. SPIEGEL ONLINE: Und irgendwann zündet sie aus Wut ein Auto an. Können Sie sich vorstellen, aus Verzweiflung oder Wut so zu reagieren? Gedeck: Eigentlich nicht, aber Doris kann es sich auch nicht vorstellen - und macht es trotzdem. Ich kann allerdings durchaus nachvollziehen, dass die Wellen über einem zusammenschlagen und dass man sich abreagieren möchte. Das sind die Dinge, die man nicht in der Hand hat. Man verliert die Kontrolle. Die Kontrolle zu verlieren, das kann ich mir tatsächlich vorstellen. SPIEGEL ONLINE: Wenn eine Ehe in die Brüche geht, ist es selten so, dass eine Seite völlig im Recht ist. Wie haben Sie in diesem Fall Ihre Position gefunden? Gedeck: Als Schauspielerin muss ich meine Figur und das, was ich zu spielen habe, verteidigen und rechtfertigen. Nur dann kann ich das glaubhaft und überzeugend rüberbringen. Als ich den fertigen Film zum ersten Mal gesehen habe, habe ich gedacht: Immer wenn er was sagt, hat er recht. Und immer wenn sie etwas sagt, hat sie auch recht. Das kann nur glücken, wenn beide Schauspieler ihren eigenen Raum bewahren beim Spielen. SPIEGEL ONLINE: Was bedeutet das in diesem Zusammenspiel mit Ulrich Tukur, der im Film den untreuen Ehemann Georg spielt? Gedeck: Wir schauen uns gegenseitig nicht zu sehr in die Karten, verständigen uns nicht über unser Spiel. Ich sehe, wie er sich präsentiert, wie er spricht oder mich anschaut, wenn er die Szene spielt. Das ist sein Angebot oder umgekehrt meins. Das macht es echt. Das klappt nicht bei jedem, aber wenn es funktioniert, ist das etwas sehr Besonderes und Schönes. Mit Ulrich Tukur kann man das gut machen. SPIEGEL ONLINE: Glauben Sie persönlich an die eine große Liebe zu einem Menschen? Gedeck: Wenn Sie jetzt nach der partnerschaftlichen Liebe fragen, so kann es in einem ganzen langen Leben
auch zwei, drei große Lieben geben. SPIEGEL ONLINE: So haben Sie das auch erlebt? Gedeck: So habe ich das erlebt. Zum Glück. SPIEGEL ONLINE: Sie haben einmal gesagt, dass Sie zu Ihrem verstorbenen Lebensgefährten Ulrich Wildgruber eine sehr symbiotische Beziehung hatten - und dass Sie jetzt das Gefühl haben, mit Ihrem Partner, dem Regisseur Markus Imboden, in einer "erwachsenen Liebe" zu leben. Die Liebe kann sich also in ganz verschiedenen Formen ausdrücken? Gedeck: Wir wachsen, verändern uns im Laufe der Jahre, haben einen anderen Erfahrungshorizont, andere Bedürfnisse. Junge Menschen haben andere Stärken als ältere, entsprechend kann sich eine Liebe entwickeln. Und es hängt immer auch vom Gegenüber ab. Welche Eigenschaften oder Interessen werden durch den Partner belebt und welche treten eher in den Hintergrund? SPIEGEL ONLINE: Die Idealvorstellung ist immer noch, mit einem Partner beziehungsweise einer Partnerin zusammenzuleben oder verheiratet zu sein, "bis dass der Tod euch scheidet". Sie sind nicht verheiratet, oder? Gedeck: Doch. SPIEGEL ONLINE: Seit wann? Gedeck: Schon ein Weilchen. SPIEGEL ONLINE: Warum wollen Sie das nicht verraten? Gedeck: Was wollten Sie ursprünglich wissen? SPIEGEL ONLINE: Müssen wir uns vom Traum einer lebenslangen Partnerschaft endgültig verabschieden?
Gedeck: Es wird vielleicht irgendwann der Punkt kommen, wo dieser Halbsatz selbst aus dem kirchlichen Eheversprechen gestrichen wird. Aber als Ausgangspunkt finde ich das erst mal gut. Wir sollten immer 150 Prozent anstreben, dann schaffen wir vielleicht 80 Prozent.

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Margarita Broich kennen viele Zuschauer als "Tatort"-Kommissarin Anna Janneke. Dabei hat sie Fotografie gelernt. Erst beim Blick durch den Sucher verliebte sie sich in die Schauspielerei. Ein Gespräch für Spiegel Online.

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Margarita Broich (Jahrgang 1960) ermittelt seit 2015 als Frankfurter "Tatort"-Kommissarin Anna Janneke. Broich hat ursprünglich Fotodesign studiert und wechselte nach einer Zeit als Theaterfotografin in Bochum auf die Bühne. Sie hatte Engagements unter anderem am Frankfurter Schauspielhaus, am Deutschen Theater Berlin und bei den Salzburger Festspielen. Mit dem Schauspieler Martin Wuttke hat sie zwei erwachsene Söhne. Im vergangenen Sommer gab das Paar seine Trennung bekannt. Ab 4. April wird Margarita Broich in dem Kinderfilm "Unheimlich perfekte Freunde" auf der Leinwand zu sehen sein, am 19. April in der ARD-Komödie "Meine Mutter spielt verrückt" und am 12. Mai wieder als "Tatort"-Kommissarin in "Das Monster von Kassel". SPIEGEL ONLINE: Frau Broich, vor der Schauspielkarriere waren Sie professionelle Fotografin. "Tatort"-Kommissarin Anna Janneke, die Sie seit 2015 spielen, hat immer eine Kamera dabei. War das Ihre Idee? Broich: Ja. Ich dachte: Waffen sind nicht so mein Ding, dann lieber Fotos schießen. SPIEGEL ONLINE: Haben Sie als Schauspielerin Einfluss auf die Entwicklung der Figur? Broich: Vor unserem ersten "Tatort" wurden die Figuren gemeinsam mit der Redaktion entwickelt. Anna Janneke sollte ein bisschen kauzig und fahrig sein. Oft sind TV-Kommissare ja nicht so gut gelaunt, manchmal eher muffig. Da wollte ich etwas anderes probieren. Gute Laune als Ermittlungstaktik sozusagen. Aber jedes neue Drehbuch muss vielen Anforderungen genügen, da bleiben natürlich einige Ideen auf der Strecke. SPIEGEL ONLINE: Zum Beispiel? Broich: Meine Frau Janneke hatte in der ersten Folge einen Sohn. Der war mit Rucksack, Freundin und Baby - Oma ist Janneke also auch! - in Australien unterwegs, und wir haben miteinander geskypt. Er tauchte danach nie wieder auf. Vor Kurzem habe ich den jungen Kollegen zufällig in Berlin getroffen und ihn gefragt, wo er eigentlich abgeblieben sei. "Ich bin wohl im Drehbuch verschwunden", war seine Antwort. SPIEGEL ONLINE: Sie haben als Theaterfotografin gearbeitet, bevor Sie Schauspielerin wurden. Wie kam es zu dem Wechsel? Broich: Ich war vom Geschehen auf der Bühne manchmal so verzaubert, dass ich vergessen habe, auf den Auslöser zu drücken. Theaterarbeit ist ein Mannschaftssport. Fotografen arbeiten allein. Das war sicher ein Grund, die Seiten zu wechseln. SPIEGEL ONLINE: Aber das war nicht der einzige Grund, oder? Broich: Nein. Vor allem war es Liebe. Viele Jahre später hatte ich eine Fotoausstellung mit großformatigen Abzügen von Otto Sander, Martin Wuttke, Sophie Rois und anderen Kollegen. Ich betrachtete meine Fotos mit etwas Abstand und verliebte mich förmlich ein zweites Mal in die Schauspielerei. SPIEGEL ONLINE: Was begeisterte Sie? Broich: Die Porträtierten waren von einer Zartheit und Verletzlichkeit, die mir vorher nicht aufgefallen war. Alle Aufnahmen sind nur Minuten nach Vorstellungsende entstanden. Die Schminke war verrutscht, die Ohren rot, der Blick müde und doch voller Adrenalin, kein Darstellungstrieb. Also kein Glamour - aber was für ein toller Beruf, was für wunderbare Menschen. In den Minuten nach der Vorstellung sind Schauspieler in einem seltsamen Schwebezustand, zwischen der Rolle und sich selbst. Ein eher einsamer Moment. Meine Bilder sind aus dem Inneren des Theaters gemacht. Da haben sich meine beiden Berufe, die Schauspielerei und die Fotografie, die Hand gegeben. SPIEGEL ONLINE: Inzwischen stehen Sie häufiger vor der Filmkamera als hinter dem Fotoapparat oder auf der Bühne. Verzaubert ein Dreh ähnlich wie ein Bühnenauftritt? Broich: Theaterschauspielerin oder Filmschauspielerin, das kommt mir vor wie zwei verschiedene Berufe. Theater ist viel körperlicher. Das ist Berserkerarbeit, anstrengend, martialisch. Da war ich hin und wieder verzweifelt. SPIEGEL ONLINE: Warum? Broich: Das Spielen hat mir immer sehr großen Spaß gemacht, aber die Proben waren oft dornig. Wenn man ein Foto macht und es wird kritisiert, dann redet man über eine Sache. Auf der Bühne bin ich selbst das Objekt, an dem herumgefeilt wird. Ich fühlte mich manchmal persönlich angegriffen und habe dann grundsätzlich gezweifelt. Das hat das Arbeiten für den Regisseur und auch für mich nicht einfacher gemacht. Der Ton im Theater ist oft sehr rau. Man muss funktionieren und zwar immer, auch mit Fieber, an Weihnachten, Ostern, Neujahr. Die großen Theaterregisseure der Achtziger- und Neunzigerjahre waren Götter, da wurde gerne mal gebrüllt. SPIEGEL ONLINE: Und beim Drehen passiert das nicht? Broich: Da habe ich das nie erlebt. Beim Drehen wird mehr für die Schauspieler gesorgt. Außerdem war ich Mitte 40 und sehr erfahren, als ich regelmäßig zu drehen begann. SPIEGEL ONLINE: Warum läuft es beim Film so anders als auf der Bühne? Broich: Die wochenlange Probenarbeit am Theater ist eher suchend, schon deshalb wird es manchmal chaotisch. Beim Filmen gibt es einen strengen Drehplan, da muss ich für Minuten, manchmal nur Sekunden ganz auf dem Punkt sein. Laute Auseinandersetzungen sind da kontraproduktiv. SPIEGEL ONLINE: In der Komödie "Meine Mutter spielt verrückt", die am Karfreitag ausgestrahlt wird, erleben Sie eine späte Liebe. Das passt zu Ihrem wirklichen Leben. Seit fast zwei Jahren haben Sie einen neuen Mann an Ihrer Seite, einen Wirtschaftsanwalt. Broich: Wir haben uns im Flugzeug kennengelernt. Wir wurden beide gebeten, andere Plätze einzunehmen, und saßen schließlich nebeneinander. Als ich über die verhedderten Gurte lachen musste, habe ich ihn gefragt, ob er den Sketch von Loriot im Flugzeug kennt. Daraufhin antwortete er: "Oh ja, die Duineser Elegien von Rilke." Die kommen tatsächlich in dem Sketch vor. Das war der Startschuss für ein lustiges eineinhalbstündiges Gespräch - und für mehr. SPIEGEL ONLINE: Was bedeutet eine solche Begegnung in diesem Abschnitt Ihres Lebens? Broich: Es ist eine wunderbare Erfahrung, die einen aus der Kurve trägt, mit 20 ebenso wie mit 60. Aber da ist auch eine bittersüße Note, weil man eben keine 50 Jahre mehr vor sich hat. Alles wird kostbarer, vielleicht dadurch auch doppelt schön. SPIEGEL ONLINE: Beneiden Sie Ehepaare, die tatsächlich zusammenbleiben, bis dass der Tod sie scheidet? Broich: Eigentlich gefällt mir der Gedanke, denn so eine Trennung ist anstrengend. Erst mal fliegt einem alles um die Ohren. Aber wenn das Dach wegfliegt, kann man immerhin die Sterne sehen.

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Schauspieler Dietmar Bär: "High Heels geben einem sofort eine andere Körperhaltung"

Dietmar Bär leiht im Animationsfilm "Pets 2" einem Neufundländer seine Stimme. Im Interview erzählt er, was Synchronsprechen mit Theaterspielen zu tun hat - und welche Haustiere er als Kind hatte.Ein Gespräch für Spiegel Online.

Dietmar Bär, Jahrgang 1961, leiht im Animationsfilm "Pets 2" dem zotteligen Neufundländer Duke seine Stimme. Bevor er beim "Tatort" als Kriminalkommissar Freddy Schenk anheuerte, spielte er dort einen Hooligan. In diesem Jahr dreht er seine 80. Kölner "Tatort"-Folge. Am Frankfurter Schauspiel steht er zur Zeit als Bürgermeisterkandidat auf der Bühne. Seine tierischen Abenteuer in "Pets 2" erlebt Dietmar Bär mit vielen bekannten Kollegen, unter ihnen Jan Josef Liefers, Mario Barth und Jella Haase. Der Computer-Animationsfilm läuft seit dem 27. Juni in deutschen Kinos. SPIEGEL ONLINE: Sie leihen in "Pets 2" Duke, einem brummigen, gemütlichen Neufundländer, Ihre Stimme. Welche Ähnlichkeiten haben Sie zwischen sich und Duke entdeckt? Bär: Man muss ja nicht aussehen wie ein Neufundländer oder sein wie Duke. Es kommt nur auf die Stimme an. Allerdings wäre ich als Gidget - das ist der kleine Spitz - wohl nicht gut besetzt, denn sicher stellen sich die meisten vor, dass Duke von jemandem gesprochen wird, der ein bisschen größer und breiter ist. Auf jeden Fall kann Duke nicht von einem älteren Herrn gesprochen werden, der beim Sprechen einschläft. Duke ist sehr lebendig und lebt nach der Devise: Mein Napf ist immer halb voll. SPIEGEL ONLINE: Ist das auch Ihr Lebensmotto? Bär: Diese Frage höre ich oft: Was steckt von Dietmar Bär in Duke oder dem "Tatort"-Kommissar Freddy Schenk? Ich würde sagen: nichts. SPIEGEL ONLINE: Vor Urzeiten haben Sie am Wuppertaler Stadttheater im hautengen Glitzerkostüm Kaa, die Schlange aus dem "Dschungelbuch", gespielt. Welche Rolle passt besser zu Ihnen, Kaa oder Duke? Bär: Das ist 30 Jahre her. Zuerst habe ich gedacht, es wird bestimmt ein Balu auf mich zukommen, aber da wir zwei dicke Jungs im Ensemble hatten, spielte Josef Ostendorf den Balu und ich Kaa und den Wolf. Die größte physische Herausforderung war nicht das hautenge Paillettenkleid, sondern es waren die grünen High Heels. Da habe ich zum ersten Mal verstanden, was Frauen zu leisten haben. Am Anfang haben die Mittelfüße sehr geschmerzt. Aber diese High Heels geben einem sofort eine andere Körperhaltung. SPIEGEL ONLINE: Was ist die größte Herausforderung als Synchronsprecher? Bär: Ich bin kein hauptberuflicher Synchronsprecher. Normalerweise synchronisiere ich nur meine eigenen Filme nach, wenn es Schadstellen gibt. Heute muss ich zum Beispiel noch zum Nachsynchronisieren des letzten "Tatort"-Drehs. Es sind nur 15 Takes, da bin ich zufrieden. Man muss auch unterscheiden zwischen der Synchronisation eines Animationsfilms und der eines Schauspielerkollegen aus Fleisch und Blut. Animationsfilme und Hörspiele liegen viel dichter am Theater als der Film mit realen Charakteren. SPIEGEL ONLINE: Inwiefern? Bär: Beim Theater, insbesondere beim Weihnachtsmärchen, muss man dem Affen Zucker geben, alles ein bisschen übertreiben. Man spielt auf der Bühne eben größer als im Film. Also, wenn Duke sich freut, dass er mit wehenden Ohren Auto fahren darf, dann dreht er so richtig durch und das muss meine Stimme zum Ausdruck bringen. SPIEGEL ONLINE: Orientieren Sie sich an der originalen Vorlage? Bär: Ich frage mich natürlich, wie es der amerikanische Kollege gemacht hat. Bevor es losging, durfte ich mir die Originalfassung von "Pets2" anschauen. SPIEGEL ONLINE: Und wie lief dann die Synchronisation, wie eine riesengroße Haustierparty? Bär: Nein, im Gegenteil, jeder wird einzeln aufgenommen, Abschnitt für Abschnitt. Man bekommt zunächst einen kurzen amerikanischen Take zu hören. Wenn andere Kollegen oder Kolleginnen schon vorher gearbeitet haben, spielt der Regisseur einem das auch kurz vor. Es ist manchmal hilfreich zu wissen, wie die anderen sich darstellen. SPIEGEL ONLINE: Vermissen Sie die Arbeit mit dem ganzen Körper, wenn Sie nur Ihre Stimme einsetzen? Bär: Sie können sich gar nicht vorstellen, welche Verrenkungen und Gesichter wir machen, um an das zu kommen, was da gerade auf der Leinwand passiert. Also fühle ich mich keineswegs reduziert. SPIEGEL ONLINE: Sind Sie mit Haustieren aufgewachsen? Bär: Als Kind hatte ich einen Hamster und ein Aquarium. Ich war Mitglied im Aquariumklub der Schule und bin regelmäßig mit dem Fahrrad zu einem nahen Tümpel gefahren, um Wasserflöhe und Mückenlarven zu holen. Ab und zu brachte ich einen Plastikbeutel mit einem neuen Fisch aus der Stadt nach Hause. Den Beutel habe ich erst mal aufs Wasser gelegt, um die Temperatur auszugleichen, und dann das Fischchen, das ja voll im Stress war, vorsichtig ins Wasser gelassen. Je teurer die Biester sind, desto empfindlicher sind sie. SPIEGEL ONLINE: Haben Sie derzeit Haustiere? Bär: Im ersten "Pets"-Film sieht man, wie Max, der Terrier, immer sehnsüchtig in der Wohnung vor der Tür sitzt und auf sein Frauchen wartet. Diesen Ansprüchen eines Haustiers könnte ich bei meinem Beruf nicht gerecht werden. Aber ich mochte schon immer den Eigensinn und die Unabhängigkeit von Katzen. Spiegel Online 30.06.2019

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Ganz Europa auf der Flucht: In der Serie "8 Tage" durchlebt Christiane Paul, wie sich Menschen verhalten, wenn die Katastrophe unausweichlich ist. Privat verbreitet sie nicht so gerne Untergangsstimmung. Ein Gespräch für Spiegel Online.

Christiane Paul (Jahrgang 1974) hat als Ärztin und Schauspielerin einen ungewöhnlichen Werdegang. Den Arztberuf hat sie zugunsten der Schauspielerei aufgegeben. 2016 erhielt sie den Emmy als beste Hauptdarstellerin für ihre Rolle der Richterin im Fernsehfilm "Unterm Radar". Paul engagiert sich politisch, unter anderem für Menschenrechte und besseren Umweltschutz. In der Serie "8 Tage" erlebt sie die letzte Woche vor dem Einschlag eines Asteroiden, der Europa zu zerstören droht. Start am 1. März auf Sky. SPIEGEL ONLINE: In Ihrer neuen Serie "8 Tage" droht die Erde von einem Asteroiden zerstört zu werden. Sind Sie persönlich manchmal in Weltuntergangsstimmung? Paul: Man könnte den Asteroid vielleicht eher als Metapher sehen. Wenn überhaupt, dann mache ich mir Sorgen um katastrophale Folgen von Umweltverschmutzung und Klimaveränderung. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass wir das in den Griff bekommen. Insofern bin ich optimistisch und nicht in Weltuntergangsstimmung. SPIEGEL ONLINE: Sie setzen sich seit Langem öffentlich für mehr Umweltschutz ein. Hat sich mit der Zeit merklich etwas verändert? Paul: Ich habe mich 2011 in meinem Buch damit beschäftigt, was jeder Einzelne tun kann. Inzwischen denke ich, dass es zwar toll ist, wenn Leute vegan leben, aber das reicht nicht. Wir können die Lösung der Probleme nicht nur auf die Konsumenten, die Bevölkerung abwälzen. Einer alleinerziehenden Mutter können wir nicht vorschreiben, nur Pfandflaschen und Brot aus dem Bioladen zu kaufen. Die Politik muss Lösungen und Regelungen für die Wirtschaft finden. SPIEGEL ONLINE: Achten Sie im Alltag besonders viel auf die Umwelt? Paul: Mülltrennung, Umweltpapier, all diese Beiträge leisten wir natürlich. Aber ich stoße an Grenzen. Meine Kinder lieben Fleisch. Dagegen komme ich nur schwer an mit meinen bescheidenen Kochkünsten. Und ehrlich gesagt, mein Leben als Schauspielerin in Mitteleuropa mit gehobenem Lebensstandard macht es sehr schwer. Ich reise viel, fliege, die Kleidung, all diese Dinge... Ich habe einen sehr großen CO2-Fußabdruck, auch wenn ich oft Fahrrad und U-Bahn fahre. SPIEGEL ONLINE: Versuchen Sie, andere zu überzeugen, nachhaltiger zu leben? Paul: Ich habe das eine Zeit lang stark propagiert, aber damit aufgehört, weil ich in Gesprächen mit Freunden oder in Talkrunden häufig eine Abwehrhaltung gespürt habe. Die andere Seite wird entweder sofort still oder reagiert mit Scheinargumenten: Warum muss ich ein umweltfreundliches Auto kaufen, wenn der Chinese sich gar nicht um Umweltschutz kümmert? Das ist eine Art Schutzverhalten. Die Chinesen spielen doch sonst bei unseren Entscheidungen keine Rolle. Warum werden sie an dieser Stelle hervorgeholt? Das habe ich oft erlebt und deswegen aufgehört, so missionarisch zu diskutieren. SPIEGEL ONLINE: Wovor schützen sich die Menschen? Paul: Sie haben Angst, Dinge aufzugeben, von denen sie glauben, dass sie unbedingt zu ihrem Leben und zum Wohlstand gehören. Leider sehen viele nicht, dass wir dafür so viel anderes aufgeben, in Staus stehen, verschmutzte Luft atmen. Aber wahrscheinlich verlangen wir zu viel von den Menschen. Ich denke, wir brauchen in dem Fall mehr Staat, eine Politik, die den Menschen abnimmt, visionär zu denken und die Probleme zu lösen. Der Einzelne schafft das nicht. SPIEGEL ONLINE: Heißt das nicht: mehr Bevormundung? Paul: Nicht, wenn es richtig gemacht wird. Politiker müssen ihre Verantwortung tatsächlich wahrnehmen. Ich erwarte, dass sie vor einer Migrationskrise wissen, dass diese Krise auf uns zukommt und das Land darauf vorbereiten. Da sehe ich Handlungsbedarf. In "8 Tage" versagt die Politik auch, während die Bevölkerung in Starre verharrt. SPIEGEL ONLINE: Besonders unheimlich erscheint in der Serie der moralische Verfall sämtlicher Beteiligten und der Sieg des puren Egoismus. Wie würden Sie sich verhalten? Paul: Ich bin solchen extremen Situationen noch nicht ausgesetzt gewesen. Vielleicht ist es normal, dass jeder versucht, seine Haut zu retten. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten würde. Ich frage mich auch manchmal, ob ich den Mut gehabt hätte, gegen den Nationalsozialismus aufzustehen. SPIEGEL ONLINE: Also zweifeln Sie daran, dass sich in der Katastrophe die Moral aufrechterhalten lässt? Paul: Ich bin mir nicht sicher. Auf der anderen Seite gibt es gerade in Kriegssituationen viele Menschen, die Solidarität zeigen. Auch in "8 Tage" gibt es Menschen, die sich einen Rest an moralischem Empfinden bewahren. SPIEGEL ONLINE: Können wir uns darauf vorbereiten, in der Gefahr unseren moralischen Kompass nicht zu verlieren? Paul: Es ist essenziell, den sozialen Frieden aufrechtzuerhalten. Die Leute können sich nur für Moral interessieren, wenn der Druck nicht zu groß ist. Und der wird zurzeit immer größer. Es macht Angst, wenn wir uns fragen müssen, ob die Schicht der Zivilisation so dünn ist, dass wir in Gefahr sofort wieder mit der Machete losrennen. In den letzten Jahrhunderten haben wir große Fortschritte in der Entwicklung unserer kulturellen Werte gemacht. Wir müssen nun schauen, dass wir diese Werte nicht verlieren. Spiegel Online 25.02.2019

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Schauspielerin Claudia Eisinger: "Mich verfolgt die Vision einer Pyramide"

Claudia Eisinger, eben noch als Nachwuchshoffnung gefeiert, ist spätestens seit ihrem Auftritt in "Mängelexemplar" ein Schauspielstar. Und jetzt? Hier verrät sie, wie bunt ihre nächsten Projekte sind. Ein Gespräch für Spiegel Online.

Claudia Eisinger (Jahrgang 1984) bekam 2016 für ihre Rolle als depressionsgeschüttelte Karo in dem Film "Mängelexemplar" den Deutschen Schauspielpreis. In der Fernsehserie "Zarah - Wilde Jahre" kämpfte sie 2017 als rebellische Journalistin gegen die patriarchalen Strukturen eines bedeutenden Printmagazins, außerdem engagiert sie sich in dem kreativen Netzwerk "Club der jungen Wilden". Eisinger wuchs in einer Berliner Arztfamilie auf und lernte an der Ernst-Busch-Schauspielschule. SPIEGEL ONLINE: Sie waren fast das ganze vergangene Jahr auf Reisen. Was hat Sie fortgetrieben? Eisinger: Viele Dinge in meinem Leben haben sich nicht mehr wahr angefühlt. Es stand eine große Veränderung auf sämtlichen Ebenen an. Ich wusste anfangs nicht, wohin mich diese Reise bringen würde. Letztlich war ich zweimal in New York, unter anderem, um Schauspielunterricht am William Esper Studio zu nehmen, dann auf Bali und in Colorado. 2018 ist für mich ein lebensveränderndes Jahr geworden. SPIEGEL ONLINE: Weshalb war das nötig? Eisinger: Mir wurde alles zu eng. Ich musste mich in meine Freiheit aufmachen, um mich nicht nur der Schauspielerei auf neue Weise anzunähern, sondern auch anderen künstlerischen Kanälen nachzuspüren. SPIEGEL ONLINE: Lag der Grund für diese Auszeit auch am Misserfolg der ZDF-Serie "Zarah - Wilde Jahre"? Es war bestimmt deprimierend, als Serien-Hauptfigur kurzerhand ins Nachtprogramm abgeschoben zu werden. Eisinger: Ehrlich gesagt, nein. Ich habe es nicht persönlich genommen. Allerdings war der Dreh für mich eine einschneidende Erfahrung. SPIEGEL ONLINE: Was war so einschneidend? Eisinger: Wir sollten von einer revolutionären Zeit erzählen - aber bitte nicht zu radikal. Dieser Widerspruch war für mich einfach schwer auszuhalten. Ich fand es absurd, eine rebellische Figur zu spielen, die Zwänge aufbrechen wollte, und gleichzeitig als Schauspielerin in einem redaktionsbeherrschten starren System zu stecken. Ich fühlte mich dadurch sehr begrenzt. SPIEGEL ONLINE: Wie wurde die Reise zu einem Neuanfang? Eisinger: Zwar liebe ich die Schauspielerei sehr, aber sie ist nicht das einzige, was mich ausmacht, das weiß ich schon länger. Und außerdem werde ich nicht mein ganzes Leben in Deutschland verbringen. Mit dieser Reise gebe dem Raum, was in mir schlummert und schon lange raus möchte. SPIEGEL ONLINE: Konkret heißt das: Sie haben in Bali ein Modelabel gegründet, "What would Bella do?". Eisinger: Ich sage nicht so gern Label. Für mich ist das eher ein Multi-Ausdruckskanal. Zwar habe ich begonnen, unter diesem Namen Kleidung zu machen, aber das ist nur der Anfang. Weitere Projekte, zum Beispiel ein Podcast, sollen folgen. Die Frage "What would Bella do?" richtet sich an die Instanz in uns, die frei ist von Masken und gesellschaftlichen Rollen, die wir im Leben spielen. Wie würden wir leben, wenn wir diesem höheren Teil in uns folgen würden anstatt der gesellschaftlichen Norm? SPIEGEL ONLINE: Was für Kleidung haben Sie entworfen? Eisinger: Unter anderem Kimonos. Der Kimono ist ein zeremoniell aufgeladenes Kleidungsstück, das Halt gibt. Er könnte das Gewand einer Superheldin oder einer Göttin sein. Ich hatte die Ideen, und eine befreundete Modedesignerin in Bali hat sie für mich in Schnittmuster übersetzt. Dann wurde alles per Hand genäht und bedruckt. Auf Bali hatte ich die Möglichkeit, die Produktionsbedingungen so zu gestalten, dass die Näherinnen nicht ausgebeutet werden. Mir war wichtig, persönlichen Kontakt zu ihnen zu haben, ihre Arbeitsbedingungen und ihren Verdienst zu kennen. SPIEGEL ONLINE: Sie haben außerdem den Plan für eine Pyramide entwickelt. Was steckt da denn dahinter? Eisinger: Seit meinem Aufenthalt in New York verfolgte mich die Vision einer Pyramide, und der bin ich nachgegangen. Durch ihre Architektur und Positionierung sind Pyramiden seit Jahrtausenden hochenergetische Räume, die den Menschen helfen, sich mit dem universellen Bewusstsein zu verbinden. Ich möchte Oasen schaffen, in denen man für eine kleine Weile aus dem Hamsterrad aussteigen kann. Solche Orte brauchen wir mehr denn je. SPIEGEL ONLINE: So richtig vorstellen kann man sich das jetzt aber noch nicht. Eisinger: Ich kann noch nicht so viel verraten, nur dass ich mit einer Kuratorin und verschiedenen Künstlern an der Umsetzung arbeite. SPIEGEL ONLINE: Bleibt bei all dem noch Zeit für die Schauspielerei? Eisinger: Unbedingt. Ich bin sehr offen für das, was da jetzt auf mich zukommt. Spiegel Online 12.02.2019

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Wie stellen sich junge Frauen im Internet dar? Beängstigend uniform, findet Maria Furtwängler. Im Interview spricht sie über deprimierende Rollenbilder und die Verantwortung weiblicher Trendsetter. Ein Gespräch für Spiegel Online.

© M.Bothor

Mit ihren Selbstinszenierungen auf Instagram und YouTube legen sich Mädchen und junge Frauen immer noch weitgehend auf althergebrachte Rollenbilder fest. Zu diesem Schluss kommt Schauspielerin Maria Furtwängler und beruft sich dabei auf mehrere Studien, die sie gemeinsam mit ihrer Tochter Elisabeth in Auftrag gegeben hat und nun in Berlin vorstellt. Wie nutzen junge Frauen die Chance, sich im Web individuell auszudrücken? Und wie lassen sie sich dabei von Influencerinnen beeinflussen? Das haben Forscherinnen auf Instagram und YouTube untersucht - im Auftrag der von Maria und Elisabeth Furtwängler gegründeten Stiftung MaLisa. In einer dritten Studie wurde auch die Geschlechterdarstelllung in den 100 beliebtesten Musikvideos analysiert. Bereits 2017 hatte die Stiftung mit einer umfassenden Studie darauf hingewiesen, dass Frauen in Film und Fernsehen unterrepräsentiert sind. Die neuen Studien kommen nun zu einem ganz ähnlichen Ergebnis: Bei den 100 beliebtesten Musikvideos, den 100 beliebtesten YouTube-Kanälen und den Top 100 Instagram-Profilen seien Frauen nur halb so häufig vertreten wie Männer, heißt es in einer Mitteilung von MaLisa. Zudem orientiere sich das Auftreten an althergebrachten Stereotypen: • Auf YouTube präsentieren Frauen sich der Studie zufolge überwiegend im privaten Raum und geben etwa Schminktipps, während Männer ein deutlich breiteres Themenfeld abdecken. • In Musikvideos werden Frauen laut der Untersuchung mehrheitlich "sexy und passiv" inszeniert. • Auf Instagram seien vor allem die Frauen erfolgreich, die einem normierten Schönheitsideal entsprechen und sich mit Mode- oder Beauty-Themen beschäftigen. Als TV-Kommissarin Charlotte Lindholm widersetzt sich Maria Furtwängler weiblichen Klischees. Im "Tatort" am kommenden Sonntag wird sie ihrer neuen Kollegin, gespielt von Florence Kasumba, mit kampflustigem Alphatier-Gebaren begegnen. Im Interview erzählt sie, warum ihr diese Auseinandersetzung Spaß macht, warum sie das uniforme Frauenbild im Web alarmierend findet und was sich am Nutzungsverhalten ändern muss. SPIEGEL ONLINE: Welche Unterschiede haben die Forscherinnen bei der Selbstinszenierung von Mädchen und Jungen auf YouTube vorgefunden? Maria Furtwängler: Junge Frauen präsentieren sich eher im privaten Raum und deklarieren ihre Tätigkeit als Hobby. Es wird genäht, gekocht, gebastelt, oft geht es um Beautytipps und Dating. Junge Männer zeigen sich häufiger im öffentlichen Raum und haben eine sehr viel größere Spannbreite an Ausdrucksmöglichkeiten: Entertainment, Gaming, Comedy oder auch mal Politik. Es scheint sehr wichtig zu sein, dass die Frauen das Gefühl vermitteln, sie machten alles gut gelaunt und ohne Anstrengung nebenbei. SPIEGEL ONLINE: Also der Mann als Profi in der Welt unterwegs und die Frau hübsch lächelnd zuhause? Furtwängler: In der Summe ja. Dabei sind die bekannten Influencerinnen oftmals starke Selfmade Women, die sich selbst managen, ihr Image eigenständig gestalten. Eine sehr erfolgreiche Influencerin hat mir erzählt, sie habe mal versucht aufzuzeigen, wie logistisch aufwändig und anstrengend diese Arbeit ist, habe daraufhin aber sofort einen auf den Deckel bekommen von ihren Followern. SPIEGEL ONLINE: Und das ist bei Jungen anders? Furtwängler: Jungs dürfen sich durchaus geschäftstüchtig zeigen. Natürlich wird auch hier das Sixpack wichtiger, aber sie haben viele Optionen, ihre Stärken zu zeigen. Von Mädchen wollen alle nur das perfekte Bild sehen. SPIEGEL ONLINE: Und es soll bei ihnen bitteschön nicht nach Arbeit, sondern natürlich aussehen? Furtwängler: Ja, keinesfalls und das ist lustig. Es geht angeblich um Authentizität, Natürlichkeit und Spontaneität. Aber die Herstellung eines perfekt unaufwändig wirkenden Bildes ist unglaublich aufwändig. SPIEGEL ONLINE: Die Forscherinnen haben Hunderte Instagram Posts untersucht. Wie versuchen Jugendliche, ihre Bilder zu optimieren? Furtwängler: Mädchen vergrößern, zum Teil mit Apps, ihre Brüste, verengen ihre Taille, verlängern ihre Beine, Jungen machen ihre Beine muskulöser, verbreitern ihre Schultern, und bauen sich ein Sixpack. Mädchen sollen wahnsinnig schlank sein und trotzdem große Brüste und Hintern haben. Diese Kombination ist rein biologisch kaum machbar. Denn wenn ich klapperdürr bin, ist in der Regel vorn und hinten einfach nicht mehr viel da. Da kann man nur nachhelfen. Wir haben ein Zitat von einem Mädchen, das sagt: Ich mache mir immer die Beine länger, weil das natürlicher aussieht. SPIEGEL ONLINE: Das heißt, Wunschbilder und Wirklichkeit werden schon verwechselt? Furtwängler: In den USA gibt es bereits das Phänomen "Snapchat Dysmorphia": Mädchen gehen zum Schönheitschirurgen, damit sie im richtigen Leben so aussehen, wie auf den gefilterten Snapchat-Bildern. Auffällig ist auch, dass der Wunsch nach Nasenverkleinerungen zugenommen hat, denn durch den Weitwinkeleffekt bei den Selfies hat man tatsächlich immer einen riesigen Zinken im Gesicht. SPIEGEL ONLINE: Aber niemand schreibt Frauen und Mädchen vor, sich an Schönheitsklischees zu halten oder sich auf Handarbeiten und Schminktipps zu fokussieren. Wie erklären Sie sich, dass weibliche User sich trotzdem darauf festlegen? Furtwängler: Es ist eine erstaunliche normierende Macht, die durch die sozialen Medien ausgeübt wird, obwohl diese Plattformen doch per se erst einmal einen völlig freien Raum zur individuellen Selbstinszenierung geboten haben. Es wäre interessant herauszufinden, wie genau diese Normierung so dominant werden konnte. Und warum sich die wirtschaftlichen Interessen von Unternehmen durchgesetzt haben, die eine solche Normierung mit Werbung erzeugen oder befeuern wollen. Frauen sind jedenfalls umso erfolgreicher, je mehr sie sich an den engen Rollenvorgaben orientieren. Das uniforme Frauenbild ist alarmierend. Es leugnet und ignoriert in weiten Teilen weibliche Diversität. SPIEGEL ONLINE: Also sollte Schönheit für Frauen gar kein Maßstab mehr sein? Furtwängler: Es ist nichts dagegen zu sagen, dass wir hübsch sein wollen. Gleichzeitig kann und muss das Konzept von hübsch oder schön jedoch Vielfalt zulassen. Ganz generell ist die Einschränkung deprimierend, der zufolge Mädchen ihren Selbstwert primär darüber definieren, wie viele Likes sie für ihr Aussehen bekommen und wie viele Typen scharf auf sie sind. Und es eben nicht darum geht, ob sie eine tolle Sache erfunden oder etwas gebaut oder sonst eine großartige Leistung vollbracht haben. Dieser schmale Korridor, in dem Frauen sich bewegen, ist sehr irritierend, er orientiert sich am Frauenbild der 1950er Jahre. SPIEGEL ONLINE: Kann man trotzdem sagen, dass sich in der jüngeren Social-Media-Welt Fortschritte gegenüber den klassischen Medien zeigen? Furtwängler: Ich fürchte nein, eher im Gegenteil. In den traditionellen Medien bewegen sich die Verantwortlichen wenigstens langsam in Richtung Diversität und Geschlechtergerechtigkeit, hinterfragen stereotype Darstellungen. In den sozialen Medien gibt es keine Kontrollinstanz und keine Möglichkeit, das zu beeinflussen. Natürlich gibt es auf allen Social-Media-Plattformen eine große Bandbreite an Selbstdarstellung, aber ein Algorithmus schert sich nicht um Vielfalt oder Vermeidung von Stereotypen. SPIEGEL ONLINE: Was müsste Ihrer Meinung nach unternommen werden? Furtwängler: Schulen müssen zu mehr Medienkompetenz verhelfen. Eltern müssen sich mit den Bildern auseinandersetzen, die ihre Kinder prägen und selber entwerfen. Und wir müssen das Bewusstsein, gerade auch bei den Influencerinnen, dafür schärfen, wie wirkmächtig ihre Bilderwelten sind, wie sehr sie im Unterbewusstsein wirken. Das ist auch meine Motivation, mich hier zu engagieren, zu analysieren, was wir sehen und mit den Influencerinnen, deren Arbeit ich durchaus respektiere, darüber in die Diskussion zu kommen. SPIEGEL ONLINE: Als Tatort-Kommissarin Charlotte Lindholm bilden Sie mit Ihrer neuen Co-Kommissarin Florence Kasumba alias Anais Schmitz ein richtiges Alphafrauen-Team. Wie gefällt Ihnen das? Furtwängler: Ich finde es sehr gut, dass mit Florence im "Tatort" die erste weibliche Doppelspitze bilde, vor allem weil die Auseinandersetzung zwischen den Kommissarinnen nicht hysterisch, zickig oder weinerlich geführt wird, sondern wie zwischen zwei Kerlen mit Aggression auf Augenhöhe. SPIEGEL ONLINE: Und das ist besser? Sie müssen dabei ganz schön einstecken. Furtwängler: Ja, nicht wahr? Aber Frauen sind nun mal nicht die besseren Menschen!

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© Michael De Boer

Wotan Wilke Möhring – Zweieinhalb Leichen pro Tatort

Hilft es in einer brenzligen Situation im echten Leben, wenn man als Schauspieler schon Gewaltszenen gespielt hat? Nein, sagt Wotan Wilke Möhring. Dabei hat er sich schon mit Skins angelegt und eine Massenschlägerei erlebt. Ein Gespräch für Spiegel Online.

Wotan Wilke Möhring, Jahrgang 1967, einst Waldorfschüler und Punkmusiker, Zeitsoldat bei den Fallschirmjägern, gelernter Elektriker, Türsteher, Clubbesitzer und Model, ist heute bekannt als "Tatort"-Kommissar Thorsten Falke und Hauptdarsteller in zahlreichen Kinofilmen. Als Staatsanwalt vegegnet man ihm in der Serienverfilmung von Patrick Süßkinds Roman "Das Parfum". Sein Film-Debüt gab er erst mit 31 Jahren in der "Bubi-Scholz-Story". SPIEGEL ONLINE: Sie haben kürzlich gesagt, dass Sie die Brutalisierung der Gesellschaft befürchten. Tragen nicht viele Krimis und Thriller dazu bei, in denen Sie mitspielen? Zweieinhalb Leichen gab es 2017 durchschnittlich pro "Tatort". Möhring: Das glaube ich nicht. Wer entspannt in einen Film geht, kommt nicht raus und hat Bock, sich zu kloppen. Aus einem Film geht man eher berührt, verwirrt, fröhlich oder gelangweilt raus. Klar, es kann ein Wagnis sein, einen Film anzuschauen: Man geht entspannt ins Kino und schaut sich einen tollen, aufwühlenden Film an und danach ist alles anders, weil der Film einen so mitgenommen hat und alles aus dem Gleichgewicht bringt. Aber wer selbst gewalttätig wird, kann das nicht auf ein einzelnes Filmerlebnis schieben. Das ist viel zu einfach. SPIEGEL ONLINE: Sind Ihnen Gewalt, Brutalität und Tod im wirklichen Leben begegnet? Möhring: In meinen wilden Jahren, da war ich um die achtzehn, hat mir mal einer von hinten ein Messer durch die Jacke gestochen, später hielt mir jemand eine Knarre an den Kopf, als ich auf dem Fahrrad saß. Ich habe auch schon echte Tote gesehen, war dabei, als jemand erschlagen wurde, und auch bei einer Massenschlägerei. Also: ja. SPIEGEL ONLINE: Sie haben viel mehr Gewalt erlebt als der Durchschnittsdeutsche! Möhring: Aber ich weiß nicht, ob die Pistole echt war. Außerdem ist mir nichts Schlimmes passiert. Einmal allerdings wollten Skinheads unsere Punk-Party stürmen. Skins prügeln und Punks werden verprügelt, das fand ich schon immer daneben. Man muss sich wehren. Ich habe also gesagt: Los, gehen wir raus und vertreiben sie. Dann ist die Tür hinter mir zugefallen und ich war als einziger draußen. Ich bin dann im Krankenhaus mit einer Gehirnerschütterung und anderen Verletzungen aufgewacht. Ich konnte mich an nichts erinnern. SPIEGEL ONLINE: Können Sie sich in böse Figuren gut hineindenken? Möhring: Ja, denn auch die schlimmsten Täter tun in ihrer Logik das Richtige. Es ist sehr interessant, diese völlig andere Perspektive zu ergründen. Daraus erklärt sich auch, glaube ich, die Faszination des Bösen. Der Böse hat mit letzter Konsequenz eine Grenze überschritten und nimmt sich Freiheiten heraus, die wir uns nie zutrauen würden. SPIEGEL ONLINE: Ist die Darstellung hartgesottener Kerle im Film eine Art Training für tatsächliche Gefahrensituationen? Möhring: Nein. Die Wirklichkeit ist viel krasser. Also, wenn man wilde Tiere im Zoo sieht, ist das wie Kino. Aber wenn dir im Park tatsächlich ein Löwe begegnet, da klopft dein Herz bis zum Hals. Ein rutschender Motorroller neben uns auf der Straße, eine Frau, die mit dem Fahrrad hinfällt, das nimmt uns mehr mit als ein Mord im Film. Auf der Leinwand werden Dinge erträglich, die wir in der Realität kaum aushalten. Das liegt daran, dass das menschliche Auge sehr viel mehr wahrnimmt als jede Kamera, und dass wir draußen im Leben alle unsere Sinne nutzen. SPIEGEL ONLINE: Ihr Vater starb 2004 durch einen Verkehrsunfall in Ihren Armen. Ist das auch eine Art Gewalterfahrung? Möhring: Wenn da dein Vater liegt und das Blut kommt, und du weißt, er kann dich schon nicht mehr sehen - das ist eine im wahrsten Sinne gewaltige Erfahrung. Ich habe lange gebraucht, um das als Sohn anzunehmen. Es bleibt natürlich in Erinnerung, wie aber auch die Geburt meiner Kinder im positiven eine solche archaische Erinnerung bleibt. Meine Kinder sind danach geboren. Der Gedanke, dass der eine geht und der andere kommt, hat mich getröstet. SPIEGEL ONLINE: Ihre Kinder, zwei Mädchen und ein Junge, sind 5, 7 und 9 Jahre alt. Schauen Sie Filme an, in denen Sie mitspielen? Möhring: Meine Kinder sind zu jung, vieles ist ihnen zu krass, nicht mal den alten Räuber-Hotzenplotz-Film wollen sie gucken. Sie haben noch nie einen Film mit mir gesehen. Sie kennen ihren Vater anders, mögen die Verwandlungen nicht, zum Beispiel, dass manchmal meine Haare oder der Bart verändert werden. Einmal haben sie mich bei Winnetou-Dreharbeiten in Kroatien besucht. Mich traf ein Pfeil und ich fiel vom Pferd. Mein Sohn spricht heute noch darüber. Eine Weile dachte er, Papa wird immer erschossen auf der Arbeit, das fand er doof. SPIEGEL ONLINE: Wann haben Sie selbst ihren ersten Tatort geguckt? Möhring: Meinen ersten Tatort habe ich heimlich bei meiner Tante gesehen. Es war ausgerechnet "Reifezeugnis" mit Nastassja Kinski. Ich war ungefähr zehn Jahre alt und hatte monatelang schwere Albträume. SPIEGEL ONLINE: Gibt es Ihrer Meinung nach Gewaltszenen, die man auch Erwachsenen nicht zeigen sollte? Möhring: In gut gemachten Filmen sieht man bestimmte Dinge nicht. Bösewichte gehen zum Beispiel mit einem Gefangenen in einen Raum und der Zuschauer weiß einfach, dass da jetzt einer verprügelt wird. Die Kamera muss nicht mitgehen. Das Schlimmste findet dann in unserer eigenen Vorstellung statt. SPIEGEL ONLINE: Sie spielen in der Serie "Parfum" mit. Auch da gibt es Szenen, die dem Zuschauer sehr viel zumuten. Herausgeschnittene Körperteile wurden früher nicht so freimütig gezeigt. Ein Zeichen, dass wir gegen Gewalt abstumpfen? Möhring: Das sehe ich nicht so. Unsere Verfilmung ist da nicht drastischer als das Buch, das aus den Achtzigern ist. Ein Film, der keinen Spielraum für die eigene Interpretation lässt, läuft Gefahr, dass wir als Zuschauer emotional nicht mehr mitkommen. Wenn ich "Das Parfum" von Patrick Süskind lese, produziere ich diese Bilder selbst, sie entstehen in meinem Kopf. Ich selbst bin dann Regisseur, Schauspieler, Kameramann. Ich kann mich nicht dagegen wehren, dass sich die Buchstaben in meinem Kopf zu solchen Bildern verbinden. Das finde ich viel intensiver als Filmblut. Spiegel Online 03.11.2018

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© Luc Coiffait

Dua Lipa zog mit 15 allein nach London, um dort professionell Musik zu machen - mit Anfang 20 ist sie heute eine der meistgehörten Sängerinnen weltweit. Im Interview erzählt sie, was sie am Erfolg stört. Ein Gespräch für Spiegel Online.

Die britische Sängerin Dua Lipa (Jahrgang 1995) ist eine Senkrechtstarterin im Pop.Ihr Musikvideo "New Rules" verzeichnet mittlerweile fast 1,5 Milliarden Aufrufe auf YouTube, in diesem Jahr wurde sie bei den Brit Awards als beste weibliche Künstlerin ausgezeichnet. Dua Lipa wuchs in London auf und besuchte dort die Sylvia Young Theatre School, die auch auf Musikkarrieren vorbereitet. Ihre Eltern stammen aus dem Kosovo. SPIEGEL ONLINE: Sie sind mit 15 Jahren bei Ihren Eltern im Kosovo ausgezogen und nach London gegangen. Wieso? Lipa: Das war eine Rückkehr. Mit elf Jahren musste ich mit meinen Eltern von London in den Kosovo ziehen. Als ich gemerkt habe, dass ich dort nicht dieselben Möglichkeiten haben würde, professionell Musik zu machen, bin ich mit fünfzehn allein zurück nach London gegangen. SPIEGEL ONLINE: Fühlten Sie sich dort nicht ein wenig verloren? Lipa: Ganz und gar nicht, meinen Eltern fühlte ich mich näher als zuvor. Als wir noch unter einem Dach lebten, habe ich nie auf sie gehört. Aber das änderte sich in der Sekunde, in der ich auszog. Ich suchte ihren Rat. SPIEGEL ONLINE: Wer hat Sie in London unterstützt? Lipa: Zunächst habe ich bei der Tochter einer befreundeten Familie gewohnt. Sie war etwas älter als ich. Später bin ich mit Freunden zusammengezogen. Ich ging zur Schule, habe nebenher gejobbt, in Restaurants, im Verkauf, in Bars, als Babysitter. Nach dem Schulabschluss habe ich mich dann gegen ein Studium und für die Musik entschieden. SPIEGEL ONLINE: Warum? Lipa: Mein Vater ist auch Musiker, er zeigte mir neue Musik, stellte mir damals noch Minidisks zusammen. Musik war von Anfang an eine große Sache in meinem Leben. SPIEGEL ONLINE: Spielen Sie ein Instrument? Lipa: Ich habe mal Cello gespielt. Meine Eltern wollten, dass ich Klavier und Gitarre lerne. Aber ich nahm eins der größten Instrumente. Das war wohl ein Ausdruck von Rebellion. Wenn ich mein Cello zur Schule trug, stieß es die ganze Zeit oben an meinen Kopf und unten in die Kniekehlen. Ich war die Kleinste in der Klasse und hatte das größte Instrument. SPIEGEL ONLINE: Wie haben Sie es in die professionelle Musikszene geschafft? Lipa: Ich habe Coversongs online gestellt und sehr intensiv Social Media genutzt. Es gab viele positive Reaktionen, vor allem von jungen Produzenten. Schließlich wurde mir ein Vertrag angeboten. Aber ich hatte keine Ahnung davon. Also bat ich einen Freund, den ich von Twitter kenne, um Hilfe. Ich hatte ihn nie persönlich getroffen, aber er empfahl mir einen guten Anwalt. Der riet mir ab, das zu unterschreiben. Stattdessen habe ich mit seiner Hilfe meinen jetzigen Manager Ben Mawson gefunden. SPIEGEL ONLINE: Und der suchte ein Label für Sie aus? Lipa: Wir wollten erst mal herausfinden, was mein Genre ist, was ich wirklich will. Er stellte mich jeden Tag in ein Studio, jeden Tag! Mit vielen verschiedenen Produzenten. Mit denen schrieb ich dauernd neue Songs, schließlich auch "Hotter Than Hell". Und da dachten wir: In die Richtung könnte es gehen. Das war ein Team, das zu meinen Vorstellungen passte, anstatt mir einen Stil aufzudrücken. SPIEGEL ONLINE: Warum betrieb Mawson diesen Aufwand mit Ihnen? Lipa: Ich hatte ihm einige meiner Songs vorgespielt. Nach nur fünf Minuten sagte er: Lass es uns versuchen, kein Vertrag, nichts. Wir gehen einfach ins Studio und probieren. Nach dem Erfolg von "Hotter Than Hell" unterschrieb ich einen Vertrag. SPIEGEL ONLINE: Kommt zuerst die Musik oder erst der Text? Lipa: Der Text, immer. Ich würde eher die Melodie ändern, damit die Verse passen, als umgekehrt. SPIEGEL ONLINE: Ist es für Sie wichtig, Alben zu produzieren? Lipa: Seit die Streamingdienste so wichtig sind, muss man häufig Singles veröffentlichen, damit die Aufmerksamkeit des Publikums nicht nachlässt. Aber ich persönlich liebe es, ein Album vom ersten bis zum letzten Stück anzuhören. So lerne ich einen Musiker kennen. Mir selbst bedeutet es viel, ein zusammenhängendes Arbeitsprodukt abzuliefern. Mit einem Album zeige ich das nächste Kapitel meines Lebens. SPIEGEL ONLINE: Was bedeutet es, mit 23 die meistgehörte Künstlerin eines Streamingdienstes zu sein? Lipa: Es ist ein total verrücktes Abenteuer! SPIEGEL ONLINE: Und die Schattenseiten? Lipa: Ich muss mich vielen Meinungen stellen. Das ist Segen und Fluch zugleich. Ich liebe es zwar, von meinen Fans zu hören, was ihnen gefällt und was nicht. Doch die Medien sind zu sehr an meinem Privatleben interessiert. Ein neues Album wird unter ein Mikroskop gelegt, um Personen zu identifizieren und herauszufinden, welche Verbindungen es zu meinem Alltag gibt. Aber Musik ist einfach Musik. Ich möchte zeigen, dass wir alle durch ähnliche Erfahrungen gehen. Spiegel Online 03.10.2018

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© Christoph Köstlin

"Chaos auf Reisen tut mir wahnsinnig gut"

Warum hängt Clueso in Hotels ein Tuch über die Lampen? Und warum will er auf gar keinen Fall Gruppenurlaub machen? Im Interview für Spiegel Online gibt der Sänger Einblick über seine Art zu reisen. Ein Gespräch für Spiegel Online.

Clueso, Jahrgang 1980, bürgerlich Thomas Hübner, lehnt seinen Künstlernamen an Inspektor Clouseau aus "Der rosarote Panther" an. Seit 2001 spielten alle seine Alben Gold ein, eins sogar Platin. Auf seinem achten Album "Handgepäck I", das am 24. August erscheint, sammelt er Songs, die auf Reisen und Tourneen entstanden sind. Clueso: Ich reise tatsächlich immer nur mit Handgepäck und kaufe mir lieber mal ein Shirt vor Ort. Neben den Klassikern von Socken bis Zahnbürste packe ich eine Kopie meines Ausweises ein, ein Pullöverchen, falls doch ein Wind weht, Mikrofon und Kopfhörer, Laptop, Mehrfunktionssteckdose und diverse Kabel. SPIEGEL ONLINE: Immer bereit, Musik zu machen. Clueso: Die große Frage ist jedes Mal, ob ich eine Gitarre mitnehme. Das ist Sperrgepäck und auf manchen Reisen zu kompliziert. Aber ich habe mir unterwegs schon mal eine Kindergitarre gekauft, weil ich es ohne nicht ausgehalten habe. Später habe ich sie verschenkt. SPIEGEL ONLINE: Warum reisen Sie: Um anzukommen oder um unterwegs zu sein? Clueso: Beides. Einerseits reise ich, um zu mir zu finden, andererseits um mich treiben zu lassen. Ich unterscheide verschiedene Arten von Reisen: Urlaub ist eher Reha bei Freunden, wo ich alles schon kenne. Meine Fernreisen sind getrieben von Neugier. Ich mag Spontaneität und brauche ein bisschen Chaos. Wenn ich zurückkomme, merke ich: Dringlichkeiten und Wichtigkeiten sortieren sich neu. SPIEGEL ONLINE: Bei der Rückkehr hat sich also der Blick auf Sie selbst und die Welt verändert. Clueso: Nach einer Reise lerne ich vieles wieder lieben, die massiven Bauten in diesem Land und mein cooles Studio zum Beispiel. Ich fühle mich inspiriert. In einem fremden Land unterbleibt auch der Personenkult, und ich finde besser zu mir. Wenn ich auf Tour bin, ist das allerdings anders. So viele Menschen, die den ganzen Tag auf mich zukommen, zu viele Reize! Danach bin ich erst mal platt. SPIEGEL ONLINE: Mit wem reisen Sie gern? Clueso: Mit Leuten, die ebenfalls mit wenig Gepäck auskommen, die meine Neugier teilen und wissen, dass es kein Erholungsurlaub sein muss. Mit Freunden, am liebsten zu zweit. Auf keinen Fall in großen Gruppen. Zu zweit ist man beweglicher. Der Ort muss die Chance haben, auf einen zuzukommen. Beweglichkeit ist dafür die Voraussetzung. Und bei mir gilt: Bloß kein Freizeitstress und nicht zu viel planen! Mein Leben ist durchgetaktet, obwohl ich eigentlich kein strukturierter Typ bin. Chaos auf Reisen tut mir wahnsinnig gut. SPIEGEL ONLINE: Wohin reisen Sie gern? Clueso: Ich war viel in Asien unterwegs, auch für den Verein "Viva con Agua". Die Auswahl ist oft zufällig. Ich höre von anderen, wo sie waren: Argentinien, Kuba, bevor sich dort alles ändert. Das würde ich als nächstes anpeilen. SPIEGEL ONLINE: Ist Reisen auch eine Flucht? Clueso: Nein, es ist eher ein Sortieren. Und es ist Benzin für gute Songs, wie David Bowie gesagt hat. SPIEGEL ONLINE: Der volle Tank wird unterwegs gleich angezapft. Sie schreiben auf Ihren Reisen viele Texte, komponieren und nehmen auf. Clueso: Oft mische ich auch. Das geht heute größtenteils mit dem Laptop. Vor sechs, sieben Jahren hätte das technisch noch nicht funktioniert. Auf dem neuen Album sind viele Songs genauso, wie sie auf der Reise entstanden sind. Sie wurden nicht mehr nachträglich bearbeitet. Handgepäck muss rumpeln, es muss atmen. SPIEGEL ONLINE: Sie schreiben deutsche Texte. Woher nehmen Sie in fremder Umgebung die Inspiration, sich auf Deutsch auszudrücken? Clueso: Ich habe immer einen Gedichtband dabei. Seit mehr als einem Jahr nehme ich Mascha Kalekos lyrisches Stenogramm mit. Das ist ein Stück Zuhause. Ansonsten bedeutet Schreiben für mich auch wegträumen, loslassen, es fließen lassen. SPIEGEL ONLINE: Wo schreiben Sie denn unterwegs? Clueso: Ich kann mich überall konzentrieren, wenn ich einmal drin bin. Wenn ich allerdings einen Song fertigstellen will, gibt es Momente, in denen ich die Außenwelt von mir fernhalten muss. Das heißt: Klingel abstellen oder einen absolut ruhigen Raum suchen. SPIEGEL ONLINE: Fühlen Sie sich wohl in Hotels? Clueso: Ich kann das sehr genießen, bestelle mir gern Essen, schlafe aus. Im Handgepäck habe ich immer ein Tuch, das ich über Lampen hänge, um stimmungsvolleres Licht zu machen. Es ist mit Feuerspray imprägniert, damit es nicht in Brand gerät. Das habe ich in einer Doku über Keith Richards gesehen. SPIEGEL ONLINE: Der Streuner in mir frisst das letzte Heimweh auf, lautet einer Ihrer Verse. Sie haben kein Heimweh unterwegs? Clueso: Meist ist die Neugier größer als das Heimweh. Am Ende möchte ich oft zwei bis drei Tage länger bleiben. SPIEGEL ONLINE: Und wohin geht es als nächstes? Clueso: "Handgepäck I" ist zwar ein Aufruf zum Reisen, aber jetzt möchte ich am liebsten zwei Wochen zuhause sein, eine Mini-Routine kreieren, einkaufen, kochen, Wäsche waschen, Fahrrad fahren. Manchmal spüre ich eine lustige kleine Sehnsucht, etwas ganz Normales zu machen, täglich ins Büro zu fahren. Aber das würde ich nie im Leben aushalten. Und die Kollegen würden mich auch nicht aushalten. Spiegel Online 19.08.2018

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Little Steven auf Bildungstour. Mit Rockmusik will Steven Van Zandt Kinder zum Lernen bringen. Im Gespräch erklärt er, wie das funktionieren soll - und warum er bei Donald Trump keinen Bedarf sieht, sich politisch einzumischen. Ein Gespräch für Spiegel Online.

©Sabine Stamer

Steven Van Zandt, Jahrgang 1950, ist bekannt aus den Serien „The Sopranos“ und „Lilyhammer“, spielt in Bruce Springsteens E Street Band seit vielen Jahren Gitarre. Sein Musiker-Pseudonym: Little Steven. Sein Markenzeichen: ein Bandana, das eine Kopfverletzung aus Jugendtagen verdeckt. Immer wieder hat sich Van Zandt politisch engagiert. Derzeit ist er mit seiner eigenen Band “The Disciples of Soul” unterwegs.Sie sind mit Ihrer Band auf „Teacher Appreciation Tour“, würdigen damit die Arbeit von Lehrkräften. Wieso? Können Sie sich vorstellen, heutzutage die Aufmerksamkeit der Kids im Klassenraum zu gewinnen? Das ist fast unmöglich. Wir erleben heute eine Kluft zwischen den Generationen, die fast genauso tief ist wie in den Sechzigerjahren. Die alten Lehr- und Lernmethoden wirken nicht mehr. Was haben Sie stattdessen anzubieten? Das ist ganz einfach: Lernen für die Gegenwart. Früher hieß es: Lern etwas, das du später im Leben nutzen kannst. Wir haben ein TeachRock-Programm entwickelt, das Kindern etwas gibt, das sie jetzt sofort nutzen können. Sag ihnen nicht: Nimm die Kopfhörer aus den Ohren. Frag sie lieber, was sie hören. Und dann verfolge die Spur. Alle Jugendlichen haben einen Lieblingssong, und damit gewinnt man sofort ihre Aufmerksamkeit. So verbindet sich Musikunterricht mit Geschichte, Sprache und Sozialwissenschaften. Fragt sich nur, ob Rock die Jugend von heute fesselt. Hören Sie selbst denn beispielsweise Rap? Nein, eher nicht. Ich lebe in einer anderen Welt. Die ersten Rap-Musiker fand ich super, Public Enemy und Ice-T zum Beispiel. Schwarze Musiker nahmen sich in Amerika das Recht, sich künstlerisch auszudrücken. Das war sehr anspruchsvoll. Normalerweise denkt man, eine Sache startet unausgegoren und verfeinert sich im Laufe der Zeit. Aber was den Rap angeht, lief das umgekehrt. Er startete recht ausgefeilt und wurde dann pubertärer und prahlerisch. Greifen Sie Rap trotzdem bei TeachRock auf? Wir schließen alle Musikrichtungen ein. Aber der klassische Rock steht im Mittelpunkt. Wir stellen über 200 verschiedene Unterrichtseinheiten kostenlos zur Verfügung. Wer sich einschreibt, erhält freien Zutritt zu unseren Workshops und Konzerten. Sie wollen mit Ihrer Rock-Schule Werte vermitteln. Welche? Es geht um Arbeitsethik. In jedem von uns steckt etwas Großes, Bedeutendes. Das freizulegen, ist das Ziel meines Lebens. Dazu muss man sein Handwerk lernen und zwar mit Hingabe. Es gibt keine Abkürzung, um das Großartige in uns aufzuspüren. Das gaukeln TV- Shows wie „American Idol“ uns vor: Du trittst da auf und ein paar Wochen später bist du ein Star. Aber so läuft das nicht. Man muss dafür arbeiten, Tag für Tag, Jahr für Jahr, und zwar um der Kunst willen, nicht so sehr für den Erfolg. Sie waren früher politisch sehr aktiv, gründeten mit ihrem Freund Bruce Springsteen und Künstlern wie Bob Dylan eine Initiative gegen Apartheid. Was ist aus Ihrem Engagement geworden? Stimmt, in den Achtzigerjahren war ich sehr aktiv, heute nicht mehr. Die Regierung Ronald Reagans machte damals ihre rechte Politik heimlich hinter den Kulissen. Das mussten wir ans Tageslicht bringen. Bei Donald Trump sehen Sie keinen Bedarf, sich einzumischen? Nein, der prahlt doch sogar mit den ganzen schlimmen Dingen, die er tut. Da gibt es nichts aufzudecken. Er nimmt Tausende Immigrantenkinder ihren Eltern weg und gibt damit an. Aber die Person Trump lenkt nur ab. Das Problem ist die Republikanische Partei, die die Vereinigten Staaten von der Weltbühne zerrt, indem sie Handels- und Umweltabkommen aufkündigt. Die Evangelisten in der Republikanischen Partei sind nur einen Faustschlag entfernt davon wie die Taliban zu sein. Meinen Sie das ernst? Na gut, sie hacken keine Hände ab. Aber der Unterschied ist nicht groß. Sie wollen uns ihre evangelistische Scharia aufzwingen. Die Trennung von Staat und Kirche ist der einzige amerikanische Beitrag zur Gedankenwelt. Es ist ein genialer Gedanke, und sie wollen ihn ausrotten. Und ausgerechnet jetzt schwächt der Brexit auch noch Europa. Das ist eine Katastrophe! In so einer Situation muss Europa stark bleiben. Meinen Sie, Musiker und Künstler können dabei Einfluss nehmen? Die Rockmusik hat nicht mehr wie früher die Fähigkeit zur Massenkommunikation. Aber vielleicht finden wir noch mal einen Weg, eine Botschaft in die Welt zu senden. Jetzt kommt es erstmal darauf an, dass alle, die letztes Mal nicht gewählt haben, im November zu den Halbzeitwahlen gehen, um den Republikanern Einhalt zu gebieten. Spiegel Online 08.08.2018

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©Sabine Stamer

"In Russland fühle ich mich geborgen - und unsicher"

Palina Rojinski kam in St. Petersburg zur Welt, Zur Fußball-WM berichtet sie aus Russland. Mit welchen Gefühlen fährt sie in das Land? Ein Gespräch für Spiegel Online.

Palina Rojinski wurde bekannt durch ihre Schlagfertigkeit als Viva-Moderatorin und als Sidekick von Joko und Klaas in "MTV Home" und "Circus Halligalli". Mit "Got To Dance" gewann sie 2013 den deutschen Fernsehpreis. Geboren 1985 in St. Petersburg, kam sie 1991 mit ihren Eltern nach Berlin. Noch vor ihrem zehnten Lebensjahr wurde sie zweimal deutsche Meisterin in rhythmischer Sportgymnastik. Als DJane legt sie am liebsten Hip-Hop auf. Während der Fußball-WM wird sie für die ARD aus Russland berichten. SPIEGEL ONLINE: Für eine mehrteilige Reportage haben Sie die Spielorte der WM bereist. Wie haben Sie Russland erlebt? Rojinski: Nachdem wir ausgewandert waren, habe ich jedes Jahr meine Großeltern in St. Petersburg besucht. Aber ich war noch nie so lange am Stück in Russland und bin dort noch nie so weit herumgekommen. In Russland fühle ich mich einerseits total geborgen und andererseits total unsicher. Man weiß nie, was einem passiert. SPIEGEL ONLINE: Was könnte denn passieren? Rojinski: Ich weiß es nicht. Vielleicht ist das noch ein Gefühl aus der alten Sowjetunion. Meine Mutter hat immer Theater gemacht bei der Ein- und Ausreise, die Grenzkontrolle versetzte sie jedes Mal in Angst und Schrecken. Man war auch nach 1991 nie sicher, ob man ins Land rein- oder rauskommt, auch wenn man nichts angestellt und alle Dokumente hatte. SPIEGEL ONLINE: Es gibt Repressalien gegen Regierungskritiker und Homosexuelle. Beschäftigt Sie das auch? Der ARD-Dopingexperte Hajo Seppelt hat wegen seiner Berichterstattung zunächst kein Visum bekommen. Rojinski: Natürlich beschäftigt mich das. Und es beschäftigt auch viele Russen. Viele finden zum Beispiel die Diskriminierung von Homosexuellen furchtbar. Und ich habe das Gefühl, dass diese Seite Russlands, die weltoffene tolerante Seite, sehr wenig Raum in der Berichterstattung erhält. Ich glaube, dass es ein Fehler ist, die Russen in einen Topf zu werfen und das Klischee der Rückständigkeit aufrecht zu erhalten. Deswegen finde ich meine Aufgabe, "Land und Leute" zu zeigen, so toll. Ich kann ein Bild von Russland wiedergeben, das viele hier in Deutschland nicht erwarten. Und damit vielleicht einen kleinen Teil dazu beitragen, dass nicht nur in Klischees gedacht wird. SPIEGEL ONLINE: Das Verhältnis zwischen westlichen Staaten und Russland hat sich zuletzt verschlechtert. Machen sich diese politischen Beziehungsstörungen in Ihrem persönlichen Alltag bemerkbar? Rojinski: Ich habe nicht bemerkt, dass sich etwas großartig verändert hätte. Mir selbst hört man nicht an, woher ich stamme, aber meine Eltern sprechen mit russischem Akzent. Als wir damals hier angekommen sind, haben manche uns sofort geholfen und andere haben uns zurückgewiesen. So ist das geblieben. Nach wie vor reagieren die Leute aber eher positiv und neugierig, wenn sie hören, dass ich gebürtige Russin bin. SPIEGEL ONLINE: Fühlen Sie sich noch russisch? Rojinski: Es ist ein Teil von mir, aber ich könnte niemals dort leben. Deutschland ist so ein tolles Land! Ich mag es, dass hier im Vergleich zu Russland Recht und Ordnung herrschen. SPIEGEL ONLINE: Wie meinen Sie das? Rojinski: Hier werden die Dinge effizient und qualitativ hochwertig erledigt. In Russland dauert alles ewig. Wenn dort eine Straße repariert wird, dann so, dass Sie in sechs Monaten wieder kaputt ist und neu gemacht werden muss. Das ist in Deutschland ganz anders. Wobei der Flughafen BER oder Stuttgart 21 haben schon Russlandniveau. SPIEGEL ONLINE: Sie machen eigentlich nicht gerade den Eindruck, als würden Sie unbedingt auf Ordnung pochen. Rojinski: In gewissen Situationen nicht, das stimmt. Wir sind zum Beispiel mit der Transsibirischen Eisenbahn von Samara nach Jekaterinburg gefahren. In den Zügen herrscht inzwischen Alkoholverbot, aber niemand hält sich daran. Jeder schmuggelt Alkohol, zum Teil Selbstgebranntes in Plastikflaschen. Abends wird getauscht, ob Schnaps, Tee oder Würstchen. Da lernt man schnell den ganzen Waggon kennen. Was soll man denn auch sonst tun auf so einer Reise? Wir hatten eine sehr lustige Fahrt. SPIEGEL ONLINE: Gab es Überraschungen auf der Tour durchs Land? Rojinski: Überraschungen eigentlich nicht, aber mir ist unter anderem aufgefallen, dass die Menschen in Russland besser zusammenhalten. Man ist füreinander da, bietet Älteren und Schwangeren selbstverständlich den eigenen Sitzplatz an. Ein russischer Mann nimmt einer Frau die vollen Einkaufstüten ab, hält die Tür auf. SPIEGEL ONLINE: Ist Ihnen so etwas denn wichtig? Sie hören gern Hip-Hop. Die Texte rufen nicht gerade zu guten Manieren auf. Rojinski: Es gibt ja unterschiedlichen Hip-Hop und Rap. Provokation generell ist eigentlich ein tolles Stilmittel. Sie ist nützlich, um auf Missstände aufmerksam zu machen. Aber in vielen Texten wird provoziert, um des Provozierens Willen. Das ist sehr pubertär. SPIEGEL ONLINE: Stichwort Battle-Rap. Seit der Echo-Verleihung an Kollegah und Farid Bang gibt es massive Kritik am Antisemitismus im Rap. Sie wurden christlich-orthodox getauft. Ihr Vater ist jüdisch. Trifft Sie die Debatte persönlich? Rojinski: Ich bin überhaupt nicht religiös und fühle mich auch nicht jüdisch. Tatsächlich ist mir erst letztes Jahr so richtig klargeworden, dass ich in Nazi-Deutschland dran gewesen wäre. Auch meine Schwester, meine Mutter und mein Vater, alle. Die Nazis hätten mich ins KZ gesteckt und dann hätte ich versuchen müssen, in Buchenwald oder Sachsenhausen zu überleben. Das ist echt hart, wegen nichts, ich habe nichts getan, aber ich wäre im KZ gelandet. SPIEGEL ONLINE: Gab es einen Anlass für diese plötzliche Erkenntnis? Rojinski: Wir waren mit der Familie in Amsterdam und haben auch das Anne-Frank-Haus besucht. Diese Erfahrung, auch wenn man dort in Scharen durchgeschleust wird, war sehr intensiv. Da hat es Klick gemacht. Natürlich hatte ich mich auch vorher schon mit der Zeit auseinandergesetzt, aber das war alles eher theoretisch passiert. In Amsterdam kam das geballte Gefühl. Die Stolpersteine schätze ich jetzt noch viel mehr. Wenn ich an einem vorbeigehe, lese ich kurz den Namen und sage: Wir wissen, dass ihr da wart. Ich habe auch schon mal den einen oder anderen geputzt. Es ist wichtig, dass die Menschlichkeit siegt. Spiegel Online 08.06.2018

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Ein Gespräch mit Frederick Lau über Vaterrolle, Männerbild und wie zufrieden er ist mit einem sehr traditionellen Familienmodell. Ein Gespräch für Spiegel Online.

©in "Der Spielmacher"

Fredrick Lau, Jahrgang 1989 und ehemaliger Berliner Judomeister, steht seit Kindertagen vor der Kamera. Für seine Rollen in "Die Welle" und "Victoria" erhielt er jeweils den Deutschen Filmpreis, für seine Darstellung in "Neue Vahr Süd" gab es gleich mehrere Auszeichnungen, etwa den Grimme-Preis. In seinem neuesten Film "Spielmacher" spielt er einen Ex-Fußballer, der in kriminelle Geschäfte verwickelt ist. Mit seiner Frau, der Moderatorin Annika Lau, hat er zwei Kinder, ein und drei Jahre alt. SPIEGEL ONLINE: Sie spielen häufig Männer, die von Machos umgeben ihre sensible Seite zeigen. Ist diese Rolle - Mann mit Gefühl in hartem Milieu - Ihr Ding? Lau: Ich liebe Milieufilme, Rollen, die uns Einblicke geben in Welten, die wir nicht kennen. Privat bin ich natürlich nicht in so einem problematischen Milieu unterwegs. Ich bin Familienvater, wohne ganz gediegen, habe einen kleinen Garten. Ich hatte immer eine Affinität zu fremden Welten, auch abseits vom Film. Davor habe ich keine Angst und möchte auch nicht die Augen verschließen vor dem, was es alles gibt. SPIEGEL ONLINE: Als Jugendlicher haben Sie geweint, wenn Sie beim Judo oder beim Eishockey verloren haben. War Ihnen das peinlich? Lau: Zu verlieren hat mir sehr wehgetan. Mein Vater hat immer gesagt, ich sei ein schlechter Verlierer. Er hat aber auch gesagt, Weinen sei völlig in Ordnung. Mittlerweile kann ich besser damit umgehen, aber ich finde es wichtig, Gefühlen Ausdruck zu verleihen. SPIEGEL ONLINE: Weinen Sie heute noch? Lau: Ich bin nah am Wasser gebaut, auch wenn ich mit meiner Frau auf der Couch sitze und Filme anschaue. Weinen ist wichtig, um etwas herauszulassen und dann neu zu beginnen. Ich habe ein Bild für meinen Sohn gekauft. Darauf steht "Boys don't cry". Das "don't" habe ich durchgestrichen. Es hängt nun über seinem Bett. SPIEGEL ONLINE: Können Sie beim Drehen auf Kommando weinen? Lau: Nein, das geht nicht - schnipp - auf Kommando. Manchmal überlege ich die ganze Nacht, wie ich zu diesem Moment des Auflösens komme. Wenn man sich zu sehr anstrengt, dann klappt es nicht. Ich gehöre nicht zu denen, die sich vorstellen, dass ihr Vater verstorben ist, sondern ich fühle den Moment und die Reaktion der Figuren. Im Schauspiel ist es wichtig, dass die Dinge wirklich in einem vorgehen, dass man sie nicht nur erzählt. SPIEGEL ONLINE: Ist Ihr Vater eine Figur, an der Sie sich orientieren? Lau: Mein Vater war derjenige, der mich immer überall hingefahren hat, zum Sport zum Beispiel. Er war immer für mich da. Er hat mir aber nicht von oben herab den Zeigefinger gezeigt, sondern mich meine eigenen Erfahrungen sammeln lassen. Meine Mutter war immer da, wenn ich nach Hause kam. SPIEGEL ONLINE: Klingt behütet. Möchten Sie es heute zu Hause am liebsten so haben wie früher in Ihrem Elternhaus? Lau: Bei mir zu Hause ist meine Frau die Chefin. Bei jedem harten Mann, den ich kenne, hat zu Hause die Frau die Hosen an. Ob wir draußen in der Welt gut dastehen und als Männer gut funktionieren, hängt auch von unseren Frauen ab. Ich glaube, die meisten Frauen freuen sich darüber, uns den Spielplatz da draußen zu lassen und zu Hause alles unter Kontrolle zu haben. SPIEGEL ONLINE: Ein sehr traditionelles Familienmodell. Lau: Ich bin damit total glücklich, und das ist auch richtig so. Ich bin vielleicht ein bisschen... konservativ würde ich jetzt nicht sagen, ich bringe auch die Kids zum Kindergarten. Aber meine Frau ist einfach die bessere Köchin; beim Tragen von schweren Sachen bin ich dagegen im Vorteil. Ich bin auch eher derjenige, der den Kindern gegenüber mal ein Machtwort spricht. SPIEGEL ONLINE: Sehen Sie sich als Vater gleichberechtigt und gleichverpflichtet neben der Mutter - etwa bei der Hausarbeit? Lau: Ich finde, die Mama ist die Mama und der Vater ist der Vater. So bin ich aufgewachsen. Im Haushalt bin ich ein bisschen fauler als meine Frau. Sie hat eher den Überblick und sie hält mir bewusst den Rücken frei, wie ein Regisseur. Sie sagt: Ich schaffe dir ein Umfeld, in dem du optimal arbeiten und dich ausleben kannst. SPIEGEL ONLINE: Erstaunlich konservativ. Lau: Ja, aber so ist das. Ich bin halt ein Arbeitstier. Und dann lagen da wunderschöne Rollen auf dem Tisch, die ich einfach nicht ablehnen konnte. Jetzt arbeitet meine Frau auch wieder. Und ich möchte genau die gleiche Rolle für sie einnehmen, ihr ein gutes Umfeld schaffen. Meine Frau traut mir aber nicht immer zu, dass ich das hinkriege. In ihrem Kopf spielt sich wahrscheinlich ein Horrorszenario ab, wenn sie mich mit den Kindern allein lässt. SPIEGEL ONLINE: Wie sehen Sie die #MeToo-Diskussion? Lau: Ich war schon immer gegen protzige Männer, die anderen - egal ob Mann oder Frau - von oben herab begegnen. Ich bin gern mit Menschen zusammen, die mit anderen Menschen gut umgehen. Meiner Erfahrung nach haben Schauspielerinnen viel mehr Selbstzweifel als Männer. Damit sind sie prädestiniert dafür, von überheblichen Menschen geschädigt zu werden. Natürlich ist das Machtmissbrauch. SPIEGEL ONLINE: Erleben Sie Belästigungen am Set? Lau: Ich erlebe etwas Positives: Praktikantinnen kommen häufig als kleine Mäuschen und treffen am Set auf eine Crew, zu der auch Macker gehören. Am Ende des Drehs wissen auch die Praktikantinnen, dass man ab und zu mal sagen muss: Halt deine Klappe und geh jetzt weiter. Das ist eine positive Entwicklung. Außerdem finde ich, wenn man merkt, dass jemand sich nicht traut, sich zu wehren, dann sollten die Stärkeren eingreifen. Man muss sich einmischen. ________________________________________ Der Film "Spielmacher" mit Frederick Lau in einer Hauptrolle kommt am Donnerstag, 12. April 2018, in die Kinos. Spiegel Online 12.04.2018

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© NDR/Banana Tree Film/Daniela Incoronato

Bloß keine Integrationsfilme

Vom Rapper und Bauarbeiter zum Schauspieler: Murathan Muslus Karriere ist ungewöhnlich. Als Wiener mit türkischen Wurzeln hat er seinen eigenen Blick auf die Frage nach der Herkunft - und den Begriff Integration. Ein Gespräch für Spiegel Online

Murathan Muslu, Jahrgang 1981, ist ein mehrfach ausgezeichneter Schauspieler. Für eine seiner ersten Rollen ("Risse im Beton", 2014) erhielt Muslu Preise als bester Darsteller. Zuvor hatte er sich als Rapper Aqil mit der Band Sua Kaan einen Namen gemacht. Muslu wuchs als Sohn türkischer Eltern in Wien auf, wechselte häufig die Schule und arbeitete schließlich als Installateurshelfer auf dem Bau. Im Film "Das deutsche Kind" spielt er einen angehenden Imam, der mit seiner Frau nach dem Tod einer Freundin deren kleine Tochter bei sich aufnimmt. Murathan Muslu, ein sanfter Kerl mit durchtrainiertem bulligen Körper und charmantem Wiener Tonfall, wird wortkarg, wenn er auf seine Kindheit und Jugend in Ottakring angesprochen wird. In diesem Wiener Bezirk mit hohem Migrantenanteil und teilweise offenem Drogenhandel ist Muslu geboren und aufgewachsen. Die abgebrochenen Schneidezähne hat er allerdings keiner Rauferei zu verdanken, sondern einer zu schnellen Rutschpartie im Schwimmbad. Die Zahnlücke mag etwas seltsam wirken für seine Rolle als Staatsanwalt in der Serie "Schnell ermittelt", aber Regie und Maskenbildner hat es nicht gestört. Seine Gagen für Fernsehfilme und Serien würden es ihm inzwischen erlauben, in ein nobleres Viertel zu ziehen. Aber er bleibt in einer Ottakringer Wohnung. Muslus Eltern sind aus der Türkei eingewandert. Aber das sei nicht wichtig, meint er, sie könnten genausogut aus Haiti, Island, aus Österreich oder Deutschland stammen. "Ich finde, es ist vollkommen egal, woher jemand kommt in so einer komplexen und meist traurigen Welt, wo so viel Dummes passiert. Wir sollten uns nicht so viele Gedanken über die Herkunft machen." Auch deshalb möchte Muslu am liebsten gar nicht über das Aufeinanderprallen von Ethnien und Kulturen sprechen, er meidet das Wort Integration. "Man muss echt aufpassen mit solchen Wörtern, denn am Ende lautet die Schlagzeile: Integrationsfilm. Und damit lenkt man die Leute in eine bestimmte Richtung. Man sollte auf die menschlichen Konflikte achten." Am liebsten würde Muslu auch den Begriff "Land" nicht mehr benutzen, sondern von "Regionen auf unserem Planeten" sprechen. "Das ist naives Denken, ich weiß, so wird es nie werden, aber ich halte es für wünschenswert." Aber prägen Herkunft und Milieu einen Menschen nicht? Doch, findet Muslu, man solle die unterschiedlichen Kulturen auch pflegen, dabei aber keine Grenzen ziehen. "Das ist wohl einer meiner größten Schätze, dass ich diese künstlichen Trennungen nie an mich herangelassen habe." Sobald er das tue, fühle er sich marginalisiert. Künstliche Trennungen hat er, der Ottakringer Junge, selbst erlebt. Ging er früher in ein türkisches Kaffeehaus, spürte er sofort, wie die anderen sich fragten, ob er ein Bulle sei. Unter Österreichern wiederum fühlte er sich als Türke. "Von klein auf habe ich eine Abneigung gegen diese Außenseiterrolle, obwohl sie mir auch einen positiven Gedanken mitgegeben hat: Cool, ich bin etwas Einzigartiges." Wer weiß schon, wie lange der Erfolg anhält? Ziemlich einzigartig verlief auch seine Karriere, wild und ungeplant. Als 15-Jähriger gründete er als Aqil - sein Rapper-Name - mit anderen die Hip-Hop-Band Sua Kaan, die sich im Laufe der Jahre professionalisierte und 2007 mit "Balkanaken" das bis dahin meistgesehene Rap-Video Österreichs produzierte. Konservative Politiker warfen ihnen Aufruf zum Straßenkampf vor. Doch Muslu betont, es sei ihnen nie um Drohungen gegen Einheimische gegangen, sondern um einen schonungslosen Blick auf den Zustand im Bezirk. Durch die gemeinsame Arbeit an Musikvideos mit dem Regisseur Umut Dag fand Muslu seinen Weg in die Filmbranche. Eine Schauspielausbildung hat er nicht absolviert. Will er auch nicht. Die intensive Beschäftigung mit den Figuren ist seine Art der Vorbereitung. Wenn er ein Drehbuch liest, dann interessiert ihn nicht, ob die Figuren Mahmut oder Christian heißen. "Ich sehe nur die zwischenmenschlichen Probleme und beachte beim Lesen nicht, woher jemand kommt." Bei vielen Rollen spielte Muslus Herkunft aber doch eine Rolle - oft musste er den Südländer spielen. Inzwischen erhält er auch Rollenangebote jenseits des Klischees. Ein Zeichen, dass er zum Film-Establishment gehört? Nein, findet er. Wer weiß schon, wie lange der Erfolg anhält, wie lange noch neue Angebote kommen? "Ich hab's im Fußball nicht geschafft, ich hab's in der Musik nicht geschafft und im Film habe ich es auch noch lange nicht geschafft." Was, wenn es nicht mehr klappt? Vielleicht müsste er dann wieder auf dem Bau arbeiten, wie er es jahrelang gemacht hat. Momentan ist er jedoch weit davon entfernt. Wie erklärt er sich seinen heutigen Erfolg? "Ich habe einfach Glück gehabt. Kismet würden wir sagen." Kismet, das unabwendbare Schicksal. Spiegel Online 04.04.2018

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Schauspielerin Maren Kroymann über Senioren-Avantgarde im Fernsehen, die Vorteile eines späten Karrierestarts und #MeToo. Ein Gespräch für Spiegel Online

©Mirjam Knickriem

Die Kabarettistin Maren Kroymann, Jahrgang 1949, wurde in den Neunzigerjahren durch ihre Satiresendung "Nachtschwester Kroymann" bekannt. Als Schauspielerin ist sie regelmäßig im Fernsehen zu sehen, vor zwei Jahren auch in der Kino-Literaturverfilmung "Mängelexemplar". Seit einem Jahr läuft in der ARD ihre neue Satiresendung "Kroymann". Dafür wird sie Mitte April mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. SPIEGEL ONLINE: Sie bekommen den Grimme-Preis für Ihre Sendung "Kroymann". Was bedeutet dieser Preis für Sie? Kroymann: Ich empfinde ihn als eine großartige Anerkennung. Er ist ein Zeichen dafür, dass die Arbeit meines Teams bei "Kroymann" heute mehr gewürdigt wird als meine Sendung "Nachtschwester Kroymann" vor zwanzig Jahren. Die Sendung damals war auch schon anarchisch, politisch inkorrekt und enthielt Ideen, die kein anderer sonst hatte. Man hat das Avantgardistische nicht gesehen, obwohl ich eine Pionierin war. Jetzt ist es soweit, dass so eine Art Sendung auch auf offizieller Ebene gut gefunden wird. Dafür bin ich total dankbar. SPIEGEL ONLINE: Avantgardistisch erscheint heute, dass Sie mit 68 Jahren eine eigene Sendung machen dürfen. Kroymann: Total antizyklisch! Eigentlich wäre ich jetzt Rentnerin. Ich bin alt, ich habe keine Familie, keine Kinder. Davor hatten früher alle Angst. Nun sehe ich an mir selbst, was man in diesem Alter alles machen kann. Es ist die vielleicht beste Phase meines Lebens. Ich habe mich noch nie getraut, mich selbst so rückhaltlos in den Mittelpunkt meines Lebens zu stellen. SPIEGEL ONLINE: Hadern Sie wirklich nicht mit Ihrem Alter oder gesundheitlichen Einschränkungen? Kroymann: Ich sage nicht, dass ich nicht unter den Zipperlein leide. Ich merke die Knie, vielleicht kann ich nie wieder joggen. Ich brauche mehr Zeit zum Auswendiglernen. Aber ich bin mir selbst noch nie so nah gewesen. SPIEGEL ONLINE: Programmverantwortliche haben Ihnen die Sendung "Kroymann" gegeben, obwohl das für Frauen über 40 eher selten ist. Sind ältere Frauen im Fernsehen also wieder salonfähig? Kroymann: Das würde ich noch nicht im Plural sagen. Ich empfinde es als Privileg, dass ich diese Sendung machen darf, gerade weil Schauspielerinnen eher in einer Art Alterslosigkeit verharren und versuchen, so lange wie möglich jung zu erscheinen. Die Sendung ist ein Glücksfall! Der Druck ist weg, auch der Druck, Weiblichkeitsvorgaben zu entsprechen. SPIEGEL ONLINE: Bei Ihnen oder beim Sender? Kroymann: Bei mir. Ich empfinde nicht mehr den Druck, mich auf Fotos und dem roten Teppich in Szene zu setzen. Ich muss nicht mehr bühnenschön sein. Es zählt, dass ich schlau bin, Dinge begreife und dass ich Urteilsfähigkeit habe. SPIEGEL ONLINE: Schauspielerinnen beschweren sich, nach ihrem 40. Geburtstag erhielten sie nur noch Rollenangebote als Großmutter oder als Hexe. Kroymann: Ich finde, Hexe ist eine attraktive Rolle. Das Böse ist differenzierter, lässt mehr Facetten zu als die junge Naive mit dem Busen. Eine Hexe hat Macht. SPIEGEL ONLINE: Wird das Problem auch durch die Sichtweise Ihrer Kolleginnen geschaffen? Kroymann: Ich selbst bin erst mit 37 in die Branche gekommen, ich war nie die jugendliche Schönheit. Es hat Vorteile, wenn man seine Karriere gar nicht darauf aufgebaut hat. SPIEGEL ONLINE: Russell Crowe hat mal behauptet, die Beschwerden kämen nur von Kolleginnen, die mit über 40 noch die 21-jährige Unschuld spielen wollten. Kroymann: Das finde ich krass, es klingt frauenfeindlich. Der Schönheitswahn in Hollywood ist noch von ganz anderem Kaliber. Aber auch hier in Deutschland entsteht im Kolleginnenkreis eine Art Panik und sehr viele lassen sich bearbeiten, weil sie denken, noch länger die Liebhaberin spielen zu können. Dieser Gedanke wird genährt von Casterinnen, Agentinnen, manchmal von Maskenbildnerinnen, die sagen: Deine Lippenfalten - ich wüsste schon, was du machen könntest. Ich habe gehört, wie ein bedeutender Kameramann sich über nicht geliftete Frauen empörte, die erwarten, dass man schönes Licht für sie macht. Sie sollten sich doch bitte liften lassen und nicht die Arbeit aufhalten. Von solchen Haltungen sind wir umgeben. Da ist es falsch zu sagen, die Frauen lassen sich ja darauf ein. SPIEGEL ONLINE: Werden diese Schönheitseingriffe honoriert? Bekommen Schauspielerinnen danach bessere Rollen? Kroymann: Bestimmte Rollen ja. Ich bin Mitte 60, also jenseits von Gut und Böse. Zwanzig Jahre nach meinem Coming-out als lesbische Frau darf ich wieder sexy sein und sexy Momente spielen. Wahrscheinlich weil es in meinem Alter keine Bedrohung mehr darstellt. SPIEGEL ONLINE: Berührt Sie die #MeToo-Debatte? Kroymann: Als lesbische Feministin bin ich nicht das bevorzugte Ziel von Heteromachos. Aber ich habe mitbekommen, wie aus Flirt Aggression wird. Ich kriege mit, wie am Set körperliche Kontakte laufen, da bleibt zum Beispiel bei der Begrüßung der Maskenbildnerin die Hand ein bisschen länger liegen. SPIEGEL ONLINE: Hat sich in der Branche etwas geändert? Kroymann: Es läuft nicht mehr so plump ab. Aber es ist nicht vorbei. Um etwas dagegen sagen zu können, braucht es eine gewisse Reife. Dazu gehört eine Gesellschaft, die anerkennt, dass es sich um Übergriffe handelt. Bisher wurde gesagt: Es ist doch ein Kompliment, wenn der dich anfasst. Sei froh! Solange eine Frau solche Kommentare hört, wehrt sie sich nicht öffentlich. SPIEGEL ONLINE: Warum hält sich die Struktur so lange? Kroymann: Die Hollywood-Schauspielerinnen haben innerhalb einer Woche mehrere Millionen Dollar gesammelt, um Rechtsbeistand für betroffene Frauen zu finanzieren. Bei uns hat sich kaum eine der wirklich berühmten Frauen geäußert. Vielleicht weil sie wissen, dass Frauen im Zweifelsfall von den angeklagten Männern mitunter profitiert haben. Ich finde, zu einer Aufarbeitung dieser Sache gehört auch, dass Frauen zugeben, davon profitiert zu haben. Ich habe das am Theater mitgekriegt, wie ein Regisseur eine Frau, auf die er eigentlich scharf war, besonders fertiggemacht hat. Dann hat er unter körperlichem Einsatz ihr Ego wieder aufgebaut. Und am Schluss waren sie ein Ehepaar. Die Frau würde sich nicht beschweren, sie hat den Mann hinterher geheiratet, aber der Vorgang war schrecklich. SPIEGEL ONLINE: Aber es gibt einen Unterschied zwischen Liebesverhältnissen und Flirts auf der einen Seite und Belästigung oder gar Missbrauch auf der anderen. Kroymann: Am Theater oder beim Drehen kommt man sich sehr nah, es muss keine Liebesszene sein. Du hast eine Intensität, du musst dich öffnen, so eine Situation ist wie gemacht für Übergriffe. Du musst selbst jeden Moment entscheiden: Bin ich das? Ist das die Rolle? Und natürlich verliebt man sich mal oder flirtet. Aber man sollte nicht flirten müssen, um eine Rolle zu kriegen oder mit dem Regisseur gut auszukommen. Frauen gehören in Machtpositionen! Das schafft dann auch ein anderes Klima. Spiegel Online 31.03.2018

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Aussteigerin auf Zeit

Seit sie zehn Jahre alt ist, steht Maria Ehrich regelmäßig vor der Kamera. Demnächst zu sehen in "Ku'damm 59". Jetzt geht die Schauspielerin mit ihrem Freund auf große Reise. Ein Gespräch für Spiegel Online.

© Manuel Vering

Sie hatte sich alles ganz anders und einfacher vorgestellt, als sie Mitte Januar sehr früh am Morgen ins Flugzeug nach Nairobi stieg, noch mit rosaroter Brille auf der Nase und dem Bewusstsein, alles würde sich fügen und toll werden. Und nun, um einige Erfahrungen reicher, bleibt da neben der Erinnerung an majestätische Wüstentiere, idealistische Menschen und bezaubernde Natur auch ein unangenehmer Nachgeschmack. "Leaving the Frame" nennt die 25-jährige Schauspielerin Maria Ehrich ihr Reiseprojekt, das sie innerhalb von vier Monaten durch vier Länder führen soll. Gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten, dem Journalisten Manuel Vering, hat sie ihr gewohntes Leben verlassen, um Erfahrungen zu sammeln und einen Film zu drehen, ausgestattet mit zwei handlichen Kameras, Laptops und einer Kameradrohne. Auf diversen Social-Media-Plattformen und einer eigenen Website nimmt sie ihre Fans und Freunde mit nach Kenia, Hawaii, Mexiko und dann vielleicht nach Norwegen. Bisher blieb ihr nicht viel Zeit zum Reisen, steht sie doch seit ihrem zehnten Lebensjahr regelmäßig vor der Kamera. Nein, die Eltern sind keine Schauspieler, aber die Mutter nah dran am Gewerbe. Sie arbeitet in einem Kostümverleih, ihr Vater betreibt eine Diskothek in Gebesee, einem kleinen Ort bei Erfurt. "Bis ich zwölf war, bin ich oft von den Bässen aufgewacht. Dann sind wir umgezogen." Irgendwann las die Mutter einen Aufruf in der Regionalzeitung: Kinder-Schauspieler gesucht. Maria wurde zu drei Castings eingeladen und bekam mit zehn ihre erste Hauptrolle in einem Kinofilm. Von da an stand sie vor der Kamera, machte ihr Abitur nebenbei. Montags bis Freitags drehen, Samstags lernen, Sonntags Prüfungen nachschreiben. "Zu viel Party gefeiert?" fragte der Regisseur Montagmorgen am Set, um eine Erklärung für die dunklen Augenringe zu bekommen. Nein, sie hat lange gelernt. "Es war also gar nicht so Rock 'n' Roll, wie man sich das vorstellt", sagt Ehrich. Jetzt also das große Reiseprojekt, das aus der Filmwelt hinausführen soll. "In Afrika hat sich mein Horizont im Sekundentakt erweitert", sagt Ehrich. Sie wollten nicht einfach Touristen sein, sondern den Menschen vor Ort nahe kommen: Schlafen im Baumhaus unterm Sternenhimmel in dem Bewusstsein, dass hin und wieder auch Leoparden leise in die Wipfel klettern. Eine Fischvergiftung durch verdorbene Shrimps. Das waren keineswegs die größten Herausforderungen: "Es war ganz anders, als ich es mir vorgestellt habe", sagt Ehrich. Denn im Grunde ging es bei ihrer ersten Reiseetappe immer nur ums Geld. Dass die Drohne schon beim Dreh des Trailers in Südtirol geschrottet wurde, haben Ehrich und Vering nicht als schlechtes Omen verstanden. "Die Drohne hat Sensoren, damit sie nirgendwo gegenfliegt, aber leider nur vorne..." Maria Ehrich rollt mit den Augen. "Wir haben unsere Drohne rückwärts fliegen lassen - in eine Baumgruppe. Es klang wie ein Rasenmäher. Die Äste waren klein gehäckselt und die Drohne mehr oder weniger auch." Eine neue fliegende Kamera wurde angeschafft. Doch in den kenianischen Nationalparks gilt Drohnenverbot. Das konnten die beiden nachvollziehen, aber: "Das kenianische Hakuna Matata mussten wir erst verstehen lernen. Erst scheint alles immer total easy, kein Problem, heißt es, aber am Ende erweist sich vieles doch schwieriger als gedacht. Trotz unserer kleinen Ausstattung brauchten wir für alles eine Genehmigung und mussten viele Gebühren zahlen." Das waren schon die ersten Anzeichen eines Kultur-Clashs, der die Ursache für eine ganze Reihe von Enttäuschungen wurde. Nach wie vor klafft in der kenianischen Gesellschaft ein tiefer Graben zwischen Schwarz und Weiß. "Wir hätten gerne einen guten Mix gehabt und uns gewünscht, mehr am Alltagsleben teilhaben zu können. Das war leider nur selten möglich," bedauert Maria Ehrich. Zugang zur Welt der Weißen haben sie gefunden, aber "eine gute Nähe zu dunkelhäutigen Kenianern ist nur selten entstanden". Eingezäunte Wohnanlagen, die sie nachts nicht verlassen durften - so hatten sie sich "Leaving the Frame" nicht vorgestellt. Doch Ausbruchsversuche sind zum Scheitern verurteilt gewesen. Einmal haben sie ihren Fahrer gefragt: "Du James, wir würden gerne eine Nacht eine einfache Unterkunft haben, keine teure Lodge, einfach nur ein Bett. Können wir dort schlafen, wo du schläfst?" James war gar nicht begeistert und bestand darauf, die Gäste in einem "europäischen" Hotel abzuliefern. "Dass wir anders behandelt wurden, war mir unangenehm", sagt Ehrich. Dann das erste Interview. Maria Ehrich in einer neuen Rolle, nicht als Schauspielerin, sondern als Fragende. Sie besuchten Unity, ein Frauendorf, bewohnt von Frauen, die Misshandlungen, Vergewaltigungen und der Tyrannei ihrer Männer entkommen sind. Ehrich und Vering wollten dokumentieren, was diese Frauen Großartiges geleistet haben. Sie kamen mit besten Absichten, wollten Authentizität. Die Frauen wollten etwas ganz anderes, nämlich Geld. Und zwar mehr Geld, als sie normalerweise für eine touristische Führung durch ihr Dorf verlangen. Das hatten die beiden nun davon, dass sie mehr sein wollen als normale Touristen. Ehrich und Vering sind nicht arm, aber sie sind jung und haben kein unbegrenztes Budget für ihr Weltreise-Projekt - und vor allem glauben sie nicht, dass man Echtheit kaufen kann. Auf die Tänze zum Beispiel, die die Frauen den Besuchern des Dorfes gegen Bezahlung vorführen, wollte Ehrich lieber verzichten. "Wir wollen diese Tänze nur sehen, wenn die Frauen wirklich Lust darauf haben", ließ sie den Guide wissen. "Wir möchten, dass es authentisch ist, weil wir unsere Geschichte auf eine hintergründige Art erzählen wollen." Ideelles gegen Materielles. Die Rechnung ging nicht auf. Die Frauen seien abwehrend und zugeknöpft geblieben, erzählt Ehrich. Sie saß in Unity auf einer Pappe am Boden, vor ihr thronte, so empfand es die Schauspielerin zumindest in dem Moment, die Sprecherin des Dorfes auf einem schäbigen Eimer und wollte nur eines: mehr Geld! "Mit jeder Geste und jeder Miene gab sie mir zu verstehen: Du bist hier nicht willkommen." Das Ganze war ein riesiges kulturelles Missverständnis - und das hat Ehrich sehr mitgenommen, wie auf dem Film ihres Freundes zu sehen ist. Kenia zu verstehen, ist für Europäer nicht gerade leicht. Trotzdem, andere Reisende oder Journalisten machen durchaus positivere Erfahrungen. Woran lag es, an der Einstellung? "Ich war nicht gut vorbereitet, habe das alles zu sehr auf die leichte Schulter genommen", erklärt die 25-Jährige. Nach dem Besuch in dem Frauendorf sei klar gewesen: "Diese Menschen wohnen hier und wir wollen etwas von ihnen. Das heißt, wir müssen unsere Herangehensweise ändern." Seither nehmen sie sich mehr Zeit vor Ort, um das Vertrauen ihrer Interviewpartner zu gewinnen. Und so waren die folgenden Besuche bei Menschen, die sich für Elefantenwaisen, aussterbende Schildkröten und bedrohte Raubvögel einsetzen, erfolgreicher. Doch auch hier begleitete sie der Widerspruch: Während erlebnishungrige Touristen die Refugien gefährdeter Tierarten stören, helfen sie gleichzeitig, den Artenschutz zu finanzieren. Ein Widerspruch, der vielen Reisen in ärmere Länder innewohnt. Es ist oft eine Gratwanderung zwischen europäischem Ideal und der Wirklichkeit vor Ort. Das alles erzählte Maria Ehrich in Berlin auf einem kurzen Zwischenstopp zur Berlinale. "Schon komisch, gerade noch bei den Schildkröten in Watamu und jetzt mit dem Champagnerglas durch die Kinowelt." Inzwischen sind die Schauspielerin und ihr Freund in Hawaii, im Gepäck ihre Ukulele, die helfen soll, die Herzen der Hawaiianer zu gewinnen. Zur Person Maria Ehrich, Jahrgang 1993, drehte ihren ersten Film mit zehn Jahren. Seither steht sie regelmäßig vor der Kamera, unter anderem für "Die Frau vom Checkpoint Charlie". 2013 erhielt sie den New Faces Award für ihre Darstellung der jungen Alma Schadt in "Das Adlon". Ab 18. März ist sie im ZDF-Dreiteiler "Ku'Damm 59" zu sehen. Spiegel Online 03.03.2018

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Wie dreht man in Teheran eine Liebeskomödie?
Ein Gespräch für Spiegel Online.

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Filmproduzent Ivo-Alexander Beck, 53, ist Gesellschafter der Ninety-Minute-Film GmbH und leitet die Bavaria Berlin. Der gebürtige Berliner studierte Germanistik, Kunst- und Theaterwissenschaft in Jena und Berlin, arbeitete für verschiedene Produktionsfirmen sowie für Sat.1. Seine Komödie "Barfuß bis zum Hals" wurde 2010 mit dem Deutschen Comedypreis ausgezeichnet. Oft dreht er Genre-Filme zu schwierigen gesellschaftlichen Themen. 2011 lief sein Fernsehfilm "Restrisiko" zu einem Unfall in einem Atomkraftwerk, 2015 das engagierte, kompromisslose Drama "Die Ungehorsame" über häusliche Gewalt. 2017 drehte er in Iran den Film "Grüß Gott, Persien". SPIEGEL ONLINE: Haben Sie während der Dreharbeiten etwas von der explosiven Stimmung gespürt? Beck: Ich war bestürzt über die Plötzlichkeit dieser Proteste. Diese Empörung war während der Dreharbeiten nicht mal in Ansätzen zu spüren. Allerdings haben wir uns im Iran in einer Blase bewegt, unter Filmschaffenden. In unserem Film geht es auch nicht um die Arbeiterklasse, sondern um eine privilegierte Schicht. Was ich bemerkt habe, ist eine weit verbreitete große Unzufriedenheit unter jungen Leuten. Insbesondere junge Frauen haben geklagt: Sie werden ausgebildet, studieren und haben dann auf dem Arbeitsmarkt kaum Aussichten, sich zu entwickeln. Genau darum geht es auch in unserem Film, und das durften wir ohne Probleme thematisieren. SPIEGEL ONLINE: Haben die Menschen offen mit Ihnen gesprochen? Beck: Ja. Ich bin in der DDR sozialisiert worden und hatte den Eindruck, dass es sehr viele Parallelen zwischen Iran und der DDR gibt. Im privaten Kreis äußert man sich sehr klar, aber außerhalb dieses Raums vertritt man entweder eine andere oder gar keine Meinung. SPIEGEL ONLINE: Hatten die Menschen keine Angst, mit Ihnen als Außenstehendem darüber zu sprechen? Beck: Nein, hatten sie nicht. Das sind natürlich vertrauliche Gespräche gewesen, jeder ging davon aus, dass man das nicht an die große Glocke hängt. Man darf sich die iranische Gesellschaft nicht nur repressiv vorstellen. Innerhalb bestimmter Grenzen sind sehr viele Dinge möglich. Das war zumindest mein Eindruck. SPIEGEL ONLINE: Wurden Ihre Begegnungen mit Iranern behindert oder kontrolliert? Beck: Nein, ich habe während der gesamten Zeit keinerlei Behinderungen feststellen können. SPIEGEL ONLINE: Haben Sie aktuell Kontakt zu Iranern, die Sie dort kennengelernt haben? Beck: Ja, sie berichten, im Norden Teherans sei es sehr ruhig. Die Proteste in der Stadt konzentrieren sich auf den Süden. Teheran ist eine gespaltene Stadt. Im Norden wohnt eher die Mittel- und Oberschicht, im Süden Menschen, die weniger verdienen und denen es nicht so gut geht. Das hat auch mit klimatischen Bedingungen zu tun. Die Temperaturunterschiede innerhalb der Stadt sind enorm, was wohl mit den extremen Höhenunterschieden zusammenhängt. Während wir im höher gelegenen Norden Teherans 25 bis 28 Grad hatten, herrschten im Süden zur selben Zeit 33 Grad. Iranische Kollegen, mit denen ich telefoniert habe, haben von den Unruhen relativ wenig mitbekommen, denn die Proteste gehen wohl von Menschen aus, die von Armut und hoher Arbeitslosigkeit betroffen sind. SPIEGEL ONLINE: Die Dreherlaubnis haben Sie innerhalb weniger Monate erhalten. Wie erklären Sie sich die schnelle Genehmigung? Beck: Das war erstaunlich. Auch die Deutsche Botschaft in Teheran war verblüfft, dass wir das so hinbekommen haben. Die Drehgenehmigung hängt deshalb noch bei mir an der Wand. Wir haben unser Projekt mit Siamak Poursharif, dem Leiter des Deutsch-Iranischen Filmfestivals in Köln, besprochen und dann mit ihm den iranischen Botschafter in Berlin, Ali Majedi, besucht. Er war dem Projekt gegenüber von Anfang an sehr aufgeschlossen und hat sofort begriffen, dass solch ein Film gut sein kann für die iranisch-deutschen Beziehungen. Außerdem denke ich, dass es nach dem Abschluss des Atom-Deals eine grundsätzliche Bereitschaft für eine filmische Zusammenarbeit gab. SPIEGEL ONLINE: Wurden Sie bei den Dreharbeiten eingeschränkt? Beck: Nein. Allerdings gab es drei, vier Szenen, darunter eine Partyszene, die man in Iran so nicht drehen darf. Das war von vornherein klar. Die haben wir später in München nachgedreht mit Komparsen aus dem Iran und der Türkei. Auch dürfen sich Frauen und Männer in einem Film in Iran nicht körperlich berühren. Deshalb mussten wir eine Liebesszene, eine Schlüsselszene, in Deutschland drehen. SPIEGEL ONLINE: Schwierig für eine Liebeskomödie. Beck: Stimmt, aber gute Liebeskomödien hören ja immer dann auf, wenn die Liebe besiegelt ist. Den Alltag zeigen diese Filme nicht, sondern den Weg dorthin. Darum geht es auch in unserem Film, um zwei Menschen, die sich eigentlich unsympathisch sind und sich gegen ihren Willen ineinander verlieben. SPIEGEL ONLINE: Der Film soll in Iran gezeigt werden. Werden diese Szenen dann entfernt? Beck: Für eine der Liebesszenen haben wir eine Alternative gedreht. Da kommen sich die beiden körperlich nicht nahe. Aber der Inhalt des Dialoges bleibt vollständig gleich. Die Partyszene wird in Iran nicht zu sehen sein. SPIEGEL ONLINE: Geben Sie damit nicht den Religionsdiktatoren zu sehr nach? Beck: Wir haben darüber offen diskutiert. Uns war wichtig, dass der Kern des Films erhalten bleibt, dass wir uns dialogisch nicht beschneiden müssen. Wir zeigen zum Beispiel eine Kontrolle durch die Religionspolizei, die Festnahme des Hauptdarstellers, der nach der Party betrunken aufgegriffen wird. Das durften wir drehen und zeigen. Und war wichtig, dass wir mit diesen Dreharbeiten eine Tür geöffnet haben. SPIEGEL ONLINE: Könnte es sein, dass sich solche Türen angesichts der aktuellen Proteste wieder schließen? Beck: Das ist schwer einzuschätzen. Ich habe mit iranischen Kollegen in den letzten Tagen darüber gesprochen, und sie haben mir versichert, dass diese Türen nicht zugehen werden, weil bestimmte Prozesse aus ihrer Sicht nicht mehr umkehrbar sind. Die iranische Gesellschaft wird sich mehr öffnen, davon bin ich zutiefst überzeugt. Dass wir diese Dreharbeiten dort durchführen konnten, ist ja ein Zeichen. Der Deckel muss vom Topf, um mehr Freiheit zu ermöglichen, gerade für junge Leute. Die dauerhafte Kontrolle und Bevormundung hat in der DDR nicht funktioniert, und sie wird am Ende auch in Iran nicht funktionieren, zumal es heute das Internet gibt. Alle Leute, die ich kennengelernt habe, sind sehr gut informiert. Sie sind alle untereinander vernetzt, greifen über VPN-Server auf jede Website dieser Welt zu. Der Deckel ist schon längst angehoben. http://www.spiegel.de/kultur/tv/gruess-gott-persien-in-iran-eine-liebesk... Spiegel Online 07.01.2018

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Ken und Barbara Follett

Der Bestseller Autor & die Labour-Politikerin zur Sexismusdebatte. Ein Gespräch für Spiegel Online.

Ken Follett, Jahrgang 1949, arbeitete zunächst als Journalist, ehe er sich der Schriftstellerei zuwandte. 1989 erzielte er mit "Die Säulen der Erde" seinen Durchbruch. Derzeit ist Follett einer der erfolgreichsten Autoren überhaupt. Er hat weltweit 160 Millionen Bücher verkauft, seine Bestseller wurden in 33 Sprachen übersetzt. Seit 1985 ist er mit Barbara Follett verheiratet, die über viele Jahre Labour-Abgeordnete im britischen Parlament war und mehrere Regierungsposten innehatte. Er muss unterbewusst geahnt haben, dass das Thema Sexismus zum Erscheinungstermin seines Romans in aller Munde sein würde. Ken Follett plant seine Geschichten minutiös. Da ist eigentlich kein Raum für Zufälle. Und doch gibt es in seinem neuen Buch "Das Fundament der Ewigkeit", das vor allem das Thema Glaubensfreiheit behandelt, eine Szene, die so wunderbar in die aktuelle Debatte passt, als hätte er sie darauf hingeschrieben. Wenn der 68-Jährige sich ans Werk begibt, am liebsten in einer seiner Bibliotheken, dann sind die Fakten recherchiert, die Charaktere geformt, die Handlungen durchdacht. Da sitzt dann kein an sich selbst verzweifelndes Genie, sondern ein solider, entspannter Schriftsteller, der sein Handwerk beherrscht. Ob er Angst vor Schreibhemmungen habe, wurde er einmal gefragt und hat lachend abgewunken, dann schaue er eben auf seine Kontoauszüge. Fürs Geschäftliche ist ansonsten Barbara zuständig, seine Frau seit mehr als 30 Jahren. Als CEO des Follett-Büros kümmert sich die 74-Jährige schon während der Entstehung eines Werks um das Marketing und die Rechteverwertung. "Wir haben aus dir eine Marke gemacht, nicht wahr", sagt sie zu ihrem Mann. Und der, lässig zurückgelehnt im maßgeschneiderten Dreiteiler, nickt zufrieden. Gemeinsam perfektioniert das Paar die Bestsellerproduktion. Follett ist bekannt für seine mutigen Frauenfiguren, die es wagen, gesellschaftlichen Konventionen zu trotzen. Schon auf Seite 41 des Romans, der Mitte des 16. Jahrhunderts spielt, muss sich Margery Fitzgerald, ein ungewöhnlich rebellisches Mädchen, gegen die Zudringlichkeiten des Mannes wehren, den sie heiraten soll, aber nicht heiraten will. Die wütende Margery fackelt nicht lange und rammt dem Angreifer ihr Knie in den Schritt. "Wir erleben jetzt eine grundlegende Veränderung, und ich bin sehr froh darüber" Das Buch erschien kurz bevor die Sexismusdebatte Hollywood und das britische Parlament erschütterte. Natürlich, kein Werbecoup, so viel Weitsicht ist selbst dem mit ausgeprägtem Erfolgswillen ausgestatteten Ken Follett nicht gegeben. Darauf angesprochen hat der Autor zunächst Mühe, sich an die Szene zu erinnern. Kann passieren, wenn einer 31 Bücher geschrieben hat, eins wie das andere viele hundert Seiten dick. Doch Barbara Follett, mit zurückhaltender Durchsetzungskraft und charmanter Beharrlichkeit, ist sofort im Thema. Als Labour-Abgeordnete war sie mit Gleichstellungsfragen beschäftigt, eine Zeit lang als Staatssekretärin für Frauenfragen und später als Kultusministerin. "Mir sind solche Dinge bei vielen Gelegenheiten passiert. Ich habe gelernt, damit umzugehen, ein wenig wie Margery. Manchmal muss man fast gewalttätig werden, um sich zu wehren, dann wieder schiebst du einfach die Hand weg. Wir erleben jetzt eine grundlegende Veränderung, und ich bin sehr froh darüber." Eine Frau im 16. Jahrhundert wird handgreiflich gegen ihren Zukünftigen. Ist das ein realistisches Szenario? Durchaus, versichert Ken Follett, in jeder Ära finde man rebellische Geister. "Sicher hätten sich nicht viele junge Frauen so verhalten, aber die Helden einer Geschichte sind außergewöhnlich. Sie gehen weiter als andere und loten die Grenzen aus." Follett selbst hat sich lange an die engen Grenzen seines streng religiösen Elternhauses in Wales gehalten, bevor er sich aus der sektiererischen Glaubensgemeinschaft seiner Familie befreite. Es ist nur wenige Jahre her, da trafen Ken und Barbara Follett in einem Restaurant auf einen nordafrikanischen Diplomaten. Der begrüßte alle Anwesenden am Tisch per Handschlag, ausgenommen die beiden anwesenden Frauen. Später entschuldigte sich einer der britischen Gentlemen bei den Damen: "Es tut mir sehr leid, aber er sieht Frauen einfach nicht." Barbara Follett zuckt mit den Achseln. "Ich bin daran gewöhnt. Und ich kenne Afrika sehr gut, habe dort lange gelebt." Ist Stillhalten tatsächlich die richtige Antwort? "Ich denke, man muss sich überlegen, welche Schlachten man schlagen will. Das Timing ist sehr wichtig, du musst genug Leute hinter dir haben, auch die Medien. Sonst werden sie dich fertigmachen." Das Timing der Schauspielerin Alyssa Milano, die mit #MeToo ein Feuerwerk an Tweets auslöste, war offensichtlich perfekt. Aber warum brauchen wir 2017 noch ein Hashtag, um Frauen zu offenem Aufruhr gegen sexistische Übergriffe zu ermuntern? "Weil es noch nicht einmal hundert Jahre her ist, dass wir das Recht bekamen, zu wählen. Wir hatten nicht das Recht am eigenen Körper - und in einigen Ländern haben Frauen es immer noch nicht", sagt Barbara Follett. Und außerdem seien Frauen dazu erzogen worden zu gefallen. Das gelte auch für sie selber. "Sag mir, wenn ich zu viel rede!" fordert sie ihren Mann auf. Der nimmt es very british. Also fährt sie fort, erläutert die klare Arbeitsteilung im Follett-Unternehmen: Er schreibt, sie führt die Geschäfte. Das tut sie, seitdem sie mal einen Blick in seine Zahlen warf und sah, wie viele Ausstände er noch hatte. Daraufhin feuerte er seinen Agenten. "Und wer wird dich nun vertreten?" fragte sie ihn. "Na, du!" antwortete er. Damals stand sie gerade als Politikerin unter Beschuss, weil man ihr vorwarf, öffentliche Gelder verschwendet zu haben. "Viele Schriftsteller, nicht nur berühmte wie Ken, werden von ihren Verlegern betrogen", sagt sie. Mit ihrem deutschen Verlag hätten sie diese Erfahrung nicht gemacht, wohl aber mit vielen in anderen Ländern. Ursprünglich war Barbara Follett unentschlossen, ob sie an dem Gespräch überhaupt teilnehmen sollte, wollte nicht von ihrem Mann und seinem neuen Werk ablenken. Am Ende hat sie, dezidiert und leise, weite Passagen der Unterhaltung bestritten. "Well", sagt sie zur Verabschiedung, "ich bin nicht sicher, wie das nun gelaufen ist." Ken Follett lacht: "Du warst schrecklich." http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/ken-und-barbara-follett-uebe... Spiegel Online 07.01.2018

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Auch mal Junge sein... Ein Gespräch für Spiegel Online.

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Johannes Oerding hat momentan viel zu tun: Bald geht er mit seinem fünften Album "Kreise" auf Tour. Sie beginnt am 25. Oktober in Leipzig und endet genau vier Wochen später in seiner Wahlheimat Hamburg. SPIEGEL ONLINE: Müssen Sie für die Tour noch viel üben? Oerding: Nein. Wir sind extrem gut eingespielt, das Set steht. Meine Vorbereitung besteht hauptsächlich darin, mir Geschichten auszudenken, um das Programm zwischen den Songs so unterhaltsam zu gestalten, dass die Leute dranbleiben. Üben muss ich, wenn ich einen neuen Song geschrieben habe, vor allem gleichzeitig zu spielen und zu singen. Da greift man unten an der Gitarre etwas und singt oben was komplett anderes. Das muss man als Mann erst mal hinbekommen. SPIEGEL ONLINE: Als Mann? Oerding: Sagt man doch, dass Frauen mehr Aufgaben parallel erledigen können. SPIEGEL ONLINE: Kommt für einen neuen Song zuerst die Melodie oder der Text? Oerding: Das hat sich verändert. Bei meinem ersten Album vor elf Jahren waren deutschsprachige Texte noch nicht angesagt. Es ging mehr um ein soundliches Statement. Das Texten war mir also eher lästig. Heute muss jeder Satz stimmen, da kannst du kein Blabla ohne Aussage reinschreiben. Das hat meinen Blick auf die Musik verändert. Heute muss erst der Inhalt stehen, der gibt mir den Reiz: Darüber will ich singen! Zum Beispiel hatte ich die Zeile "Zwischen Mann und Kind" schon länger im Kopf, habe aber immer gedacht, ich sei noch zu sehr Kind, um das zu singen. Aber jetzt schien der Zeitpunkt genau richtig. SPIEGEL ONLINE: Erwachsen erst mit Mitte 30? Oerding: Für manche Themen fühle ich mich immer noch nicht alt genug, um sie musikalisch anzupacken, zum Beispiel das Thema Tod oder die Frage: Habe ich mein Leben richtig gelebt? Ich denke, man braucht eine gewisse Lebenserfahrung, um das glaubwürdig rüberzubringen. SPIEGEL ONLINE: Fürchten Sie, dass Ihnen irgendwann die Themen ausgehen? Oerding: Ja, das ist die große Angst. Es gibt aber ein paar handwerkliche Tricks, das zu umgehen. Zum Beispiel, indem man die Perspektive wechselt, nicht autobiografisch singt, sondern als Storyteller wie in meinem Song "Love me Tinder". SPIEGEL ONLINE: Sehr hübsch, wie in dem Lied zwei enttäuschte Singles auf der Suche nach einem One-Night-Stand zusammenfinden! Oerding: Wie eine American Lovestory. Ein Kritiker hat über mich geschrieben: "Musik, die nicht weh tut". Aber wer sagt, dass Musik weh tun muss? Warum kommt aus der Kritikerwelt dauernd das Verlangen nach Ecken und Kanten? Es muss immer irgendwie anti sein. Ich empfinde das nicht so. SPIEGEL ONLINE: Sind sie manchmal von Selbstzweifeln geplagt? Oerding: Ich war immer sehr selbstbewusst, was meinen Erfolg anbelangt. 2009 am Timmendorfer Strand mussten wir als Vorband überraschend für den Haupt-Gig Ich+Ich einspringen. Dabei habe ich bemerkt, dass ich 35.000 Leute begeistern konnte. Da habe ich gedacht: Wenn ich das hier kann, kann ich das auch woanders. Aber kurz vor der Veröffentlichung eines Albums, da kommt manchmal die kleine Enttäuschungspanik: Haben wir alles richtig gemacht? Ist es wirklich schon fertig? SPIEGEL ONLINE: Sie sind auf dem Dorf aufgewachsen. Was macht der Erfolg mit dem Jungen vom Land? Oerding: Ich bilde mir ein, dass ich einigermaßen bodenständig geblieben bin. Aber aufgrund des Erfolges wird alles größer und schneller, es prasselt viel mehr auf einen ein. Das erfordert mehr Effektivität. Musikern wird das oft als Arroganz ausgelegt. Da heißt es vorwurfsvoll: Früher hat er nach dem Konzert Autogramme geschrieben. Ja, aber früher standen da 80 Leute, heute 10.000. Du kannst nicht mehr rausgehen, weil du sonst vier Stunden dastehst. In der Zeit solltest du eigentlich die Stimme schonen, schlafen oder dich auf das nächste Konzert vorbereiten. SPIEGEL ONLINE: Was die Bodenhaftung angeht: Immerhin sind Sie noch bei den Pfadfindern. Oerding: Oh ja, ich bin noch zahlendes Mitglied, aber nicht mehr sehr aktiv im Verein. Ich war dieses Jahr ein paar Tage im Sommerlager mit 200 Kindern, habe da auf einem Feldbett gepennt und abends immer Musik gemacht. So habe ich selbst Gitarre spielen gelernt, als kleiner Pfadfinder am Lagerfeuer. SPIEGEL ONLINE: Sie sind viel unterwegs. Wie verträgt das Ihre Beziehung mit Ina Müller? Oerding: Natürlich ist es schwer, wenn man sich zwei Monate am Stück nicht sieht. Dann muss man sich wieder annähern und erzählt sich erst mal drei Tage lang, was alles passiert ist. Wir kriegen das sehr gut hin. Ich kann prima allein sein, meine Arbeit machen und selbstständig leben. Das gilt auch für meine Freundin. Wir haben das immer geschafft, was auch daran liegt, dass wir beide zu hundert Prozent den Job machen, den wir lieben. Sonst wäre es vielleicht schwieriger. SPIEGEL ONLINE: Mit einer Zahnärztin zum Beispiel würde es eher nicht so gut funktionieren? Oerding: Das Verständnis ist viel größer bei jemandem aus der Branche, der genau weiß, was Tour-Vorbereitung bedeutet, dass man da keinen Kopp hat, noch Essen zu gehen oder in den Urlaub zu fahren. Man lässt den Anderen in Ruhe. Auf Tour, das ist meine Klassenfahrt, da will ich mit meinen Jungs sein, da will ich auch mal Junge sein. Das Privatleben und das Tourleben, das sind für mich zwei Leben. SPIEGEL ONLINE: Trotzdem gab es gemeinsame Auftritte. Oerding: Sehr selten. Am Anfang haben wir das mal gemacht. Wir haben beide das Gefühl, wir kommen entspannter durchs Leben, wenn wir das trennen. SPIEGEL ONLINE: Aber es hört sich schön an, wenn Müller und Oerding zusammen singen. Trotzdem kein gemeinsames Album "Ina & Johannes"? Oerding: Ich glaube nicht. Wir machen gern Musik zusammen, deshalb schreiben wir auch Texte zusammen. Zuhause singen wir auch gern gemeinsam, aber wir sind nicht Cindy und Bert. Wahrscheinlich würde es sogar funktionieren, die Leute würden es hören. Aber mir missfällt der Gedanke, nee, das ist nicht mein Ding! Und Inas auch nicht, Gottseidank! Spiegel Online 17.10.2017

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Zwischen Klartext und Lidstrich

Als Betriebsratsvorsitzende bei Airbus vertritt Sophia Kielhorn rund 14.000 Mitarbeiter. Am Wochenende macht sie als Make-up Artist Bräute hübsch. 

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Als sie bei Airbus anfing, hatte sie noch nie in einem Flugzeug gesessen. „Das ist schon merkwürdig, hier zu arbeiten und jeden Tag die Flugzeuge zu sehen, wenn du selber noch nie geflogen bist.“ Doch wohlweislich gehörte ein Kurs in Motorsegelfliegen zur Ausbildung, und so konnte Sophia Kielhorn mit 21 zum ersten Mal abheben. Schon zehn Jahre später wird sie Betriebsratsvorsitzende bei der Airbus Operations GmbH Hamburg, vertritt heute rund 14.000 Mitarbeiter. Sie ist das Sprachrohr des Betriebsrats, erste Ansprechpartnerin des Managements. Eine ihrer Lieblingsaufgaben: auf der Betriebsversammlung die Rede halten, den Bericht des Betriebsrates abgeben. „Denn da darf man schon mal ein bisschen böse sein dem Arbeitgeber gegenüber. Es ist das Privileg des Betriebsrates, Dinge auszusprechen, die ein Mitarbeiter so vielleicht lieber nicht sagen sollte.“ Schon ihre Mutter hat ihr beigebracht, für die Schwächeren einzutreten und sie gegen Benachteiligungen zu verteidigen. „Damit sind mein Bruder und ich groß geworden und deswegen bin ich jetzt auch im richtigen Job.“ Auf der letzten Versammlung hat sie sich „massiv aufgeregt“ über die Auslieferungszahlen des Unternehmens. Viel zu hoch ihrer Meinung nach. 690 Flugzeuge auszuliefern, hatte sich Airbus für 2016 zum Ziel gesetzt. Deswegen bangten die Kollegen um ihre Gewinnbeteiligung, die sie nur bekommen, wenn dieses Ziel erreicht wird. Im Jahr davor hatte Airbus Probleme, die deutlich niedrigere Zahl von 635 Flugzeugen fertigzustellen. „Meines Erachtens hat die Unternehmensleitung nicht genug getan, um Störungen in der Produktion zu beheben“, kritisiert Sophia Kielhorn. Dass jetzt die Gewinnbeteiligung der Kollegen in Gefahr ist, findet sie ungerecht, und Ungerechtigkeiten hasst sie. In blauem Minirock und schwarzen Nylons sitzt sie charmant in ihrem gänzlich uncharmanten Büro in Finkenwerder. Wer sie wegen ihres Alters oder ihres Aussehens unterschätze, irre sich, warnt sie mit einem verschmitzten Lächeln. Ja, da ist auch diese mädchenhafte Seite, sie hat ein Faible für Styling und Hochzeiten. Ich schiele auf die Büroutensilien auf ihrem Schreibtisch: pinkfarbener Rechner und Locher sowie Klebestreifen zum Abrollen in pinkfarbenen High Heels. „Jetzt wo wir ein Mädchen hier haben, brauchen wir auch Mädchenfarben, hat meine Sekretärin festgestellt“, erklärt sie mir lachend. Sie redet gern und viel und immer so, wie ihr der Schnabel gewachsen ist. „Ich bin echt eine kleine Quasselstrippe.“ Auf Facebook scheut sie sich nicht, politisch zu provozieren, zeigt sich im T-Shirt mit der Aufschrift „I could be a refugee“ und postet Fotos mit Parolen wie: „Bombing for peace is like fucking for virginity“. Dazwischen ganz viele Fotos mit ihrem Mann Alexander, einem Polizisten. Frisch verheiratet das Paar, erst seit ein paar Monaten, sehr verliebt und Sophia meist wunderschön geschminkt. Im Teenageralter wollte sie unbedingt Visagistin werden. Und sie ist es auch geworden, nebenberuflich. Als Make-up Artist übernimmt sie das Styling für Fotografen; an den Wochenenden der Heiratssaison macht sie Bräute hübsch. „Das ist eine komplett andere Welt. Hochzeiten sind immer positiv. Ich habe da nur mit glücklichen Menschen zu tun. Das gibt viel Energie!“ Ein willkommener Ausgleich zur Betriebsratsarbeit. „Hier beschäftige ich mich ja meistens mit eher negativen Themen, mit Problemen, und muss mir schon mal anhören, was wir alles falsch gemacht haben.“ Als Betriebsrat sei man „oft der Buhmann“, sowohl für den Arbeitgeber, als auch für die Kollegen, die nicht einsehen wollen, dass man sich nicht immer auf ganzer Linie durchsetzen kann. „Man muss in Verhandlungen auch mal Kröten schlucken. Das ist so. Leider schimpfen dann Kollegen oft: Der doofe Betriebsrat hat nicht genug getan.“ Auf Betriebsversammlungen gibt es einen speziellen SMS-Service, der das Versenden anonymer Kritik erlaubt. „Da habe ich mich schon das ein oder andere Mal gewundert, mit welcher Respektlosigkeit gewisse Kommentare abgegeben werden. Ich sage mir allerdings: Das darfst du nicht persönlich nehmen. Man muss sich wirklich ein dickes Fell zulegen!“ Trotz ihrer Begeisterung fürs Make-up hat sie nach der Schule eine Ausbildung als Kauffrau für Bürokommunikation gemacht, und zwar bei Airbus. Das schien ihr der bessere Weg zu einem sicheren Einkommen. Das Abi hat sie nicht geschafft. „Schule hieß immer nur dasitzen und zuhören. Irgendwann habe ich festgestellt, dass die Welt auch funktioniert, ohne dass ich Mathe und Physik begreife.“ Studieren wollte sie eigentlich nie, hat dann aber doch einen Bachelor in Wirtschaftsrecht erworben, und zwar parallel zu ihrem Job, durch Pauken am Abend und am Wochenende. 2010 wird sie in den Betriebsrat gewählt und zwei Jahre später schon zur Stellvertreterin. „Das musste ich mir gut überlegen, nach nur drei, vier Jahren Berufserfahrung schon zu hundert Prozent in die Betriebsratsarbeit zu gehen.“ Denn es bedeutet, die fachliche Entwicklung im eigentlichen Beruf auf Eis zu legen. Sie ist zufrieden mit ihrer Entscheidung und eigentlich auch ausgelastet. Ihre Nebenbeschäftigung ist ihr trotzdem sehr wichtig. Die Heiratskandidatinnen sind immer dankbar. „Ich schminke eine Braut und style sie, damit habe ich am Ende einen glücklichen Menschen.“ Hochzeiten mag sie so sehr, dass sie selbst nun mit 33 bereits zum zweiten Mal verheiratet ist. Nein, natürlich ist das nicht der Grund. Es ist einfach schief gegangen beim ersten Mal. „Aber jetzt muss es halten!“ Sie schmunzelt. Zweimal hat sie ihren Namen geändert, zuletzt von Jacobsen zu Kielhorn. Eigentlich sieht sie sich als Feministin, warum nimmt sie dann den Namen des Mannes an? „Wenn ich mich an den zweiten Namen gewöhnt habe, kann ich mich auch an den dritten gewöhnen“, antwortet sie mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Es ist mir egal, darüber definiere ich mich nicht.“ Wichtiger sind ihr andere Fragen. Sie möchte gern mehr Frauen gewinnen für Airbus, zur Zeit ein sehr männlich dominierter Betrieb mit einem Frauenanteil von nur rund fünfzehn Prozent. Im Aufsichtsrat und im Vorstand wünscht sie sich fünfzig Prozent Frauen, wenn es nicht anders geht, per Quote. Selbst im Betriebsrat ist eine Frau in Führung keine Selbstverständlichkeit, das hat sie bei ihrer eigenen Wahl zur Vorsitzenden erfahren. Da wurde argumentiert, sie sei eine Frau, noch jung und wolle sicher noch Kinder bekommen. Das ließe sich mit so einem Job doch nicht vereinbaren. Bei diesem Thema gerät Sophia Kielhorn so richtig in Fahrt: „Entschuldigung, ich kriege nicht alleine Kinder! Würden sie das einem jungen Mann, der noch eine Familie gründen möchte, genauso sagen? Ich finde es schlimm, dass wir Frauen dafür bestraft werden, dass wir Kinder kriegen können. Obwohl wir dafür eigentlich mal gefeiert werden müssten, denn das ist ja nicht gerade ein Spaziergang.“ Auch für die Männer findet sie das schlimm. „Bei einem Mann, der sich um die Kinder kümmern will, heißt es nämlich: Hast du dafür keine Frau oder was?“ Kinder seien doch kein Problem, stellt sie kategorisch fest. „Die Gesellschaft macht sie zum Problem, wenn sie nicht das passende Drumherum schafft.“ Ihre Mutter hat immer Vollzeit gearbeitet, als Sekretärin, Sophia ging in die Kita. Das war in der DDR üblich und anders kennt sie das gar nicht. Sie ist in Mecklenburg-Vorpommern aufgewachsen bis der Vater, Schiffbauer von Beruf, nach dem Fall der Mauer dort keine Perspektive mehr sah und mit der Familie nach Hamburg übersiedelte. „Ich zeige es euch“, denkt Sophia Kielhorn heute. „Wenn es soweit ist, werdet ihr sehen, dass es geht, Mutter sein und einen Führungsjob haben.“ Kurz stutzt sie: „Hoffentlich habe ich den Mund nicht zu voll genommen.“ Sie wird das schaffen, da bin ich sicher. DIE WELT 07.01.2017

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Sie kann die Soundtracks sämtlicher James Bond Filme mitträllern. Hauptamtlich leitet Pastorin Babette Glöckner die evangelische Telefonseelsorge.

©Bertold Fabricius

Heute Nachmittag hat sie Dienst. Sitzt an einem großen Schreibtisch, mit Blick auf den ausladenden Ahorn und die Buche vor dem Fenster der Diakonie, Computer und Telefon vor sich, Kerze an, ein Becher Tee und etwas Weihnachtliches zum Naschen. Lange wird sie auf das Klingeln nicht warten müssen; während der Weihnachtstage ist der Bedarf an Trost und Beratung enorm. Obwohl überall zu lesen ist, man solle die Erwartungen zum Weihnachtsfest nicht zu hoch schrauben, sind die Sehnsüchte gewaltig. „Und dann erfüllt sich mal wieder etwas nicht. Und prompt gibt es Krach.“ Da kommt es hin und wieder auch zu skurrilen Situationen. „Warten Sie mal, jetzt ist er gerade gegangen“, hört Babette Glöckner die Frau am anderen Ende raunen. Dann nur noch Grummeln und Schreien, während das Telefon wohl irgendwo auf oder unter dem Bett liegt. „Wir kommen in den intimsten Bereich eines Menschen hinein. Ohr an Ohr. Live und in Farbe hören wir manchmal alles mit, sind mitten in der Auseinandersetzung dabei. Manchmal ist es so schlimm, dass wir das Gefühl haben, da muss sofort die Polizei hin.“ Und was macht sie dann? „Wir – unternehmen – nichts.“ Sie sagt das betont langsam und macht zwischen jedem Wort eine kleine Pause. „Denn wenn herauskommt, dass jeden Moment die Polizei vor der Tür stehen könnte, würde uns niemand mehr anrufen. Wir begleiten die Situationen, so gut wir können.“ Das fällt nicht immer leicht. Sicher, sie hat oft das Gefühl, sie würde am liebsten hingehen und persönlich helfen. „Dann müssen wir uns zusammenreißen, denn das können wir nicht leisten. Es ist einfach das Format, in dem wir arbeiten.“ Ganz altmodisch nimmt sie tatsächlich noch den Hörer ab, wenn es klingelt. Es fühlt sich für sie authentischer an als ein Headset. Sie hat eine angenehme Telefonstimme, merke ich, als ich an ihren Anrufbeantworter gerate, sanft und einfühlsam, ich möchte fast sagen erotisch, aber das passt natürlich nicht zu ihrer Aufgabe. Babette Glöckner – die glatten dunklen Haare umrahmen im Pagenschnitt ihr herzförmiges Gesicht – leitet seit sieben Jahren die evangelische Telefonseelsorge im Diakonischen Werk. Gerade ist sie 58 geworden, kurz vor Weihnachten. Sie sorgt dafür, dass mindestens eins der zwei Telefone regelmäßig besetzt ist, sucht die Mitarbeiter aus, leitet ihre Ausbildung. Die Telefonberater arbeiten alle ehrenamtlich. Worauf achtet sie bei der Auswahl? „Die Belastungsfähigkeit ist das Wichtigste. Damit meine ich: Wie geht jemand mit den eigenen Problemen um? Denn diese Themen kommen garantiert auch am Telefon vor.“ Die Folgen hat sie auch selbst erlebt, unter anderem als sie nach 19 Jahren Ehe mit ihrer Scheidung beschäftigt war. „Da war ich bei einigen Seelsorgegesprächen deutlich neben der Spur. Wieso fand ich das denn so verzwickt? Das wurde mir erst hinterher durch die Supervision klar.“ Genau deshalb sei es besonders wichtig, die Rolle zu halten am Telefon. Nicht Ehepartnerin, nicht Freundin zu sein, sondern Seelsorgerin. „Wenn ein Seelsorger sagt, es war ein gutes Gespräch, dann werde ich immer hallo-wach.“ Oder wenn die Gespräche zu lange dauern – das entnimmt sie der Statistik –, dann fragt sie sich, ob dadurch wohl ein Abgrenzungsproblem deutlich wird. „Sich zu identifizieren, ist zwar ein schönes Gefühl, aber Seelsorge soll möglichst alle Seiten eines Beziehungssystems im Blick behalten.“ Gibt es denn eine ideale Länge für so ein Beratungsgespräch? Das ist sehr unterschiedlich, hat sie erfahren. Eine kurze zehnminütige Begegnung kann sehr hilfreich sein, andere Anrufer verlieren sich in Endlosschleifen, erzählen in ihrer Not dasselbe von vorn, von hinten und wieder von vorn. Und dann? Denen sagt sie doch sicher nicht einfach: Sie wiederholen sich! „Manchmal schon“, antwortet die Pastorin. Damit es nicht so weit kommt, versucht sie, in den ersten zwei, drei Minuten die Situation zu erfassen. „Es ist ein großer Unterschied, ob jemand anruft, weil übermorgen die Tochter ausziehen will oder ob eine Frau mitten auf der Kreuzung von einer Panikattacke erfasst wird und zum Telefon greift, weil sie es nicht mehr über die Straße schafft.“ Und wenn ein Anrufer vom Hundertsten ins Tausendste kommt, weil die Probleme ihn überwältigen, dann forscht sie nach dem einen Thema, das ihn gerade jetzt am meisten bewegt. „Nur dieses Thema bearbeiten wir dann ein Stück weit, nicht erschöpfend, aber vielleicht so, dass wieder eine Perspektive sichtbar wird.“ Schon als Kind sah sich Babette Glöckner mit existentiellen Problemen konfrontiert. Ihr Vater, 25 älter als die Mutter, lange Zeit schwer krank, kämpfte schon mit dem Tod, da war Babette gerade mal ein Teenager. So als könne sie danach nichts mehr schrecken, verdiente sie später als Studentin Geld durch Nachtwachen auf der Krebsstation eines Krankenhauses. Theologie hat sie studiert, ist Vikarin und Gemeindepastorin in Schleswig-Holstein gewesen, ab 1993 dann Krankenhausseelsorgerin in den Segeberger Kliniken. Geboren in Flensburg, ist sie in Kiel aufgewachsen. Kommt sie aus einem religiösen Haushalt? Eigentlich nicht. Der Vater Zollamtmann, die Mutter Hausfrau und Sekretärin in der Kirche und in der Kinderpsychiatrie. Niemand konnte sich die Babette im Talar vorstellen. Ihr Theologiestudium hat sie später durch eine tiefenpsychologische Ausbildung ergänzt. Kommt man durch dieses Wissen mit den eigenen seelischen Problemen besser klar? Ja, davon ist sie überzeugt. „Wenn ich die Probleme besser verstehen und einordnen kann, löst sich einiges.“ Und verstehen will sie immer, am besten alles. Das war schon früher so. Als die Mathematiklehrerin im Unterricht verkündet, zwei Parallelen würden sich im Unendlichen schneiden, macht das Babette ganz verrückt, weil sie es nicht verstehen kann. „Das war für mich nicht auszuhalten.“ Hat sie es heute verstanden oder sich damit abgefunden? „Ich habe mich damit abgefunden. Muss man ja.“ Da steht einer auf dem Dach und sagt: Ich springe gleich. Gibt es das nur im Film? Sie selbst hat das noch nicht erlebt, aber ähnliche Anrufe gibt es gar nicht so selten. Ein Anruf kam mal vom Michel, andere von einer Brücke. „Wir fragen uns dann immer: Wieso ruft er in dem Moment an? Will er gehalten werden? Oder will er es der Welt noch mal zeigen?“ Oft wissen die Seelsorger nach so einem Gespräch nicht, wie es ausgegangen ist. „Dann geht am nächsten Morgen der Blick als erstes in die Zeitung. Das ist böse, echt böse.“ Wie wirken sich solche Erfahrungen auf ihr Privatleben aus? Ganz enorm, sagt sie, und strahlt mich an. Denn es führt sie dazu, möglichst viel zu unternehmen, was nichts, rein gar nichts mit ihrem Beruf zu tun hat. Krimis lesen zum Beispiel oder James Bond Filme gucken. Jede Szene könnte sie mitsprechen und jeden dazugehörigen Soundtrack trällern. Sie malt auch, abstrakte Bilder, die stapeln sich im Keller, kocht und spielt leidenschaftlich gern, Skat oder Conga, ein spanisches Kartenspiel, das strategisches Denken verlangt. Ach ja, Schlümpfe sammelt sie auch. Aber die müssen inzwischen dienstlich antreten. Werden in Supervisionsgesprächen aufgestellt, ob sie wollen oder nicht: der Traurige, der Grimmige, der Dauerfröhliche... Heute Nachmittag sitzt sie also am Seelsorgetelefon. Und dort wird es, neben enttäuschenden Familienkrächen vor allem um eins gehen, das weiß sie aus der Erfahrung der vergangenen Jahre, um die Einsamkeit. „Es gibt unendlich viele einsame Menschen in unserer Stadt. Das wusste ich vorher nicht.“ Manche, erzählt sie, verhielten sich so, da sei es kein Wunder, dass die Mitmenschen einen Bogen um sie machten. „Aber sie waren ja nicht immer so. Es gab mal eine Ausgangssituation, die liegt meistens sehr lange zurück. Und irgendwann kommt dieser Punkt, wo nichts mehr vor oder zurück geht. Am Ende steht manchmal jahrelange Einsamkeit. Sie haben dann wirklich niemanden mehr.“ Das kann sie sich, umgeben von Freunden und Bekannten, kaum vorstellen. „Es muss furchtbar sein.“ Sie selbst verbringt die Feiertage mit der Familie ihres Freundes. Und dort gibt es hoffentlich keinen Streit. DIE WELT 24.12.2016

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© Bertold Fabricius

Schöne graue Haare

Mit fast 50 hat die Personalmanagerin Petra van Bremen angefangen zu modeln. Sie ist ein sogenanntes Best Age Model. Fühlt sie sich wirklich im besten Alter? In Seminaren für Krebspatientinnen gibt sie ihr Wissen über Schönheitspflege weiter.

Manchmal fügen sich die Dinge. Ein Gespräch über das Modeln als Traumberuf. Eine Idee. Änderungen in der Werbebranche, die plötzlich auch echte Frauen zeigen möchte, große, kleine, dicke, dünne, junge, alte. Ein abendlicher Spaziergang mit dem Hund. Ein bis dahin nicht beachtetes Firmenschild: InterModel. „Nee, das gibt es nicht!“ staunte Petra van Bremen. Es war genau die Agentur, für die sie als Jugendliche gearbeitet hatte. Nachdenken, Entschluss fassen, Mut sammeln. „Und dann kam der Moment, wo ich dachte: Ich fühle mich gut, meine Haare sitzen, jetzt gehe ich hin und klingele.“ Ob sie einen Termin habe, fragt die Dame am Empfang. Sowieso eine von Petra van Bremens Lieblingsfragen hier in Deutschland. Wollte sie mal eine Freundin spontan besuchen, fragt die doch: „Sind wir verabredet?“ Die Holländer seien viel spontaner. Sie zieht eine ganz leichte, noch keineswegs unhöflich zu wertende Grimasse. In der Model-Agentur wird sie von der Empfangsdame mit abschätzendem Blick von oben nach unten und zurück taxiert. „Na gut, ich frage mal meinen Chef.“ Zwei Wochen später gibt es ein Probe Shooting. „Ich hatte ja keine Kontakte, kannte keinen Fotografen in Hamburg, keinen Visagisten.“ Das Shooting verläuft gut. Es ist die Rede von Fashion für 40 plus. Dann der erste Auftrag: „Petra, du bist gebucht für Wäsche.“ Verwunderung. An Unterwäsche hatte sie nicht gedacht. In ihrem Alter gleich damit einsteigen? Sie muss erstmal ihren Mann fragen, der steht mit seinem Unternehmen schließlich in der Öffentlichkeit. Michael Kubenz bleibt ganz cool: „Wann, wenn nicht jetzt?“ Sie ist sehr nervös. „Nach so vielen Jahren und dann ausgerechnet Wäsche! Ich habe mich gefragt: Kann man das verlernen? Außerdem war ich früher mehr auf dem Laufsteg, habe nicht so viele Foto Shoots gemacht.“ Doch das Team war gut und die Ergebnisse überzeugend. Sie hat nie ein Problem gehabt mit dem Alter. Das behauptet sie tatsächlich. Ob 30, 40 oder 50. „Ich sehe es eher so, du weißt, wer du bist, hast etwas erreicht und deine Erfahrungen bringen dich weiter. Du brauchst niemandem mehr etwas zu beweisen. Deshalb mag ich dieses Alter.“ Das sagt sich leicht, wenn man so aussieht wie sie. Oder? Da sind wir gleich bei einer Einstellung, die ihr schon lange zu schaffen macht. „Bei dir geht doch alles ganz einfach“, denken viele in ihrer Umgebung und nicht selten schwingt ein bisschen Neid mit. „Dass ich ein schönes Gesicht habe“, betont Petra van Bremen, „bedeutet nicht, dass ich keine Hürden überwinden muss.“ Vielleicht, meint sie, stünde die Tür für sie etwas weiter auf als für andere, aber wenn sie hindurchgehe, werde von ihr dasselbe verlangt wie von anderen. Sie muss als erste auf Leute zugehen, diesen Schluss hat sie gezogen: „Ich muss das Eis brechen, sonst denken die anderen schnell, ich sei arrogant.“ So ganz gelingt ihr das nicht immer. Als wir uns das erste Mal treffen, macht sie einen sehr zurückhaltenden Eindruck auf mich, fast ein wenig verschlossen. Zeit braucht sie, merke ich später, Zeit zum Auftauen. Vielleicht liegt das an ihrer Herkunft. Sie kommt aus dem holländischen Zeeland. Die Menschen dort seien aus dem Lehm gezogen worden, heißt es. Nicht gerade der fruchtbarste Boden für Chic und Modebewusstsein. Trotzdem, Petra zieht es schon als Teenager auf den Laufsteg. „Woher hat sie das?“ wundert sich die Familie. Mehr als eine Oma, die sehr auf ihr Äußeres achtete, mit passender Tasche und passenden Schuhen, fällt niemandem ein. Woher hat Petra das? Aus Zeitschriften. „Auf die Laufstege! Das war mein Traum. Und ich habe es geschafft.“ Schon als Schülerin meldet sie sich bei einer Agentur. Mit ihrem lilafarbenen Moped fährt sie einmal in der Woche zum Mannequin Kursus, so hieß das damals. Schon früh stellt sie fest, dass man sein Leben selbst in die Hand nehmen muss: „Wenn du etwas willst, tu etwas dafür! Und wenn du dann merkst, dass es funktioniert, gibt es dir Selbstbewusstsein.“ Zur ersten Modenschau in Deutschland nimmt sie ihre Mutter mit. „Ich habe mich nicht getraut, alleine zu fahren.“ Unterwegs fliegt ihnen ein Stein in die Windschutzscheibe. „Aber wir haben es geschafft. Ich war so stolz!“ Petras Mutter ist Deutsche, lernte den Vater, der mit dem niederländischen Militär in Deutschland stationiert war, in Gütersloh kennen. Für drei Monate besitzt Baby Petra einen deutschen Pass, dann zieht die Familie nach Holland. Bodenständig wie die Eltern sind, bestehen sie darauf, dass die Tochter einen „anständigen“ Beruf erlernt. So lässt sie sich in Rotterdam zur Fremdsprachensekretärin ausbilden und landet im Personalmanagement einer großen Zeitarbeitsfirma. „Dort meldete sich wieder mein Ehrgeiz. Ich habe mir gesagt, nein, ich will nicht nur hier sitzen, ich will das Büro leiten.“ Und dann will sie nicht nur ein Büro führen, sondern mehrere. Mit Anfang vierzig unterstehen ihr als Regionalmanagerin sechs Niederlassungen. Das Modeln muss sie schweren Herzens aufgegeben. Vor rund zehn Jahren lernt sie Michael Kubenz kennen, Transportunternehmer wie ihr Vater. Es wird ihre zweite Ehe. Die erste, sehr frühe Verbindung, ist schon lange geschieden. Für die neue Liebe gibt sie ihren Job auf, zieht nach Hamburg, reist mit ihm durch die Welt, ist die Frau an seiner Seite, bis sie denkt: „Hey, ich könnte doch mehr machen!“ und auf einem Spaziergang mit dem Hund an ihrer alten Agentur vorbeikommt... Lange dauert es nach dem Wiedereinstieg in die Modewelt nicht und sie sucht nach neuen Betätigungsfeldern, engagiert sich seit gut fünf Jahren bei DKMS Life. Einmal im Monat hält sie gemeinsam mit einer Kosmetikerin Seminare für Krebspatientinnen ab. Motto: „Look good, feel better“. Dort zeigt sie einer kleinen Gruppe Frauen, wie ein gutes Make-up davon ablenken kann, dass sie keine Haare, keine Augenbrauen, keine Wimpern haben. „Das ist manchmal sehr emotional. Frauen haben schon angefangen zu weinen, weil sie nie gedacht hätten, wie schön sie so geschminkt aussehen können.“ Wenn die Frauen ihre Perücken abnehmen, möchte sie manchmal rufen: „Wirf die Perücke weg, du siehst so toll aus, klasse, dieser freche Kurzhaarschnitt! Aber das darf ich natürlich nicht machen. Das ist ihre Entscheidung.“ Seit zwei Jahren ist Petra van Bremen außerdem Schirmherrin des Ronald McDonald Hauses beim Altonaer Kinderkrankenhaus, das Angehörige schwer kranker Kinder während der Behandlung beherbergt. Sie beschreibt sich selbst als eine, die zielstrebig ist und perfektionistisch, die nicht nur von A bis B denkt, sondern immer auch an das Z, das Ziel. „Ich sehe mich nicht nur als Model, ich sehe mich als Mutmacherin.“ Mit 50 noch einmal durchstarten, auch dafür will sie Mut machen. Und: Graue Haare haben und stolz auf sein Äußeres sein, das geht! Es ist noch gar nicht lange her, dass sie aufgehört hat, sich blond zu färben. „Meine Haare waren kaputt. Ich musste einfach eine Entscheidung treffen. Sie wurden immer dünner und meine Kopfhaut war sehr gereizt.“ Und wie hat die Modewelt das aufgenommen? „Sehr gut, sehr gut. Meine Agentur war happy. Frauen sprechen mich an und auch Männer. Sie finden es cool.“ In anderen Ländern, den USA und Groß Britannien zum Beispiel, sei man sowieso weiter, da gebe es schon seit längerem viel mehr anerkannte Grey Hair Models. Soll ich sie fragen oder ist das zu indiskret? Nutzt sie Botox? „Nein, ich bin nicht gebotoxt. Ich habe ein bisschen Angst davor; ich bin nicht sehr experimentierfreudig.“ Als Model, klärt sie mich auf, wird man jetzt auch gefragt und sollte besser die Wahrheit sagen. „Denn sonst kommst du zu einem Foto Shooting und kannst deine Stirn nicht bewegen. Oder du lachst und alles sitzt fest. Das sieht jeder und du hast unterschrieben, dass du nicht gebotoxt bist.“ Das ist ihr zu heikel. “Wenn jemand meint, dadurch ein besseres Selbstwertgefühl zu bekommen, warum nicht? Aber bitte nicht übertreiben, ich möchte die Person gerne wieder erkennen!“ Und wenn es ginge, wäre sie dann vielleicht doch gern wieder jünger? „Definitiv nein! Da hatte ich viel mehr Probleme. Als Jugendliche ist man schlaksig, hat zu große Füße, Pickel... und kaum Erfahrungen.“ Sie fand es damals viel schwieriger als jetzt, ihre Rolle zu finden. Heute weiß sie, wer sie ist. DIE WELT 10.12.2016

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Antarktis, Tschad, Mongolei – die Schriftstellerin Tina Uebel schreibt über ihre Reisen in alle Welt, bringt Literatur in Hamburger Musik Clubs und macht die Hansestadt zur Slamburg.

©Bertold Fabricius

Vielleicht sollten wir gleich zu Beginn mal ein hartnäckiges Gerücht aus der Welt schaffen: Nein, das „Uebel & Gefährlich“ gehört nicht Tina Uebel, nicht einmal zur Hälfte. Sie hat den Musikclub auch nicht mitgegründet. „Die haben einfach meinen Namen schanghait.“ Der anarchische Gebrauch alten Sprachguts und erfinderische Wortschöpfungen sind ihr Steckenpferd. Aber irgendwie versteht man immer, was sie meint. Eins stimmt, mit dem von ihr gegründeten „Machtclub“ hat sie einige Jahre lang Literaturveranstaltungen im „Uebel & Gefährlich“ organisiert. Jetzt gibt es keinen Machtclub mehr, sondern einen Yachtclub, der Autoren und Literatur im Nochtspeicher vorstellt. Hier ist sie tatsächlich Mitbetreiberin. Ihr Ziel bleibt dasselbe: Literatur aus gediegener Atmosphäre herauszuholen an einen Ort, wo man sich unterhält, ein Bier trinkt und auf Spitzendeckchen verzichtet. „In der Musik gibt es ja auch nicht nur die Staatsoper, sondern daneben die Garagenband“, sagt Tina Uebel, die mit ihren Poetry Slams dazu beigetragen hat, Hamburg zur Slamburg zu machen. Sie arbeitet als Literaturveranstalterin, ist selbst Autorin, hat Romane geschrieben, Kurzgeschichten, Reisebücher und Reportagen. 2012 erhielt sie den Hubert-Fichte-Preis. Gerade ist sie aus Mexiko zurückgekommen, sitzt jetzt im Schneidersitz mir gegenüber auf der Holzbank, vor sich einen Kaffee. Ja, das Kaffeekochen kriegt sie eben noch hin, ansonsten ist die Küche nicht ihr Feld. Als sie das erste Mal ihren Backofen in Betrieb nehmen wollte, musste eine Freundin sie darauf hinweisen, vorher die Plastikfolien aus dem Inneren zu entfernen. Sie lacht ein heiseres Raucherlachen und genießt einen tiefen Zug aus der Zigarette. Den Día de los Muertos (Tag der Toten) zu erleben, hat sie sich schon seit langem gewünscht. Jetzt hatte sie gerade ein paar Tage Zeit, genug Bonusmeilen und riesiges Fernweh. Also, ab nach Mexiko. Allein natürlich, denn dann kommt man sich nicht ganz so voyeuristisch vor wie andere Touristen, die in Gruppen über die mexikanischen Friedhöfe wandern, um zu beobachten, wie den verstorbenen Angehörigen Speisen und Getränke dargeboten werden. „Mir gefällt die Vorstellung, dass die Geister der Toten für einen Tag anwesend sind. Die Toten in Deutschland sind dagegen ziemlich einsam.“ Allein hat sie sich vor ein paar Jahren auch auf den Weg nach Shanghai gemacht, wo sie ein Stipendium des dortigen Schriftstellerverbandes erwartete. Natürlich ist sie nicht einfach in einen Airbus gestiegen, sondern per Zug sieben Wochen lang durch acht Länder gefahren, über den Balkan, durch den Iran, Turkmenistan, Kasachstan, einmal quer durch China bis ans Ostchinesische Meer. In ihrer Wohnung zeugen Mitbringsel aus aller Welt von ihren Abenteuern: Statuen aus Afrika, buntgestickte Kissen aus Mexiko, Pfeil und Bogen, eine Penishülse aus Papua. „Das trägt dort der gepflegte Herr im Hochland. Im Tiefland knoten sie sich einfach Blätter um ihr Gelöt." Mitten im Dschungel traf sie tatsächlich Menschen, die noch nie einen Weißen gesehen haben. So wurden Tina und ihre zwei Begleiter auf Schritt und Tritt bestaunt. Das brachte ganz besondere Probleme: Es galt die Korowai abzulenken, um dann und wann in Ruhe die Notdurft zu verrichten. „Entweder einer blies Ballons auf oder ich fing an, mir die Haare zu kämmen. Das war ein echter Blockbuster!“ In ihrer Fabrik-Etagen-Wohnung herrschen Wüstentemperaturen, als fürchte sie, der über zwei Meter langen, dürren Holzfigur aus Afrika, die an einem Pfeiler lehnt, könne kalt werden. „Ich bin ein Frierkind“, erklärt sie mir und erstaunt mich damit, denn ihr neuestes Buch „Die S.E.A. Expedition“ beschreibt eine Reise durch die Antarktis. Gemeinsam mit Nikolaus Hansen, dem Verleger und Mitinitiator des Harbour Front Literaturfestivals, begab sie sich auf die Spur des Polarforschers Ernest Shackleton, der es vor hundert Jahren mit übermenschlicher Anstrengung schaffte, seine Crew zu retten, nachdem das Packeis sein Schiff zerstört hatte. „Zelten im Eis – es gibt nichts Schöneres!“ stellt Tina Uebel fest, obwohl sie es doch so gerne warm hat. „Man sollte das nicht heroisieren. Ich mache das, weil es mich fundamental glücklich macht, nicht, weil ich etwas beweisen will.“ Seit zehn Jahren folgt sie ihrer Polar-Obsession, die begann, nachdem sie ein Buch – Bücher sind ihre Inspiration – über den Wettlauf der Polarforscher Robert Falcon Scott und Roald Amundsen zum Südpol gelesen hatte. „Ich bin dann auf einem Eisbrecher dort gewesen und dachte, das wäre die Erfüllung eines Lebenstraums, aber nein“, das ruft sie laut und lang gezogen durch den Raum, „es war der Beginn einer lebenslangen Obsession.“ Ungewöhnliche Reisen erfordern Vorbereitung: das Rauchen abgewöhnen, mit vielen Nikotinpflastern, mindestens sechs Stunden Sport in der Woche, Ausdauer- und Krafttraining. Auf Skiern das antarktische Südgeorgien durchqueren, mit dem Jeep im Wüstensand des Tschad steckenbleiben, durch die Mongolei reiten, mit minimaler Ausstattung auf dem Kongo von Kisangani nach Kinshasa schippern... Immer in Bewegung, das findet sie gut. „Zu viel Gemütlichkeit macht mich nervös!“ Zum Chillen an den Strand, das geht gar nicht. Tina Uebel kann sich nur „in action entspannen“. Zum Beispiel beim Wandern in den Alpen. „Aber nicht nur fünf Stunden am Tag, es müssen schon zehn bis zwölf sein. Sonst bin ich nicht ausgelastet und nicht glücklich.“ Schon als Kind schickte sie ihre Puppen zum Nordpol oder an den Amazonas, ließ sie auf Zugdächern Hobo-Abenteuern entgegenreisen. Selbst Kinder haben wollte sie noch nie. „Ich glaube, das Fernweh und die Abenteuerlust sind genetisch.“ Dabei waren ihre Eltern durchaus sesshaft und ein Teil von Tina ist es auch. 1969 in Hamburg geboren, in Volksdorf aufgewachsen, lebt sie schließlich noch immer hier. Keine Geschwister, der Vater Kaufmann, die Mutter am Theater, zunächst als Schauspielerin, dann als Regieassistentin und später freie Journalistin. Tina, ein Bücherwurm mit Brille, schlecht im Sport: „... wie ein nasser Sack über dem Stufenbarren ...“, aber gut in allen anderen Fächern. Sie will schon damals Schriftstellerin werden, macht ihr Abi und beginnt ein Germanistik-Studium. „Nach drei Mittwochen“ bricht sie ab, studiert stattdessen Illustration und Grafikdesign, um nach vier Jahren festzustellen, „dass ich nicht malen und nicht zeichnen kann“. So unterirdisch können ihre Talente allerdings nicht gewesen sein, denn sie beschließt das Studium mit einer glatten Eins. Tatsache aber ist, dass sie sich in dieser Zeit hauptsächlich mit kreativem Schreiben beschäftigt und mit anderen Studenten den Verlag „No-Budget-Edition 406“ gegründet hat. Mit dreißig schreibt sie ihren ersten Roman „Ich bin Duke“, inspiriert von der virulenten Debatte um Gewalt, um Schulmassaker, Ego-Shooter-Spiele, brutale Filme. „In unserer Gesellschaft ist das Wort Aggression ein ausschließlich negativ besetztes. Aber es gibt hunderttausend gute Arten von Aggression“, kritisiert sie. „Aggression, die sich gegen Missstände und Ungerechtigkeiten richtet, die Menschen sagen lässt, ich bekämpfe jetzt die Schlechtigkeit der Welt, und koste es mein Leben – das ist doch eine großartige Art des Kriegertums.“ Auch der Polarforscher Shackleton, meint sie, hätte ohne solche Impulse nicht überlebt. Eine ihrer Reisen führt sie zu einem Voodoo Orakel. Das stellt fest: „Du bist ein Krieger.“ Endlich fühlt sie sich verstanden: „Endlich spricht das mal jemand aus. Endlich bin ich in einer Kultur, die das anerkennt!“ Sie ist Atheistin, glaubt nicht an irgendwelchen Spökenkiekerkram. Aber sollte sie sich doch noch mal eine Religion zulegen, wird es garantiert westafrikanischer Voodoo sein. „Allein schon, dass alle Götter rauchen und saufen! My kind of religion! Was für ein Privileg für einen atheistischen Raucher, wenn einem so ein Gott eine Kippe anbietet.“ Monotheismus, das ist einfach nichts für sie, dieses Konzept One–Size–Fits–All, ein Gott passt für alle. Nein. Bei den Voodoo-Göttern, da finden die unterschiedlichsten Menschen einen, der zu ihnen passt. „Einer meiner Götter steht da“, sie zeigt auf eine hölzerne Statue in der Ecke, „das ist Shango, der Krieger der Gerechtigkeit, die weibliche Version, er hat Möpse.“ Shango, der Donnergott, für Tina, die Kriegerin.

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Filme machen – Filme gucken

Regisseurin Hermine Huntgeburth hält nichts von Demokratie am Drehort. So mache man keinen guten Film, erklärt sie. Ende November können wir ihren Polizeiruf „Sumpfgebiete“ sehen.

© Bertold Fabricius

Für ihren ersten Spielfilm vor 25 Jahren – eine schwarze Komödie um Heiratsschwindelei mit dem Titel „Im Kreise der Lieben“ – hat sie gleich den Bundesfilmpreis erhalten. Damit legte Hermine Huntgeburth, die nicht nur Regie führte, sondern auch das Drehbuch geschrieben hatte, den Grundstein für diesen besonderen Humor, den ihr die Filmwelt nachsagt. Dem Bundesfilmpreis folgten viele weitere Auszeichnungen. Wie wurde sie so erfolgreich? „Ich habe keine Ahnung“, antwortet sie. „Eins habe ich wohl richtig gemacht, ich habe immer nur genau das getan, was ich wollte, nur Projekte, von denen ich überzeugt war. Ich habe meinem Instinkt getraut.“ Und der hat sie zielsicher von einem erfolgreichen Filmprojekt zum nächsten geführt. Vier davon haben den renommierten Grimme Preis erhalten. Darunter 2004 die Verfilmung des Kultbuches „Neue Vahr Süd“, eine komische Rückführung in das Jahr 1980, wo ein gewisser Frank Lehmann seinen Dienst bei der Bundeswehr absolvieren muss, weil er schlichtweg verschlafen hat, den Kriegsdienst zu verweigern. Der Roman des Element of Crime Sängers Sven Regener wurde ein Bestseller. “Das ist ja ein bisschen irre, das ganze Ding“, erinnert sich Hermine Huntgeburth, „die Arbeit daran hat mir sehr gut gefallen. Die Zeit, in der die Handlung spielt, war interessant und auch der Versuch, so ein junges Gefühl herzustellen.“ Gibt es Filme, auf die sie besonders stolz ist? „Nee...“ Die besonders gut gelungen sind? „Da gibt es einige, die ich gut gelungen finde.“ „Neue Vahr Süd“ gefällt ihr, ebenso „Männertreu“, ein gleichfalls Grimme gekröntes Fernsehdrama, in dem ein erfolgreicher Verleger (Matthias Brandt), seine Frau (Suzanne von Borsody) nicht nur mit der Volontärin, sondern auch mit der eigenen Schwiegertochter betrügt. „Jeder Film muss für mich eine Herausforderung sein“, betont Hermine Huntgeburth und lässt keinen Zweifel daran, dass sie sich jeder Herausforderung auf diesem Sektor gewachsen fühlt. Die Lesebrille ins ungebändigte Haar geschoben erscheint sie keineswegs großspurig, sondern einfach nur entschlossen und fokussiert. So selten lacht sie, dass ich mich frage, wie der Witz den Weg in ihre oft humorvollen Filme findet. Mit ihrem Mann, dem Drehbuchautor Volker Einrauch, lebt sie im quirligen Ottensen. Die gemeinsame Tochter ist inzwischen erwachsen und studiert Medizin. Hermine Huntgeburth und Volker Einrauch betreiben, zusammen mit dem Autor Lothar Kurzawa, die Filmproduktionsfirma Josefine, auch in Ottensen ansässig. Auf ein Genre hat sie sich nie festlegen lassen. Dem erfolgreichen Kinderfilm „Bibi Blocksberg“ folgte bald die dramatische Verfilmung des Bestsellers „Die weiße Massai“, uraufgeführt auf dem Internationalen Filmfest in Toronto und der erfolgreichste deutsche Film des Jahres 2005. „Es ist furchtbar, wenn man auf eine Richtung festgelegt wird. Nie dasselbe noch mal!“ Sie kleckert ein bisschen, als sie mir Tee nachschenkt und wischt den Fleck unwirsch mit der bloßen Hand vom Tisch. „Klar, bekam ich nach Bibi Blocksberg neue Kinderfilm-Angebote, aber die habe ich einfach nicht angenommen.“ Ihre Antworten fallen eher knapp aus, fast wirkt sie ein wenig unwillig im Gespräch. „Ich bin kein Alleinunterhalter“, betont sie, deren Filme so unterhaltend sind. „Ich muss nicht immer Riesenvorträge halten.“ Das liegt wohl in ihrer Herkunft begründet. Den Ostwestfalen sagt man allgemein Zurückhaltung nach. Hermine Huntgeburth wurde 1957 in Paderborn geboren, wo sie als eines von zehn Kindern aufwuchs. Sechs Schwestern hat sie und drei Brüder. „Das ist ein sehr lebendiges Leben. Man ist nie allein und hat viele Freunde innerhalb der Familie. Das Haus war immer voll.“ Die Eltern waren beide Ärzte, der Vater „sehr streng und sehr katholisch“. „Man musste sich benehmen und in die Kirche gehen.“ Aber zum Glück sind zehn Kinder nicht lückenlos zu beaufsichtigen. Hermine ist bis heute ein Familienmensch, sagt sie von sich selbst. Doch hatte sie sehr schnell den Wunsch, der kleinstädtischen Enge zu entfliehen. Kino und Bühnen faszinierten sie schon als Kind. Als Garderobenmädchen fand sie regelmäßig Einlass ins Theater. Nein, schauspielern wollte sie nie; schon immer schwebte ihr die Regie vor. „Das war eigentlich ein sehr naiver, fantastischer Wunsch. Witzigerweise ist er wahr geworden.“ Die Eltern äußerten keine Einwände gegen den Berufswunsch. „Sie hatten ja genug andere Kinder, aus denen etwas Anständiges geworden ist“, sagt Hermine Huntgeburth mit dem Anflug eines Lächelns. Sie bewirbt sich an Filmhochschulen in Berlin und München, wird aber abgelehnt, sodass sie sich schließlich an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg einschreibt, wo es einen Studiengang „Visuelle Kommunikation“ mit einer Abteilung Film gibt. In Hospitanzen und Regieassistenzen lernt sie, wie man sich den Schauspielern nähert. „Ganz ohne Erfahrung hat man schon ein bisschen Angst, mit Schauspielern umzugehen. Das sind schließlich starke Menschen.“ Ihr Handwerk hat sie im wesentlichen autodidaktisch erlernt. Nach dem Examen studiert sie mit einem DAG Stipendium für eine Weile in Australien, lernt Drehbücher zu schreiben, kommt zurück, beeindruckt mit Kurzfilmen und erhält Unterstützung von der Hamburger Filmförderung für ihren ersten großen Film „Im Kreise der Lieben“. Wie kam es denn, dass sie so schnell gefördert wurde? „Keine Ahnung“, erwidert sie trocken. „Weil die das gut fanden wahrscheinlich.“ Um so erstaunlicher, als Frauen im Regie-Geschäft bis heute keinen leichten Stand haben. Hermine Huntgeburth engagiert sich deshalb im Verein Pro Quote Regie dafür, dass mindestens 30 Prozent der Aufträge für deutsche Film- und Fernsehproduktionen an Regisseurinnen vergeben werden. Eine moderate Forderung, meint sie. „Man könnte ja auch sagen, die Männer waren eine ganze Zeit dran, deshalb jetzt 100 Prozent für die Frauen.“ Vielfältig ist ihre Aufgabe als Regisseurin: Aus dem Drehbuch eine Regiefassung erstellen, Absprachen treffen für Casting, Ausstattung, Kostüm und Kamera, Motive suchen (das mag sie gar nicht). Nach dem Dreh Rohschnitt und Feinschnitt mit der Cutterin, Musik komponieren lassen, dann die Postproduktion für Details, Lichtbestimmung und Farbgebung zum Beispiel. Mit digitaler Technik lässt sich das Bild im Nachhinein noch sehr beeinflussen. Den größten Spaß, erklärt sie mir, hat sie beim Drehen, in der Arbeit mit den Schauspielern. Beim Film, so lerne ich, wird nicht diskutiert. Jedenfalls nicht, wenn Hermine Huntgeburth Regie führt. „Die Arbeit ist sehr stark hierarchisch orientiert“, klärt sie mich auf. Es werden also selten Team-Entscheidungen getroffen? „Nie“, antwortet sie entschieden. „Nie!“ Gefällt ihr das? „Ja.“ Es ist ein ganz selbstverständliches Ja. Sie bemerkt, dass ich etwas fragend dreinschaue und gönnt mir eine längere Erklärung: „Es gibt tausend Wege, die irgendwo hinführen. Man muss sich entscheiden, welcher Sichtweise man folgen will. Es ist falsch, alle zu fragen und abzuwägen. Daraus kann nichts werden! Die Regie muss das Drehbuch zu ihrem eigenen machen und dann loslegen.“ Natürlich, lenkt sie etwas versöhnlicher ein, unterhalte sie sich mit Abteilungsleitern und anderen Chefs über deren Vorstellungen. “Aber im Prinzip geht es darum, herauszufinden, was ich will, anders funktioniert das nicht!“ Die Filme, die so entstehen, atmen keineswegs Rigorosität und Strenge. Sie sind vielschichtig, oft witzig, auf feine Art humorvoll, manchmal tragisch, immer berührend. Da ist das Arbeiterkind aus dem Rheinland, das über Umwege seinen Platz im Gymnasium findet („Teufelsbraten“, nach einem Roman von Ulla Hahn) oder der „böse Friedrich“, der sich an der Frankfurter Tatort-Kommissarin rächen will, gespielt – durchdrungen vom Bösen – von Nicholas Ofcharek. „Das hatte eine ganz bestimmte Art von Virilität und Körperlichkeit“, erinnert sich Hermine Huntgeburth an die Dreharbeiten. Mit einem anderen Hauptdarsteller wäre der Film vielleicht ganz anders geworden. Als wir uns treffen, hat sie gerade die Arbeit am Polizeiruf „Sumpfgebiete“, der Ende November ausgestrahlt wird, abgeschlossen. Hermine Huntgeburth lebt für den Film und mit dem Film. Ein perfekter Sonntag ist einer, an dem sie etwas zu arbeiten hat. Na gut, manchmal genießt sie auch einfach das schöne Wetter in ihrem Garten in Mölln. Und was macht sie, wenn sie keine Filme macht? Sie lacht kurz. Filme gucken. DIE WELT 12.11.2016

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©Bertold Fabricius

Sie ist die einzige biologisch echte Frau in der Truppe von Olivia Jones. Burlesque Tänzerin Eve Champagne führt abends über den Kiez und verrät, was sie bei Tageslicht macht.

Ihre Touren durch St. Pauli sind immer ausgebucht. Mit derbem Charme ruft Eve Champagne freitags und samstags gegen 19 Uhr ihre Gäste zusammen, heute überwiegend Männer: „Ach du Scheiße, ich hab den schwulen Fußballverein erwischt.“ Gelächter und Gegröle. Damit auch wirklich alle in die richtige Stimmung kommen, reicht sie jedem von uns am Eingang des St. Pauli Museums in der Davidstraße eine Flasche mit dem Etikett „Sin No. 8“. Die achte Todsünde. „Dieses Getränk verbindet das Heidnische mit dem Religiösen“, erklärt uns Eve den Mix aus Bier und Weißwein. Ihr Lippenstift, passend zu den feuerroten Haaren hinterlässt Spuren an der Flasche. So bestens prepariert ziehen wir hinter ihr her über den Hans-Albers-Platz. „Je mehr ihr sauft und je mehr ihr kokst, desto mehr sieht das aus wie Hans Albers“, kommentiert sie mit ihrer tiefen rauen Stimme die von Jörg Immendorf gestaltete Skulptur in der Mitte des Platzes. „Eve, du geile Sau“, ruft einer quer über die Straße. „Ich weiß!“ ruft Eve Champagne lachend zurück. Vorbei am Silbersack geht es durch den Wochenendtrubel in die Schmuckstraße. Hier auf dem Transenstrich hat sie fünf Jahre lang gewohnt. „Ich hab mich für das Salz der Erde gehalten, und dann kam so eine brasilianische Umgebaute und ich dachte: Was bin ich hässlich!“ Als Teenager, das erzählt sie mir ein paar Tage später in ihrer pinkfarben gestrichenen Küche, sei sie tatsächlich so hässlich gewesen, dass sie deswegen gemobbt wurde. Trotzdem, ihr größter Wunsch war auch da schon: Rauf auf die Bühne, auf welche auch immer. Gesehen und erkannt werden, davon träumte sie schon als Kind. Gibst du mir ein Autogramm? Kann ich ein Foto mit dir machen? Diese Fragen wollte sie hören. „Ich war aufmerksamkeitssüchtig und schon immer eine Rampensau.“ Jetzt steigen wir erstmal eine finstere Treppe hinab in den SM-Keller. Der wurde extra für die Touren eingerichtet. Mit einem riesigen Gummipenis in der Hand erklärt sie uns bildreich, wie die „fuck machine“ funktioniert. Fotografieren ist hier unten ausdrücklich erwünscht. Sie spickt ihre Reden mit eindeutigen Zweideutigkeiten. „Ich lege euch das wärmstens ans Genital...“, sagt sie oder: „Auf der Bühne dürft ihr mich gleich blickficken.“ Jeden Freitag und jeden Samstag tritt sie in Olivias Show Club als Burlesque-Tänzerin auf. „Während beim Striptease das Nacktsein zelebriert wird, wird beim Burlesque-Tanz das Ausziehen zelebriert und gewisse Körperstellen bleiben bedeckt.“ Mit ihren bis zu sechzehn Zentimeter hohen Absätzen bringt sie 1,95 Meter auf die Bühne und schwebt über dem Publikum, das sie begeistert beklatscht. Was sagen denn ihre Eltern zu ihren Auftritten? Stolz seien die, meint Eve. Ihre Mutter, von Beruf Krankenpflegerin, hilft ihr beim Anfertigen der Kostüme. Beide Eltern sind aus Polen eingewandert. Der Vater, ursprünglich Seemann, arbeitete während ihrer Kindheit in Bremen in einer Chemiefabrik. „Meine Eltern sagen, ich sei als Kind unglaublich umgänglich und brav gewesen.“ Brav? Na gut, das ist ja auch schon eine Weile her. Eve ist inzwischen 32. Als ich sie nachmittags um vier Uhr zuhause – auf St. Pauli natürlich, wo sonst sollte sie wohnen? – besuche, kocht sie gerade Mittagessen. Seelachs mit wildem Reis und Gemüse. Ich setze mich auf einen der alten Theatersessel in der Küche und bewundere die mit Leopardenmuster beklebten Schränke und den grünen Drachenkopf an der Wand. Ehrlich gesagt, so völlig ungeschminkt, mit streng zurückgebundenen, kaum noch roten Haaren und der eckigen dunklen Brille hätte ich sie kaum wiedererkannt. Ist das jetzt nicht mehr Eve Champagne, sondern Evelyn Szepa (so ihr Geburtsname)? „Nein“, widerspricht sie entschieden. „Ich bin immer noch dieselbe extrovertierte Person, vielleicht ein bisschen entspannter und naturverbundener. Im Kleid bewegt man sich eben anders als in Shorts. Aber eigentlich besteht der Unterschied nur im Glitzer und in der Farbe.“ Ihr Mitbewohner (Mitbewohnerin sollte ich korrekterweise sagen) „Veuve Noir“ schwirrt mit schmalem nacktem Oberkörper durch die Küche, mitten in der Schminksession für den Abend, greift mit langen schwarzen Fingernägeln zur Kaffeemaschine. Fürs Einkaufen und Kochen ist Eve zuständig. „Ich mag mich kümmern. Ich bin sozusagen die Schwullandheim-Aufseherin und es liegt mir am Herzen, dass alle zufrieden sind. Aber ich bin nicht sentimental. Wenn sich jemand bei mir ausheulen will, dann sorge ich für Ablenkung: Essen, Filme gucken.“ Wenn sie sich so gerne kümmert, will sie dann mal eigene Kinder haben? „Eins würde ich gerne noch schaffen. Aber nicht vor 35, weil ich noch so viel von der Welt sehen möchte!“ Wenn es nicht klappe, ergänzt sie, wäre es auch keine Tragödie. „Ich habe genug Dragqueens und Homosexuelle, auf die ich aufpassen kann. Das sind dann meine Kinder.“ Ihr Freund habe sowieso Vorbehalte, nein, nicht gegen ihre Auftritte, sondern gegen eigene Kinder. Er ist Polizist in Niedersachsen. Nicht ihr Ernst, oder? Doch, sie haben seit zehn Jahren eine offene Beziehung. „Er arbeitet sehr bürgernah mit mir. Ich schlafe also mit dem Staat. Die Stripperin und der Bulle...“ Das gefällt ihr! Ist sie gerne vulgär? „Ich mag definitiv provozieren. Und das kann man am einfachsten, indem man vulgär ist. Oder sich nackt macht.“ Eve Champagne bringt das Ordinäre auch auf ordentliche Bühnen. Sie arbeitet u.a. für die Holsten-Brauerei, die Galerie Lafayette oder die Modemesse „Bread & Butter“. Sie ist ausgebildete Hotelfachfrau und professionelle Barmixerin. Gelernt hat sie im East Hotel und vor fünf Jahren angefangen, nebenbei für Olivia Jones zu arbeiten. Schon als Kind hat sie davon geträumt, so auszusehen wie Marlene Dietrich und Rita Hayworth. Ein riesiger Kleiderschrank aus den 1940er Jahren beherbergt ihre Kostüme, gegenüber ein etwas jüngerer Schminktisch mit dreiteiligem Spiegel. Drei bis vier Stunden dauere die „Umwandlung zur Granate“, verrät sie mir. Die Rückwärtsverwandlung ist in fünf Minuten erledigt. Als sie 2007 ihren ersten Auftritt hatte, war gerade ihre Großmutter gestorben. „Das ist der Anfang deiner Karriere, deines Traums. Warum sollst du da mitkommen zu einem so traurigen Ereignis?“ mit diesen Worten befreite sie die Mutter von der familiären Pflicht, zur Beerdigung zu erscheinen. „Ich habe mich mit ein paar Ave Marias bei Oma entschuldigt. Und dann ist der Auftritt auch gut geworden.“ An diesem Abend erleben wir in Olivias Show Club wie sie sich als Eisprinzessin schrittweise mit lasziven Gesten ihres meeresblauen Kostüms entledigt bis nur noch Eisblumen und ein schmaler Tanga ihre intimsten Stellen bedecken. In den Pausen mischt sich Eve unter die Besucher. Das macht sie gern, posiert bereitwillig mit schüchternen oder laut lachenden, nicht selten übergewichtigen Männern und Frauen für deren Familienalbum. Sie freut sich einfach, wenn sich alle in ihrer Nähe wohl fühlen, ihre Traurigkeit und ihre Probleme vergessen. Manchmal aber ist sie echt verärgert: Wenn die Leute den Dragqueens in die Haare oder an die Brüste greifen, als seien es ihre. „Da denke ich, Mensch, geht mal ein bisschen ‘raus in die Welt, schaut mal National Geographic oder lest mal ein Buch!“ Oder wenn jemand immer wieder nachfragt, ob sie denn wirklich eine Frau sei und ihr einfach nicht glauben will. „Da habe ich schon mal meinen Rock zur Seite gezogen und denen gezeigt, dass ich keinen Penis habe.“ Nach zwei Wochenend-Nächten in vollem Einsatz mit Hut und Korsett, stundenlangem Laufen und Tanzen in hohen, engen Schuhen passiert dann am Sonntag gar nichts mehr. „Da schaukel ich mir die Eierstöcke von rechts nach links und Veuve macht dasselbe mit ihren Hoden.“ Keine Angst vorm Älterwerden? Nein, das sei ja das Tolle am Burlesque Tanz, dass es keine Altersbeschränkung gebe. Sicher, die Älteren ziehen nicht mehr alles aus, nur noch den Handschuh und dann spielen sie mit ihrer Federboa... Vielleicht macht Eve Champagne auch eines Tages ein Boutique-Hotel auf mit einer kleinen Kabarettbühne. Oder ähnliches. Sie ist da sehr flexibel. Die Eve bei Tageslicht ist sportlich, außer Sonntags natürlich. Sie läuft regelmäßig, hat schon zwei Halbmarathons absolviert und den 4167 Meter hohen marokkanischen Jebel Toubkal bei Schnee und Eis bestiegen. Einen Sechstausender bezwingen, die Polarlichter sehen und mit Haien tauchen, das alles gehört noch zu ihren Plänen. DIE WELT 29.10.2016

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Zukunft bauen

Wie schaffen wir schnell und bezahlbar Wohnungen auf engem Raum? Das überlegt Architektin Karin Loosen und erklärt, warum sie es nicht mag, Häusern Kostüme zu verpassen.

© Bertold Fabricius

Vor wenigen Tagen hat ihr Architektenbüro eine Auszeichnung erhalten. Das Kulturzentrum Zinnschmelze in Barmbek wurde zum Bauwerk des Jahres erklärt. Mit einem Neubau aus dunkelbraunem Kupfer ergänzten Karin Loosen und ihre Kollegen das denkmalgeschützte Fabrikgebäude. Der Jury gefiel, dass Vorhandenes aufgewertet wurde, ohne es zu vertreiben. „Es war ein besonderer Auftrag“, freut sich die Architektin, „eher ein Bonbon, das machen wir nicht jeden Tag.“ Als ich sie besuche, sitzt sie auf ihrer eigenen Baustelle in Ottensen. Hämmern und Rufen. Hinter der Staubwand sei es ruhiger, meint sie bedauernd, aber eben auch staubig. So setzen wir uns an den langen Konferenztisch, um uns herum Muster für Glas und Bodenbeläge, Modelle, Ordner, Wasserkästen, alles durcheinander. „Jedes Büro braucht einen Bereich für kreatives Chaos, aber derzeit bewegen wir uns hier eher am Rande der Kreativität“, stellt sie mit einem ironischen Seufzer fest. Seit seiner Gründung vor zwanzig Jahren ist das LRW Büro enorm gewachsen. LRW steht für die Initialen der drei Partner: Loosen, Rüschoff, Winkler. Bei der täglichen gemeinsamen Kaffeepause drängen sich inzwischen an die dreißig Mitarbeiter um den Tresen im Eingangsbereich. Und Louis, ihr rumänischer Hirtenhund braucht auch noch seinen Platz. Karin Loosen befasst sich nicht nur mit dem Bau einzelner Häuser, vielmehr plant sie ganze Wohnquartiere. „Wie sind die Übergänge zwischen dem Innen und Außen, zwischen dem privaten und dem öffentlichen Raum?“ Mit anderen Worten: Wie komme ich zum nächsten Supermarkt und zur nächsten KiTa? Die Ansprüche an Architektur und Stadtplanung ändern sich mit den Lebensverhältnissen. „In der Nachkriegszeit waren die Lebensbereiche eher getrennt. Das hat auch etwas mit der Rolle von Mann und Frau zu tun: Frauen und Kinder zu Hause, Männer am Arbeitsplatz. Heute ist die Herausforderung, alles unter einen Hut zu kriegen: Arbeit, Spielplatz, schöne Wohnung.“ Wir machen einen kleinen Spaziergang um die Ecke in die Kirchentwiete, eine der ältesten Straßen in Ottensen, und sie zeigt mir, worauf es ihr und ihrem Team bei der Planung ankam. Wie drei Finger orientieren sich die Gebäude nach Süden, sodass lichte Außenflächen entstehen, obwohl hier jeder Winkel ausgenutzt werden musste. Zentral wollen die Menschen wohnen, aber es soll ja bezahlbar bleiben. Sie ist sichtlich stolz auf dieses Projekt. Die Hauszeilen sind leicht gekrümmt, sodass die Bewohner von innen schräg nach außen schauen, anstatt direkt ins gegenüberliegende Fenster. Mir wäre diese Raffinesse auf den ersten Blick gar nicht aufgefallen. Über die Flachdächer hinaus ragt der Turm der nahen Christianskirche. „Wir haben extra eine Abstaffelung an dem Gebäude vorgesehen, damit man den Kirchturm sehen kann. Solche Dinge sind uns wichtig, bei allem Druck, jeden Quadratmeter auszunutzen!“ Gewandelt haben sich nicht nur die Anforderungen an die Architektur, sondern auch die Arbeitsweise. Karin Loosen erinnert sich an die Anfänge des Büros, als sie Pläne für städtebauliche Wettbewerbe noch mit der Hand koloriert hat. „Sie haben sehr große Gebiete, die farbig angelegt werden müssen. Das haben wir alles mit Buntstiften gemacht, nachts zu zweit mit einer Flasche Rotwein.“ Es war lustig, es war sinnlicher, hat aber viel Zeit gekostet. Heute übernehmen Zeichenprogramme diese Arbeit. Also kein Rotwein mehr? „Tja, die Nachtschichten sind eben weniger geworden.“ Als Schülerin und Studentin hat sie im Architekturbüro ihres Onkels die Pläne noch mit der Rasierklinge korrigiert. Hat sie so zu ihrem Beruf gefunden? Das Beispiel des Onkels mag einen Anstoß gegeben haben, hauptsächlich gefiel ihr aber an der Architektur die Mischung von Kreativität und Unternehmertum. „Es ist ein Generalistenberuf. Ich wollte immer gerne etwas tun, wo am Ende Materie entsteht. Eine unternehmerische Ader habe ich auch; ich bin gerne Managerin.“ Das unternehmerische Talent hat sie vom Vater, der sich als Vertriebsleiter eines großen Getränkehandels auch mit Marketing- und PR-Fragen beschäftigte. So war Karin Loosen schon früh klar, dass es nicht nur darum ging, gute Ideen zu haben, sondern auch um die Frage: Wie verkaufe ich meine Idee? Wie überzeuge ich Menschen und eröffne Märkte? Aufgewachsen ist sie in einem Mainzer Vorort, geboren in Koblenz, 1965. Sie liebt die Weinkultur Rheinhessens und des Rheingaus, war als Schülerin regelmäßig in der Weinlese und freut sich jetzt über die unerwartete Renaissance, die der Riesling erfährt. Dennoch ließ sie sich nach dem Studium in Darmstadt gern von einer Professorin nach Hamburg locken, mochte schon immer die nördliche Weite, den Himmel und das nordische Temperament. Wie möchte sie selbst am liebsten wohnen? Da hat sie’s ziemlich gut, von allem etwas. In der Woche urban, in einer Etagenwohnung unweit des Büros. Am Wochenende mit ihrem Lebensgefährten und seinen zwei Söhnen im Haus mit Garten nördlich von Hannover. „Wenn zwei Selbstständige sich zusammentun, dann muss man schauen, dass jeder sein Arbeitsumfeld halten kann. Deswegen haben wir uns geeinigt, die Wochenenden auf dem Land zu verbringen.“ In der Woche bleibt sowieso nicht viel Zeit. Karin Loosen ist sehr aktiv in verschiedenen Berufsverbänden, u.a. im Vorstand der Bundesarchitektenkammer. Seit zwei Jahren ist sie Präsidentin der Hamburgischen Architektenkammer, eine ehrenamtliche Tätigkeit. In dieser Funktion macht sie sich Gedanken über die Weiterentwicklung Hamburgs. Es zieht heute immer mehr Menschen in die Stadt, nicht nur Flüchtlinge. „Wir wissen, dass wir neue Quartiere mit vielen Wohneinheiten entwickeln müssen. Steilshoop will kaum jemand, Mümmelmannsberg auch nicht. Wie also soll das aussehen? Wie dicht wollen wir bauen? Wie hoch? Wie teuer?“ Was derzeit gebaut wird, sei zu ähnlich, zu uniform, hört sie häufig. Warum gibt es keine Satteldächer mehr, überall nur Flachdächer? „Das hat einen ganz einfachen Grund“, erklärt sie mir, „die Leute wollen heute keine Schrägen in ihren Wohnungen, sondern ein voll nutzbares oberstes Geschoss. Die Ansprüche haben sich geändert, aber die Sehnsucht nach Romantik ist noch da.“ Früher waren die Dachwohnungen in der Stadt eher der Ort fürs Personal. Heute nennen sie sich Penthäuser und erzielen für Ausblick und Besonnung die höchsten Preise. „Der Maßstab, nach dem wir Architekten planen, ist ja nicht die Form, sondern zuerst die Funktion. So sollte es jedenfalls sein“, befindet Karin Loosen. Also hält sie nichts davon, der Nostalgie ein wenig nachzugeben und an alte Zeiten zu erinnern, wie es zum Beispiel ein großer Neubau nicht weit von hier tut, dessen Fassade mit klassizistischen Elementen aufgelockert wurde? Nein, dafür hat sie gar nichts übrig: „Das Gebäude ist nicht neu, es ist nicht alt, es ist wie ein Zitat. Als würde ich mir ein Kleidungsstück anziehen, das einen barocken Kragen hat, weil ich Barock ganz schick finde. Ich finde das Problem löst man nicht, indem man den Häusern Kostüme verpasst.“ Sondern wie? „Man sollte sich zum Beispiel mal fragen, ob die Grundstücke nicht in zu großen Einheiten verkauft werden. Müsste die Liegenschaft nicht die Flächen kleiner parzellieren? Vielfalt entsteht auch durch eine bestimmte Grundstückspolitik.“ In ihrer Arbeit sucht sie immer einen Sinn, will von einer Sache überzeugt sein, dann hat sie „endlos viel Energie“. „Manchmal überschätze ich mich auch ein bisschen“, sagt sie augenzwinkernd. „Vielleicht liegt es am Sternzeichen, ich bin Jungfrau, die will immer unermüdlich den Dingen auf den Grund gehen.“ Ein Leben ohne Aufgaben und Ziele? Unmöglich! „Selbst wenn ich mir vorstelle, ich wäre jetzt 70 und ohne Büro, ich hätte immer irgendetwas, das ich auf die Beine stellen wollte.“ Aber so weit ist es ja noch lange nicht. Was ist ihr aktuelles Ziel? Den eigenen Umbau bewältigen. „Wir bauen ja im Prinzip Zukunft, wir bauen Alltag, zeigen den Menschen Perspektiven auf, wie sie ihre Lebensqualität verbessern können.“ Da möchte sie auch für sich und ihr Team eine gute Atmosphäre schaffen. DIE WELT 22.10.2016

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Von der Plakatmalerin zur preisgekrönten Designerin. Katrin Oeding erfindet Wodka-Kraftstoff und betreut weltbekannte Marken.

©Bertold Fabricius

Katrin Oeding hat keine Ideen, sie macht welche. „Viele Kreative sagen, es müsse auch mal einen Tag geben, an dem man keine gute Idee hat. Aber ich bin mittlerweile so gut im Training, wie ein Sportler, dass ich immer Ideen machen kann.“ Sie gibt Unternehmen ein neues Aussehen, erfindet Marken und Produkte, traut sich in jede Branche, von der Kosmetik übers Essen bis zur Mode. Den neuen Duft von Nivea hat sie in einen reinen weißen Flacon gefüllt, den Biodünger von Blume 2000 dagegen in ein natürlich anmutendes Packpapier gewickelt. Sie meint, ihre potentiellen Kunden seien begeistert, wenn sie ohne Scheu zugebe, dass sie vom Produkt keine Ahnung habe und erst mal viele Fragen stellen müsse. Heute stelle ich ihr die Fragen, in ihrem ungewöhnlichen Studio in der Speicherstadt, einem Industrieloft mit Werkstatt-Charme. So weit ich dazu komme jedenfalls. Wenn Katrin Oeding einmal redet, dann redet sie auch … „Die Kreativität ist mein Lebenselixier“, schwärmt sie von ihrer Arbeit, „sich immer wieder Neues auszudenken und Lösungen zu finden.“ Selbst auf privaten Feiern wird sie das Gefühl nicht los: „Am Ende möchten alle von mir eine Lösung.“ Auch wenn sie während unseres Gesprächs gefühlte tausend Mal mit immer anderen Worten unterstreicht, dass sie die Welt am liebsten täglich neu erfinden würde, so weiß sie doch zu schätzen, wenn große Marken eine Geschichte haben, wie Nivea etwa. „Die Vergangenheit ist ein Pfund, mit dem man wuchern kann.“ Dann gilt es, das Frühere mit dem Heutigen zu verbinden. „Wie sollte ein Eau de Toilette von Nivea wohl riechen?“ hat sie sich gefragt. „Ich finde, nach Niveacreme. Damit verbinden viele Menschen ihre Kindheit. Der Duft braucht natürlich mehr Leichtigkeit.“ An das weltbekannte Design sollte die Verpackung erinnern und gleichzeitig innovativ sein. „In meiner Arbeit steckt viel Psychologie. Die besten Marken auf der Welt haben auch die höchsten emotionalen Werte.“ Harley Davidson zum Beispiel stehe mit seinen geschwungenen Flügeln weltweit für Freiheit auf der Straße. Muss sie sich mit einem Produkt identifizieren, um ein Design zu entwickeln? „Nein!“ antwortet sie ganz klar. Wenn ich zum Beispiel für Modemarken gearbeitet habe, sind manche Kunden traurig, dass ich ihre Mode nicht trage. Für mich wäre das eine sehr oberflächliche Identifikation.“ Schwarz trägt sie am allerliebsten, und Denim, gern ein wenig avantgardistisch, neue Stoffe, neue Schnitttechniken, ungewöhnliche Zipfel an den Enden ihrer Ärmel. Auch die Brille ist schwarz, ein scharfer Kontrast zu den streng zurückgebundenen weißblonden Haaren. Wir setzen uns an einen riesigen robusten Holztisch, wo sie wild und energisch in ihrem Latte Macchiato rührt. Die anwesenden Mitarbeiter verteilen sich im großen Raum, darunter zur Zeit Kreative aus Korea, Frankreich und Spanien. Katrin Oedings Ideen finden international Beachtung. Nur logisch, dass sie ihre Mannschaft bunt zusammen setzt. Zum Team gehört auch ihre Schwester Annett Oeding, die die Kommunikation übernimmt. Gute Gelegenheit für mich zu fragen, wie es denn so ist, mit Katrin zusammen zu arbeiten. „Wenn man sich auseinandersetzen möchte, dann funktioniert das sehr gut. Wenn man introvertiert ist und schüchtern, wird es schwierig. Aber inzwischen schafft sie es sogar, auch den Stillen ein paar Worte zu entlocken.“ Katrin Oeding steht daneben und lacht. Die Schreibtische gruppieren sich um sieben, acht Motorräder, die in der Mitte der Fabriketage ausgestellt sind. Eine eigene Marke: Ehinger Kraftrad. Die Manufaktur betreibt sie mit ihrem Mann Uwe Ehinger, der sich 1979 als 19-jähriger auf den Weg machte, um verschollene Harleys in verstaubten Garagen Asiens, Süd- und Nordamerikas aufzuspüren. Jetzt bauen Katrin und Uwe ihre eigenen Modelle, Motorräder ohne viel Klimbim und Verkleidung, auf das Nötigste reduziert. Sie ist mit Motorrädern aufgewachsen, und zwar im mecklenburgischen Ludwigslust. „Ich habe Benzin im Blut“, behauptet sie. Direkt neben ihrer Schule gab es eine Rennbahn. „Wir sind alle Motorrad gefahren oder Moped. Natürlich gab es nicht so tolle Maschinen wie im Westen, aber wir haben immer das Beste daraus gemacht.“ Als sie 1973 geboren wurde, haben beide Eltern noch studiert, Betriebswirtschaft. Der Vater arbeitete später beim „Konsum“, die Mutter bei der „HO“ (Handelsorganisation). Zu Zeiten der Grenzöffnung war Katrin siebzehn und machte gerade eine Ausbildung zur Plakatmalerin in Schwerin. „Erst als ich das erste Mal Hamburg besuchte, wurde mir bewusst, wie heruntergekommen bei uns alles war. Wir sind zwar auch gereist, aber nur in Länder, wo alles ähnlich verrottet war. Ich war erstaunt, wie schlecht es uns tatsächlich ging.“ Eigentlich hatte sie für die Zeit nach der Ausbildung schon einen Studienplatz sicher, aber dann wurden plötzlich alle Firmen geschlossen, sodass sie ihre Ausbildung nicht beenden konnte. Sie macht in Hamburg ihr Fachabitur nach, studiert anschließend Kommunikationsdesign. Nebenbei jobt sie, malt Messetafeln oder Kinoplakate. „Die wurden von Hand gemalt. Das gibt es alles gar nicht mehr.“ Heute noch bringt sie das Malen ihren jungen Mitarbeitern bei. „Ich finde es gut zu wissen, was man mit seinen Händen machen kann, außer sich auf einer Tastatur zu bewegen.“ Schon mit ihrer Diplomarbeit steigt sie ins Geschäft ein, beschäftigt sich nicht einfach mit einer Prüfungsaufgabe, sondern bearbeitet einen Auftrag der Agentur Jung von Matt, gegen Honorar natürlich. „Es war eine echte Aufgabe, keine imaginäre. Wozu sollte ich mich rein theoretisch so lange mit einem Projekt beschäftigen?“ Bei Jung von Matt ging sie durch eine „harte Mühle“, aber ihr gefiel das, sie lernte sehr viel. Zum Beispiel unter Druck zu arbeiten. Unter Druck läuft sie zu Hochform auf. Wenn ein Kunde eine komplett neue Marke entwickeln, sie am liebsten schon in einem halben Jahr online stellen möchte, aber zweifelt, ob der kurze Zeitraum ausreichend ist, dann nimmt sie die Herausforderung nur zu gern an. „Es macht großen Spaß, unter diesem Druck eine Lösung zu finden.“ Meist habe sie schon während des ersten Gesprächs die Lösung im Kopf, meint sie. „Dann rattert es die ganze Zeit. Wenn das nicht passiert, dann langweilt mich die Unterhaltung, und das ist wirklich schlimm.“ Einer ihrer Chefs hat sie mal ermahnt, nicht immer schon beim Orientierungsgespräch alles auf den Tisch zu legen. „Damit verdienen wir doch schließlich unser Geld!“ Von Jung von Matt geht sie als Art Director zu Philipp und Keuntje, von dort als Creative Director zu Kolle Rebbe, wo sie für Innovationen zuständig ist. Dort erfindet sie mit ihrem Team zwei Marken, die international beachtet und mehrfach preisgekrönt werden: „The Deli Garage“ bietet Foodprodukte für Motorrad-Liebhaber an, Wodka-Kraftstoff, Olivenöl zum Ölwechseln und Mehrzwecknudeln im Werkzeugkästchen. Mit der Kosmetikserie „Stop the water while using me“ bringt sie umweltfreundliches Shampoo, Duschgel und Seife auf den Markt. Rastlos ist sie, immer auf der Suche nach etwas Unbekannten, surft durchs Internet, liest, führt viele Gespräche. „Ich konfrontiere mich immer mit neuen Menschen.“ Was die ihr erzählen, das speichert sie ab. „Ich habe eine ganz eigene Archiv-Systematik im Kopf. Ich vergesse nichts!“ Außer Namen, die kann sie sich nicht so gut merken. Nein, gestresst fühlt sie sich nicht, denn: „Eigentlich arbeite ich ja gar nicht, weil ich nur mache, was ich mag.“ Eine Freude macht man ihr nicht unbedingt mit einem verpackten Geschenk, sondern eher mit dem Hinweis auf etwas noch nicht Dagewesenes oder einer Einladung in ein Café, das sie noch nicht kennt. Gibt es denn etwas, das sie noch nicht gemacht hat, aber gerne machen würde? „Ja, ein Auto designen!“ sagt sie sofort. Hat sie schon einen Entwurf im Kopf? „Ja-ha“, antwortet sie spitzbübisch und mich würde es nicht wundern, wenn sie eines Tages mit ihrem neuen Gefährt auf der Automesse aufschlagen würde. DIE WELT 01.10.2016

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Lieber eine Ohrfeige

Sie kennt sie alle persönlich, die großen Autorinnen und Illustratoren der Kinderbuchliteratur, von Erich Kästner bis Cornelia Funke. Auf einer ehemaligen Apfelplantage leitet Silke Weitendorf die Verlagsgruppe Oetinger.

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Auf dem Couchtisch in ihrem Büro liegt eine Erstausgabe von „Pippi Langstrumpf“, erschienen 1949 im dritten Jahr des Oetinger Verlages. Damals war Silke Weitendorf acht Jahre alt und die erste junge Leserin der deutschen Ausgabe. „Sehen Sie,“ sagt sie, „mit gelbem Farbschnitt oben, das macht man heute auch wieder.“ Andere deutsche Verlage zeigten sich an der frechen Pippi nicht interessiert, aber Silke Weitendorfs Stiefvater, Verleger Friedrich Oetinger, verliebte sich sofort in die unkonventionelle Kinderbuchfigur. Er sollte es nicht bereuen, auch wenn es eine ganze Weile dauerte, bis Astrid Lindgrens pferdestarkes Mädchen mit den roten Zöpfen zum Verkaufsschlager wurde und nicht unwesentlich dazu beitrug, dass Oetinger heute einer der bedeutendsten deutschsprachigen Kinderbuchverlage ist. Von der Fensterbank schauen uns die plüschigen Helden des Verlags zu: das Sams, Findus, die Olchis... Gegenüber eine ganze Wand voller Werke von Erich Kästner, James Krüss, Cornelia Funke und vielen anderen beliebten Autoren. Silke Weitendorf kennt sie alle persönlich, zum Teil schon aus ihren Kinderjahren. Denn ihr Stiefvater und Mutter Heidi betrieben die Verlagsgeschäfte aus einer Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung in Wellingsbüttel. „Er war eher der kreative Schöngeist, meine Mutter die treibende Geschäftsfrau.“ Schon als Kind ist Silke dabei, wenn mit Illustratorinnen und Autoren diskutiert wird. 1960 lässt sich der Oetinger Verlag hier auf dem Gelände einer ehemaligen Apfelplantage in Duvenstedt nieder und wächst stetig. Seither wird umgebaut und angebaut. Dieses Jahr wurde der 70. Jahrestag der Gründung gefeiert. Silke Weitendorf leitet die Verlagsgruppe, zu der heute acht Unternehmensgruppen zählen, gemeinsam mit ihrem Sohn Till und der Tochter Julia Bielenberg. Sohn Jan hat sich mit einem Teil des Familienunternehmens inzwischen unabhängig gemacht. Zum wiederholten Mal macht sich der Computer auf Silke Weitendorfs Schreibtisch bemerkbar: „Pling.“ Mit einer resoluten Geste springt sie auf, um den Ton abzustellen. „Das geht doch nicht!“ Die digitale Welt ist der 75-Jährigen keineswegs fremd, im Gegenteil, Oetinger ist bekannt für die Entwicklung von Innovationen auf diesem Feld. „Natürlich muss ich mich dafür interessieren! Ich sehe auch die Chancen für die Zukunft, aber ob wir damit erfolgreich sein werden, steht in den Sternen.“ Begeistert erzählt sie mir von den Apps, die ein Buch zum Film werden lassen, und personalisierten Büchern, in denen das lesende Kind selbst zum Helden wird. „Eine Gute-Nacht-Geschichte habe ich einmal für einen Enkel gemacht. Es war ein großer Spaß.“ Neun Enkelkinder hat sie, die ältesten haben gerade ihr Abi gemacht, der jüngste wurde vor wenigen Wochen geboren. Wenn sie gebeten wird einzuhüten, macht sie das gern – sofern sie Zeit hat. „Ich hatte nicht eine so behütete Kindheit, wie meine Kinder oder meine Enkelkinder mit so vielen sportlichen und musischen Möglichkeiten. Ich hatte feste Aufgaben“, erinnert sie sich ganz ohne Selbstmitleid. „Ich erledigte die Gartenarbeit, richtete das Abendbrot und machte die Betten. Abends wurde immer gearbeitet.“ Sie verpackte die Bücher zum Versand, brachte sie zur Post. Als der Preis für die ersten Kinder-Taschenbücher von 95 Pfennig auf 1,05 Mark angehoben werden musste, saß die ganze Familie, inklusive der Mitarbeiter und Silkes Freundin, abends zusammen und klebte neue Preisschildchen auf die Bücher. Später half sie in der Buchhaltung, addierte gemeinsam mit der Freundin Zahlenkolonnen. Das kann sie noch heute aus dem Effeff. Auch bis in die Nacht hinein am Schreibtisch zu sitzen, schafft sie mühelos. „Das macht mir nichts. Ich kann vieles ertragen.“ Sie hat auch einiges erlebt. Ihr leiblicher Vater ist im Krieg gestorben, da war sie zwei, es blieb keine Erinnerung an ihn. Die Wohnung wird ausgebombt, sie zieht mit der Mutter durch die Lande auf der Suche nach Unterschlupf bei Verwandten. Dann schließlich wird Hamburg zur Heimat und Friedrich Oetinger zum Stiefvater. Er ist streng und penibel. „Einfach auf dem Sofa räkeln, das gab es bei ihm nicht.“ Wenn er ewig lange Strafpredigten hielt, reagierte sie vorwitzig: „Predige doch nicht immer so! Gib mir lieber eine Ohrfeige!“ Das hat sie nicht gesagt?! Doch hat sie, aber der „Wunsch“ ging nur ein, zweimal in Erfüllung. In guter Erinnerung bleibt, dass Friedrich Oetinger sie früh ernstnahm. „Er hat mich sehr früh einbezogen und meine Meinung gern angehört.“ Nach der zehnten Klasse wechselt Silke zur Höheren Handelsschule. Dass sie kein Abitur gemacht hat, nagt immer ein wenig an ihr. Aber mit Latein kam sie nicht gut zurecht und der Stiefvater meinte, diese alte Sprache brauche sie sowieso nicht. Also lernte sie Französisch in Lausanne und Schwedisch in Stockholm. Halbtags arbeiten als Au-Pair, im Altersheim und im Rabén & Sjögren Verlag neben Astrid Lindgren, die andere Hälfte des Tages Sprachkurse besuchen. Dann ein Praktikum am Setzkasten einer Druckerei, ein weiteres in einer Buchhandlung. „Im Verkaufsgespräch habe ich natürlich immer versucht, unsere Bücher vorzustellen, weil ich die besonders gut kannte.“ Abends ging sie zuhause ins Bücherlager, packte Nachschub ein und machte sich dann morgens mit den vollen Taschen wieder auf den Weg zum Buchladen. In dieser Zeit befreundet sie sich mit ihrem späteren Mann, dem Wirtschaftsprüfer Uwe Weitendorf. Nachdem sie alles von der Pike auf gelernt hat, steigt Silke Weitendorf 1962 in das Familienunternehmen ein. „Seitdem bin ich hier“, stellt sie nüchtern fest und schaut sich um. Seit über fünfzig Jahren also. Das ehemalige Elternhaus beherbergt nun das Lektorat. Mühelos steigt sie vor mir die schöne alte Holztreppe hoch. Sie hält sich fit, fast jeden Morgen walkt sie durchs Wittmoor, das merkt man. Oben angekommen, zeigt sie mir das kleine Zimmer, wo Astrid Lindgren geschlafen hat, wenn sie zu Besuch war. Heute überall Schreibtische. „In der Nacht als Astrid Lindgren starb“, sie zeigt nach draußen in den Garten, „ist dort im Sturm eine alte Birke umgefallen.“ Der Schriftstellerin zu Ehren hat sie eine Linde pflanzen lassen. „Früher war das hier natürlich gediegener“, entschuldigt sich Silke Weitendorf, als wir in der Diele stehen. Die Eichenverkleidung lässt das noch ahnen. Kopfschüttelnd schaut sie auf ein paar dunkle Glühbirnen im Kronleuchter: „Das muss ich gleich aufschreiben. Ich bin mein eigener Hausmeister. Es guckt mich alles an, was getan werden muss.“ „Die Diele war der Mittelpunkt des Verlagslebens“, fügt sie hinzu. Lange Nachtsitzungen gab es hier, mit Autorinnen und Lektoren. Es wurde gegessen und viel diskutiert. „Man hat sich noch sehr viel Zeit genommen damals“, erinnert sie sich mit leichtem Bedauern und betont, dass sie versuche, ein wenig aus der guten alten Zeit in die heutige Verlagsarbeit hinüber zu retten. Intensiv kümmert sie sich um die älteren Schriftsteller, die das so gewohnt sind. „Autoren sind sensible Wesen. Man muss sie hegen und pflegen.“ Ach ja, wäre das noch so! Nach wie vor hält sie die Buchläden für den wichtigsten Partner der Verlage. „Amazon ist schon wichtig für uns, das ist klar. Aber der Buchhandel ist letztendlich der Wegbereiter für die Bücher.“ Mit dem Rückzug der Eltern steigt ihr Mann Uwe Weitendorf in den Verlag ein. „Er hat erstmal saniert. Das war hart.“ Völlig unerwartet stirbt er 1996 nach einer Herzattacke. „Da stand ich vor einer großen Aufgabe. Die unterschiedlichsten Meinungen sind an mich herangetragen worden.“ Hat sie überlegt, den Verlag zu verkaufen? „Andere haben das überlegt, ich nicht. Nein, habe ich mir gesagt, wir sind ein Familienunternehmen.“ Sie ist sofort wieder eingestiegen, hat ihr Lektoratszimmer verlassen und ist in das Büro ihres Mannes gezogen. „An seinen Schreibtisch. Ich habe alles übernommen.“ Hat sie immer noch die Fäden in der Hand? „Ja, ja!“ sagt sie und das klingt fast ein wenig beschwörend. Aber dann betont sie gleich: „Teilweise. Ich will mich künftig nicht mehr so einbringen. Das soll die nachfolgende Generation tun. Ich möchte meinen Kindern nicht den Weg verbauen.“ Und das Leben bietet ja noch andere schöne Dinge: Reisen mit Freunden und Segeln mit einem kleinen Boot namens Kikerikiste. Aber immer werden sie jene Dinge, die getan werden müssen, fordernd anschauen. DIE WELT 17.09.2016

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Auffällig sein – die Psychiaterin Manoshi Christina Pakrasi weiß, wie das ist. Sie baut Brücken zu den bunten Welten psychisch Kranker und engagiert sich auch für die Betreuung psychisch kranker Flüchtlinge.

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Sie kennt das selbst: Ungewöhnlich sein, eine Sonderstellung einnehmen. So wie ihre Patienten, die sich nicht einordnen können in den normalen gesellschaftlichen Alltag. „Als halbindisches Kind mit bayerischem Dirndl in einem niedersächsischen Dorf... Ich habe so viele Außenseiterrollen in mir vereint, da lag die Wahl der Psychiatrie nahe“, konstatiert Manoshi Pakrasi lachend, und natürlich möchte ich unbedingt wissen, wie denn ein halbindisches Kind in ein bayerisches Dirndl und damit in ein niedersächsischen Dorf kommt. Ihr Vater, erzählt sie mir, sei Inder, habe in München promoviert und dort ihre Mutter, eine bayrische Medizinstudentin, kennen gelernt. Sie heirateten, gingen zusammen nach Indien. Als Manoshi 1969 geboren wurde, beschlossen sie, nach Deutschland zurückzukehren, um ihrer Tochter alle Perspektiven offen zu halten, was in Indien für ein Mädchen nicht möglich gewesen wäre. Arbeit als Metallurge fand der Vater bei VW in Wolfsburg, und so landete die indisch-bayrische Familie im niedersächsischen Weddel. Nicht normal sein – das hat sie also selbst erfahren. Aber versteht sie deswegen, was in einem psychisch kranken Menschen vorgeht? „Natürlich kann ich das nicht eins zu eins verstehen. Aber das verlangt der ja auch nicht von mir“, antwortet Manoshi Pakrasi, Leitende Oberärztin der Psychiatrie in Rissen. Angehörige wollen oft wissen, wie sie reagieren sollen, wenn jemand Stimmen hört und wirr erzählt von Dingen, die mit der Realität nicht in Einklang zu bringen sind. Sollen sie alles richtigstellen oder behaupten, sie hörten die Stimmen ebenfalls? Es sei nicht notwendig, so zu tun, als könne man alles verstehen, meint die Psychiaterin. „Es geht darum, Brücken zu bauen und sich auf Augenhöhe zu begegnen.“ Man könne durchaus rückmelden, dass man etwas gerade nicht begreife. Man dürfe auch mal lachen, wenn jemand etwas Skurriles erzähle. „Es tut mir leid“, erklärt sie dann ihrem Patienten, „die Situation enthält so viel Komik, da kann ich gar nicht anders. Das versteht der Betroffene selten falsch. Im Gegenteil, das kann sehr verbindend sein.“ Viele Menschen denken, es sei deprimierend, mit psychisch Kranken zu tun zu haben. „Nein, überhaupt nicht“, widerspricht sie mir. „Einmal sind sie ja nicht nur depressiv und negativ, sondern oft in bunten Welten unterwegs. Und dann trage ich vielleicht dazu bei, dass es ihnen besser geht.“ Deprimierend findet sie manchmal höchstens die Lebensumstände, die zur psychischen Erkrankung führen können: von körperlicher Gewalt gegen Kinder bis hin zur emotionalen Verwahrlosung. Eins ihrer Telefone klingelt. Sie entschuldigt sich: „Ich habe Hintergrunddienst.“ Das heißt, erklärt sie mir später, sie steht den diensthabenden Ärzten für Rücksprachen zur Verfügung. Auch nachts. Das kann dazu führen, dass sie sieben, acht Mal aus dem Schlaf geklingelt wird und morgens trotzdem pünktlich um acht Uhr zum Dienst erscheint. Klar, manchmal bringt der Job Stress, aber: „Ich würde diese Tätigkeit immer wieder machen. Ich finde, es ist genau das Richtige für mich.“ Ihren ersten Kontakt zu psychisch Kranken hatte sie schon als Zehnjährige. Hin und wieder kreuzte ein Patient aus dem psychiatrischen Krankenhaus in Königslutter ihren Schulweg. „Da habe ich Menschen erlebt, die irgendwie seltsam waren.“ Einer – kahl rasiert, mit Wollmütze, sein Fahrrad schiebend – sprach sie häufiger an. „Wahrscheinlich war ich eine der wenigen, die mit ihm geredet und sich nicht sofort weggedreht haben.“ Auch im Bekanntenkreis hat sie Psychosen miterlebt. „Das fand ich beeindruckend, aber nicht furchterregend. Ich habe mir allerdings Sorgen gemacht und mich gefragt, warum man ihnen nicht besser helfen konnte.“ Dass sie später Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie werden würde, ahnte Manoshi damals nicht. Aber schon seit sie fünf Jahre alt war, stand für sie fest, dass sie Medizinerin werden wollte. „Als Kind war ich im Krankenhaus, meine Mutter war dabei, und es gab die besten Semmeln zum Frühstück.“ Das Krankenhaus ist von da an ein Ort, der ihr gefällt. Später dann gehört der Fotoband über Tropenkrankheiten, den sie im Regal der Eltern neben Titeln von Sartre, Fromm und de Beauvoir findet, zu ihren Lieblingsbüchern. „Du kannst dir das gerne anschauen“, meint die Mutter, „aber bitte nur zu Hause.“ Die Nachbarskinder sollten nicht durch die Fotos erschreckt werden. Das Interesse bleibt und Manoshi studiert Medizin in Aachen. Als sie Psychiatrie zum Wahlfach im Praktischen Jahr machen will, warnen ihre Freundinnen: „Mach das nicht, du ziehst dir sowieso jeden Schuh an und bleibst bei jedem stehen, der Kummer hat. Das hältst du nicht aus.“ Vier Monate später warten dieselben Freundinnen mit dem umgekehrten Rat auf: „Bleib dabei, du warst noch nie so ausgeglichen wie in dieser Zeit.“ Als Assistenzärztin geht sie an die Uniklinik in Heidelberg, kommt 1998 ans UKE in Hamburg. Sechs Jahre später baut sie im Albertinen-Krankenhaus eine neue psychiatrische Abteilung auf. 2005 wechselt sie zum Westklinikum in Rissen. Zwischendurch nimmt sie ein Sabbatical, begleitet ihren Mann, der als Psychologe in der Unternehmensberatung tätig ist, nach Paris. Es bleibt eine Liebe zu Frankreich und ein Haus mit Garten in der Nähe von Bordeaux. Dort haben die beiden letztes Jahr ihren ersten Traubensaft produziert – in den Flitterwochen. Auch der leuchtend orangefarbene Kalifornische Goldmohn gedeiht dort prächtig. Sehr resistent überlebt er in Steinritzen bei großer Hitze und Trockenheit. Alle Hochzeitsgäste erhielten ein Tütchen mit Goldmohnsamen. Ein Symbol. Seit elf Jahren leitet Manoshi Pakrasi nun die geschlossene und die offene Station in Rissen. Verantwortlich ist sie nicht nur für die Patienten, sondern auch für viel Organisatorisches, unter anderem den Neubau. „Was ich nicht wusste, ist, dass man als Oberärztin auch permanent an Baubesprechungen teilnimmt und den Handwerkern sagen muss, dass ein Lichtschalter vergessen wurde oder der Wasserhahn zu kurz ist. Das stand in keiner Stellenbeschreibung.“ Genauso wenig ahnte sie vorher, dass plötzlich so viele Flüchtlinge zu versorgen wären. Ab Spätsommer 2014 bemerkte das Krankenhaus, dass besonders nachts und am Wochenende die Zahl der Patienten, die Suizidversuche unternommen hatten, anstieg. Sie kamen aus der großen Flüchtlingsunterkunft an der Schnackenburgallee. Da haben Manoshi Pakrasi und Kollegen gedacht: „Wir können doch nicht warten, bis die Leute so sehr in die Krise geraten, dass sie stationär aufgenommen werden müssen. Wir sollten vor Ort anfangen!“ Sie richteten regelmäßige psychiatrische Sprechstunden in der Schnackenburgallee ein, damals ein bundesweit einmaliges Projekt. Ein Jahr lang war Manoshi Pakrasi einmal wöchentlich vor Ort. Heute hat das eine andere Kollegin im Zweiwochen-Rhythmus übernommen. „Junge Männer, die teilweise traumatische Erfahrungen gemacht haben und viel lieber zuhause bei ihrer Familie wären als sich allein durchzuschlagen – wenn die nichts zu tun bekommen, dann ist das keine gute Situation“, warnt sie. Ob in Nizza oder in Würzburg, was denkt sie, waren die Attentäter Terroristen oder psychisch Kranke? „Ich glaube“, antwortet sie nachdenklich, „dass jemand, der sich für eine politische Gruppe aus dem Leben sprengt, sehr wohl eine psychische Störung hat, die ihm überhaupt erst erlaubt, eine natürliche Hürde zu überspringen.“ Das müsse nicht unbedingt eine Krankheit entsprechend des internationalen Diagnoseschlüssels sein, fügt sie noch hinzu. Durch diese Ereignisse und die Berichterstattung darüber hätten viele Menschen gleich „einen Psychopathen mit Hackebeil“ vor Augen, wenn es um psychisch kranke Menschen gehe, stellt sie bedauernd fest. „Aber das sind nur wenige. Die meisten leiden unter Überforderung und geraten dabei in einen Ausnahmezustand. Oder sie haben eine chronische psychische Erkrankung wie andere ihren Bluthochdruck oder Diabetes.“ Und wie wird sie selbst den vielen Anforderungen gerecht? „Einen guten Ausgleich im Privatleben braucht man schon.“ Den findet sie manchmal beim Segeln, häufig beim Kochen und beim Gärtnern. Da kann sie abschalten. In den Topf kommt, was in ihrem Eimsbütteler Kleingarten wächst: Mohrrüben, Radieschen, Mangold... Anfang August hat sie etwas ganz Besonderes aus der Erde geholt: eine Kartoffel in Herzform. Ja, wirklich. Und das fast pünktlich zum ersten Hochzeitstag. DIE WELT 03.09.2016

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© Bertold Fabricius

Es geht auch ohne Kronleuchter

Sie begeisterte sich für die Bühne, als die Eltern das Theater-Abo kündigten – unter Protest. Mit ihrem experimentierfreudigen Programm ist die Kampnagel-Intendantin Amelie Deuflhard sehr erfolgreich.

Wie der Blitz rennt ein kleiner sportlicher Mann an mir vorbei, als ich morgens um zehn Uhr das Kampnagelgelände erreiche. Amelie Deuflhard steht vor dem wenig charmanten Verwaltungsgebäude und schaut mich so ernst und unbeteiligt an, dass ich befürchte, sie könnte unsere Verabredung vergessen haben. Aber nein, keineswegs, das sind nur die Nachwirkungen eines frühen Zahnarzttermins, der in den ersten Tagen des Sommerfestivals ganz und gar ungelegen kam. Der blitzschnelle Läufer steht plötzlich neben uns: Anas Aboura, ein junger Syrer, der das Oriental Karaoke auf Kampnagel inszeniert. Strahlend reicht er ihr eine Schachtel Zigaretten. Die sind wohl ausgegangen, nachdem sie gestern Nacht bis drei Uhr auf dem Gelände unterwegs war. 1600 Besucher waren hier, allein an einem Tag. „Wenn das so weitergeht“, freut sich die Intendantin, „stellen wir einen neuen Zuschauerrekord auf, und das mitten in den Ferien und ohne Selbstläufer im Programm.“ Kampnagel hat sich mit seiner Experimentierfreude einen Namen gemacht in der Stadt und weit darüberhinaus. Die eigenwillige Intendantin freut sich, wenn hier ein Großvater zufällig auf seine Enkelkinder trifft. „Ein gemischtes Publikum, das wollen wir und das passiert auch tatsächlich.“ Am Abend der Festival-Eröffnung streift sie über den mit Mulch bedeckten Boden des ehemaligen Fabrikhofes, begrüßt gefühlt jeden Besucher persönlich, ein paar Worte hier, kurze Küsschen da, läuft dann, als der Saal schon voll besetzt ist, mit dem Handy in der Hand ‘rein und ‘raus, bevor sie sich als allerletzte Zuschauerin in der zweiten Reihe niederlässt. Da standen noch fünfzig Menschen vor der Tür, Künstler, Kollegen von auswärts, Geldgeber, die ihre Karte vergessen hatten, aber es gab keine fünfzig Plätze mehr. Sie musste das regeln. András Siebold, der künstlerische Leiter des Sommerfestivals, nennt sie in seiner Eröffnungsrede sein „bestes Backup“. Das Lächeln, mit dem sie alle Reden verfolgt, schwindet nicht aus ihrem Gesicht. Backup? Fühlt sie sich da nicht zurückgesetzt, frage ich später. „Null“, antwortet sie lakonisch mit einem langen Ausatmer, als habe sie gerade an einer Zigarette gezogen. Wir lachen. Sie muss ihre Autorität nicht beweisen. Sie tut, was sie für nötig und für richtig hält. Da zieht sie dann wie im letzten und vorletzten Jahr trotz Kritik das Kunstprojekt "ecoFavela Lampedusa Nord" durch und gewährt in diesem Rahmen sechs Flüchtlingen Unterkunft auf dem Gelände. Kassiert dafür eine Anzeige der AFD wegen „Beihilfe zum Verstoß gegen das Aufenthaltsrecht für Ausländer“. Ist sie erleichtert, dass die Ermittlungen in der letzten Woche endlich eingestellt wurden? „Ich war nicht besonders beunruhigt, muss ich zugeben.“ Sie rutscht auf ihrem Stuhl herum und wuschelt mit der Hand durch ihr kurzes braunes Haar. „Ich bin nicht die erste Theatermacherin, die eine Strafanzeige kriegt. Man reiht sich da ein in radikale Künstlerschaften.“ Eine Anzeige von der AFD, das scheint für sie eher eine Auszeichnung zu sein. Allerdings, dass es zwanzig Monate gedauert hat, bis die Ermittlungen eingestellt wurden, findet sie „ein bisschen empörend“. Oben im Büro wirft sie gemeinsam mit der Pressereferentin einen Blick in die Zeitungen. Alle lokalen und auch überregionale Medien haben breit und meist lobend berichtet, über die Eröffnungspremiere und die ersten Festivaltage. Ich schätze mal, Hurra-Schreie wird man von Amelie Deuflhard auch nach Mitternacht auf den Aftershow-Partys nicht zu hören bekommen. Ihr Stolz, ihre Freude – unverkennbar, aber verhalten. Sie gilt als streitbar. Nein, diese Beschreibung gefällt ihr nicht. Sie würde es eher diskussionswillig nennen. Oder kämpferisch. „Sagen wir mal so“, erklärt sie mir, „ich habe keine Probleme damit, meine Meinung zu sagen. Wenn es Widerstand gibt, spornt mich das vielleicht eher an, als dass es mich zurückhält.“ Irgendwie macht ihr dieses Wort zu schaffen. Streitbar? Nein. „Komplette Anpassung an Autoritäten, das war schon in der Grundschule nicht meine Stärke.“ Schon damals hat sie ihre eigenen Strategien entwickelt. „Ich habe immer gedacht, die größte Freiheit habe ich, wenn ich gute Noten schreibe. Dann können die Lehrer nicht viel sagen, wenn ich ihnen widerspreche oder mit den Nachbarn quatsche.“ Als Fünfzehnjährige wurde sie Mitte der siebziger Jahre zur passionierten Theatergängerin und das kam so: Mit seinen wilden Aufführungen vergraulte Claus Peymann als neuer Direktor die Abonnenten aus dem Schauspiel Stuttgart. Auch Amelies Eltern kündigten ihr Abo. „Das klingt ja super“, dachte die Tochter, „wenn die Eltern so empört sind, dann gucke ich mir das mal an!“ Bis zu ihrem Abitur blieb sie Stammgast. Dann studierte sie Romanistik, Geschichte und Kulturwissenschaft in Frankfurt am Main, Tübingen und Montpellier. Obwohl es in ihrer Familie eigentlich nur zwei Berufe gab, die anerkannt waren: Arzt und Jurist. Das haben ihre beiden Brüder übernommen. „Zunächst bin ich gar nicht auf die Idee gekommen, dass man Theater auch zum Beruf machen kann.“ Nach dem Studium arbeitet sie erstmal als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Uni Tübingen und einem Mannheimer Museum, zieht Anfang der 1990er Jahre nach Berlin und gründet dort ihre Familie. Enorm, sage ich, angesichts ihrer Karriere, dass sie da vier Kinder großgezogen hat. „Stimmt“, antwortet sie trocken mit einem versteckten schelmischen Lächeln. „Die sind alle vier prachtvolle Menschen geworden.“ Sie wollte immer viele Kinder. „Eher drei, dann wurden es halt vier.“ Alle geboren innerhalb von nur fünf Jahren. Natürlich hat sie das Risiko gesehen, dass die Kinderschar ihre beruflichen Perspektiven beeinflussen könnte („Ich bin ja nicht blöd!“), aber sie hat es in Kauf genommen. Als sie erst Produktionsleiterin, später Intendantin der Berliner Sophiensäle wird, sind die Kinder noch sehr klein. 2003 stürzt sich Amelie Deuflhard in das Projekt Volkspalast, das die künstlerische Nutzung des alten Palasts der Republik, ehemals Sitz der DDR-Volkskammer, erkämpfte, jedenfalls für eine Übergangszeit bis zum Abriss. „Das war ein Riesenprojekt mit internationaler Aufmerksamkeit und kaum Geld. Ich hatte nur fünf professionelle Mitarbeiter, ansonsten Praktikanten. Innerhalb von wenigen Monaten kamen zu unseren Festivals zig-zig-tausende Zuschauer.“ Eins hat sie damals gelernt, nämlich: „Dass es einem beruflich nicht schadet, wenn man Debatten anzettelt. Auch der Stadt tut das gut!“ Danach Kampnagel. Ihre Mutter – der Vater ist zu früh gestorben, um die berufliche Karriere seiner Tochter zu verfolgen – ist nicht so begeistert. „Sie fand es schade, dass ich immer in so seltsamen, rohen Räumen arbeite und nicht in schönen Stadttheatern mit goldenen Lüstern.“ Dann aber holt Amelie Deuflhard gleich zu Beginn John Neumeier mit seinem Othello in die ehemalige Maschinenfabrik. Den kannte und schätzte die Mutter bereits aus dem Stuttgarter Ballett. „Das fand sie dann doch recht beeindruckend.“ Auch ohne Kronleuchter. Fast zehn Jahre ist Amelie Deuflhard nun Intendantin in Winterhude. Kompetenz ist ihr wichtiger als Hierarchie. Aber: „Mir ist schon klar, dass ich die Chefin bin.“ Natürlich. Muss sie manchmal ein Machtwort sprechen? Ja, das ist ab und zu nötig. „Ich bin oft diejenige, die für etwas mainstreamigere Künstlerpositionen plädiert, obwohl ich ja selbst auch von der experimentellen Fraktion bin. Aber wir sind halt keine Galerie und haben auch große Säle zu füllen.“ Luft holt sie gerne zwischendurch in ihrem Garten in Brandenburg. Gärtnern, Kochen, im See schwimmen..., Entschleunigung, das braucht man zwischendurch. Wie hat sie die Kampnagel-Bühnen geprägt? Konsequent spartenübergreifend, Schnittstelle sein von bildender Kunst, Pop, Performance und experimenteller Architektur. Das ist ihr wichtig. Anker auswerfen in die Stadt und die Stadt zurück aufs Gelände holen. Neue Künstler entdecken, in Japan zum Beispiel, Korea, Vietnam, im Kongo oder in Ghana, den USA oder Frankreich. „Woher sollen die Menschen sonst wissen, was künstlerisch in der Welt los ist?“ Eigentlich könnte sie jetzt sagen: „Das reicht, ich kenne genug Künstler, da muss ich nicht mehr herumsuchen.“ Aber nein! „Ohne Neugier auf die Welt würde das alles keinen Spaß machen!“ In Asien gibt es gerade „sehr, sehr interessante Bewegungen in der Kunst“. Also fährt sie da demnächst wieder hin, um einzutauchen in die fremde Kunstwelt und um in möglichst kurzer Zeit möglichst viele Künstler kennenzulernen, damit das Programm bis 2022 auch keinen Deut langweiliger wird. Denn so lange bleibt sie noch Kampnagel-Intendantin, mindestens. DIE WELT 23.08.2016

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Immer wenn sie morgens glaubt, es wird ein ruhiger Tag, dann kommt alles ganz anders. Cornelia Schröder ist die Chefin der weltberühmten Davidwache. Fast 17.000 Straftaten werden jährlich in ihrem kleinen Revier registriert.

©Bertold Fabricius

An diesem Vormittag ist eine ganze Menge los auf der Davidwache am Spielbudenplatz. Hinter dem Massivholzportal hat sich auf dem Absatz der grauen Steintreppe des denkmalgeschützten Gebäudes eine kleine Warteschlange von Besuchern gebildet. Am Empfang ein niedergeschlagener Taxifahrer, dem die Börse mit 850 Euro Einnahmen aus dem Auto geklaut wurde. Hinter dem 1,25 Meter hohen Tresen ist die junge Beamtin, die die Anzeige aufnimmt, kaum zu sehen. Lebhafter Betrieb hinter einer Glaswand, rund ein Dutzend Polizisten und Polizistinnen in Bewegung. Und da kommt sie jetzt, Polizeioberrätin Cornelia Schröder, genannt Conny, ein beherzter Typ mit rotblonder Kurzhaarfrisur und strahlenden hellblauen Augen. Sehe ich darin nur etwas Freundliches oder auch etwas Schalkhaftes? Jetzt sei gerade Ablösung, Frühschicht geht, Spätschicht kommt, erklärt sie das Gewusel und führt mich in die Schaltzentrale hinter der Glaswand. Ein Mann in neongelber Jacke schiebt sich an uns vorbei, fragt: „Wo ist denn hier die Kellertür?“ und geht suchend weiter, gefolgt von Conny Schröders erstauntem Blick. „Das ist aber jetzt nicht richtig“, stellt sie kopfschüttelnd fest und bittet einen Kollegen zu klären, was der Fremde denn wolle. Drei Minuten später Entwarnung. Alles abgesprochen. „Sie müssten mal am Wochenende kommen“, sagt sie. „Da steht der Eingangsraum voll mit bis zu zwanzig Leuten, die Anzeige erstatten wollen, etwas verloren haben oder einfach mal zur Toilette müssen.“ Es kommt auch vor, dass ein Freier im Liebesrausch einer Dame seine EC Karte samt Pin-Nummer überlassen hat und nun nach einem Weg sucht, zuhause zu erklären, warum 2000 Euro auf dem Konto fehlen. Fast 17.000 Straftaten wurden 2015 in ihrem Revier registriert. Ihr eigenes Büro liegt im ruhigen zweiten Stock. „Mir war sehr bewusst, dass die Leitungsfunktion viel mit Verwaltung zu tun hat und das Leben auf der Straße deutlich zurücktritt. Wenn man diesen Weg einschlägt, weiß man, dass der Streifenwagen in weiter Ferne ist und nur mal zum Einsatz kommt, um zu Besprechungen zu fahren.“ Von der Straße dringt lautes Singen und Rufen nach oben. Vor eineinhalb Jahren, quasi pünktlich zum 100. Geburtstag der historischen Wache, hat Cornelia Schröder, heute 51 Jahre alt, die Leitung des Polizeikommissariats 15 übernommen. Zuvor hatte sie das Poppenbütteler Kommissariat geführt. Viel Aufhebens wurde darum gemacht, dass nun eine Frau an die Spitze der Davidwache rückte. „Es wurde ein wenig überbetont“, findet sie. „Natürlich, ich war die erste Frau. Aber es ist nur noch eine Frage der Zeit gewesen, wann es eine Frau wird und es gibt auch keine Gründe, warum eine Frau das nicht machen sollte.“ Wenn sie morgens um sieben ihren Dienst antritt, lässt sie sich gleich im Wachraum berichten, was in den letzten 24 Stunden passiert ist. Sie sondiert Personalprobleme, Beschwerden müssen bearbeitet, Stellungnahmen, Lageberichte und Antworten auf kleine Anfragen aus der Bürgerschaft geschrieben werden. „Ich bin dazu da, die Rahmenbedingungen herzustellen, damit die Kollegen ihre Arbeit ordentlich machen können.“ Wie ist sie überhaupt auf die Idee gekommen, zur Polizei zu gehen? Fast hätte sie gesagt, weil sie nicht wusste, was sie sonst machen sollte. Aber nein, ganz so war es nicht. Ihr hat gefallen, dass Sport und Fitness im Beruf eine Rolle spielen. Schon als Kind war sie eine begeisterte und auf Landesebene erfolgreiche Leichtathletin. Seit sie Mitte dreißig ist, geht sie das etwas ruhiger an, ist aber immer noch sportlich aktiv: Joggen, Skifahren. Jetzt freut sie sich darauf, die Olympischen Spiele zu beobachten. Als nicht nur sie, sondern auch ihre Zwillingsschwester beschloss, zur Polizei zu gehen, waren die Eltern ganz schön erstaunt. Eine familiäre Motivation gab es jedenfalls nicht. Connys Vater war technischer Angestellter im Hamburger Hafen, die Mutter hatte ihre Berufstätigkeit für die Familie aufgegeben. „Meine Schwester und ich schätzen das bis heute, dass unsere Mutter sich so sehr um uns gekümmert hat und wir versuchen, etwas zurück zu geben.“ Die Anforderungen sind hoch im kleinsten Polizeirevier Deutschlands mit einer Fläche von weniger als einem Quadratkilometer. „Immer wenn ich morgens sage: Ich glaube, heute wird es ruhiger, wird der Tag anders, kaum dass ich das ausgesprochen habe.“ Rund 14.000 Einwohner leben im Revier, bis zu 100.000 besuchen das Amüsierviertel an den Wochenenden, zum Schlagermove und anderen Großveranstaltungen noch wesentlich mehr. Die weltweit berühmte Davidwache steht immer unter besonderer Beobachtung, polizeilich, politisch und öffentlich. Auseinandersetzungen über die Einrichtung von Gefahrengebieten oder Videoüberwachung, das alles spiegelt sich hier wieder. Auch mit dem Vorwurf des Rassismus muss Cornelia Schröder umgehen. „Wir werden immer wieder bezichtigt, in der Drogenbekämpfung rassistische Kriterien anzulegen, weil unsere Maßnahmen sich überwiegend gegen Schwarzafrikaner richten. Uns geht es nicht um die Nationalität einer Person, sondern darum denjenigen zu verfolgen, der eine Straftat begangen hat.“ Manchmal kann sie sich echt aufregen, wenn ein Dealer, der beim Drogenverkauf erwischt wurde, aus irgendwelchen Gründen doch nicht in U-Haft landet. „Wie viele Straftaten muss jemand begehen, bevor wirklich mal etwas passiert? Wir machen uns ja teilweise lächerlich. Gerade Jugendliche müssen auch mal Konsequenzen spüren!“ Wenn sie etwas als ungerecht empfindet, dann muss sie das auch ‘raus! Ihr Revier lebt durch seine Gegensätze, das gefällt ihr. Letztens wurden auf dem Hafengeburtstag Leute aus dem linken Milieu bestohlen. Es kam zu einer Verfolgungsjagd. „Die Taschendiebe haben sich in die Polizeiwache geflüchtet, die Verfolger aus dem linken Milieu haben nur kurz hereingeschaut und verkündet, sie seien bestohlen worden. Eine Aussage wollten sie nicht machen.“ Cornelia Schröder grinst übers ganze Gesicht. „Es war ihnen wohl schon unheimlich genug, sich überhaupt hier in die Wache zu trauen.“ Besonders die Großveranstaltungen sind eine Herausforderung. „Hamburg ist ja stolz darauf, Event-Stadt zu sein, aber“, warnt Cornelia Schröder, „das ist jedes Mal eine Gratwanderung zwischen dem, was man leisten muss und leisten kann, und auch zwischen den Interessen der Anwohner und denen der Besucher.“ Beim letzten Schlagermove haben die Beamten ein besonderes Augenmerk auf sexuelle Übergriffe gelegt. „Aber da war zum Glück nicht viel. Ein dutzend Vorfälle, die meisten von unseren Kollegen beobachtet und mit Festnahmen der Täter.“ Dafür häuften sich Körperverletzungen und Diebstähle. Wer geschnappt wird oder sich unzurechnungsfähig getrunken hat, landet in einer der sechs wahrhaft ungemütlichen Zellen auf der Wache, die am Wochenende rund um die Uhr belegt sind. Cornelia Schröder steigt mit mir in den Keller. Schon auf der Treppe schlägt uns ein leicht unangenehmer Geruch entgegen. Hinter Stahltüren Holzpritschen auf Betonklötzen, abgekratzter Putz an den Wänden. „Manche beschmutzen die Zellen bewusst, sie urinieren, verrichten ihre Notdurft und beschmieren sogar die Videokameras. Das muss dann alles saubergemacht werden,“ seufzt sie stirnrunzelnd, „kein schönes Geschäft.“ Das alte Gebäude mit seiner Historie trägt zur Identifikation bei, auch wenn es die Arbeit in mancher Hinsicht erschwert. „Es ist schon ungewöhnlich, dass der Streifenwagen draußen vor der Tür hält, die Kollegen gehen dann mit einem Festgenommenen dieselbe Treppe hoch, die vielleicht gerade ein Bürger nimmt, der etwas anzeigen will.“ Aber eine andere Möglichkeit gibt es in der Davidwache nicht. Ungewöhnlich ist auch, dass sich der Notausgang des angrenzenden St. Pauli Theaters in den Sicherheitsbereich der Wache öffnet. Geht sie selbst manchmal hier ins Theater oder sonst irgendwo auf dem Kiez aus? Ab und zu schon, aber: „Ich möchte nicht in Interessenkonflikte kommen.“ Und außerdem ist der Kiez nicht so ganz ihre Welt. Privat gesehen jedenfalls nicht. Als wir wieder im Erdgeschoss angelangt sind, bleiben wir eine Weile im Flur stehen. Kollegen grüßen sie mit freundschaftlichem Handschlag. „Die Kollegen, die hier arbeiten, sind alle gern hier. Die sagen mit gewissem Stolz: Ich arbeite da, wo das Leben spielt, auf der Davidwache, St. Pauli, immer im Fokus. Wir mittendrin und wir bewältigen das.“ Und natürlich, sie selbst ist auch stolz darauf. DIE WELT 06.08.2016

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Die Kunst, einen Garten zu malen

Friederike von Ehren ist Gärtnerin in fünfter Generation. Ein Besuch in einer Baumschule ist für sie wie ein Galeriebesuch. Sie gestaltet private Gärten und wirft einen kritischen Blick auf Hamburgs öffentliche Grünflächen.

© Bertold Fabricius

Drei gewaltig hoch gewachsene Kiefern stehen vor dem weiß verputzten Einfamilienhaus in Nienstedten. Denkmäler einer 150 Jahre alten Baumschule. Friederike von Ehren führt mich durch ihr Büro und die Wohnküche geradewegs hinaus in den eigenen Garten, der schon auf den ersten Blick ihre Handschrift zeigt. Aber erstmal möchte sie unbedingt auf das öffentliche Grün in Hamburg zu sprechen kommen. „Ich war gerade in München, dort ist alles wunderschön bepflanzt. Hier ist das öffentliche Grün verkommen und ungepflegt, überall Birkensämlinge und Unkraut. Das ist ein Kulturverlust!“ Und schließlich, meint sie – zurückhaltend, aber bestimmt – hätten wir doch in den Vierlanden die Produzenten direkt vor der Haustür. Man könnte die Vierlande-Gärtner unterstützen, findet sie, und gleichzeitig für mehr Verkehrssicherheit sorgen. „An manchen Stellen kann man ja nicht mehr abbiegen!“ Und außerdem geht es ihr um die Ästhetik. Wir blicken in das weite gepflegte Grün ihres eigenen Gartens, hier und da ein paar Farbtupfer. Was macht einen guten Garten aus? Zuallererst gelte es herauszufinden, was der Gartenbesitzer möchte, erklärt sie mir. „Ich selbst wollte in diesem Garten Erholung schaffen für mein Auge. Ich sehe so viele verschiedene Gärten, das ist manchmal Wirrwarr und Wildwuchs. Da wollte ich aus dem Fenster schauen und Ruhe haben. Strukturen schaffen und gar nicht so viel Buntes.“ Als sie vor einigen Jahren ihren Garten neu anlegte, wurde erstmal kräftig gerodet und geschnitten. Wenn ihr etwas nicht gefällt, dann kommt es eben weg! „Ich verbinde oft Alt und Neu in den Gärten. Dafür muss dann auch einiges gehen. Das ist für manche schmerzhaft, aber wenn Altes weicht, entdeckt man Dinge, die man vorher nicht gesehen hat.“ Strukturen schaffen also und Räume bilden. Ein Busch ist nicht einfach nur ein Busch, eine Hecke nicht einfach eine lange gerade Hecke. Treppen, Balkone und Spiralen, Würfel und Kugeln, Kanten, geschwungene Linien ... Hier waren Gartenkünstler mit der Heckenschere am Werk. Legt sie denn selbst Hand an? „Natürlich! Mein Mann auch. Diese Schnitte machen wir selbst. Die Formen entstehen beim Tun.“ Sie arbeitet gern mit unterschiedlichen Höhen und Stufen, macht aus den Rhododendren kleine immergrüne Bäume, damit sie noch etwas Interessantes darunter pflanzen kann. „Es muss eine gewisse Spannung fürs Auge da sein: Farben, Düfte, Blattformen. Man sollte etwas entdecken können.“ Die alte Hamburger Baumschutzverordnung ist ihr ein Dorn im Auge. „Sie führt dazu, dass die Stadt heute in den meisten Stadtteilen sehr verschattet ist. Viele Gärten sehnen sich nach Tageslicht. Wo man früher freien Elbblick hatte, schaut man heute auf Laub. Überhaupt, große Laubbäume sollten einen Mindestabstand von 20 Metern zum Haus haben.“ Wir stehen vor ihrem Lieblingsbaum, einer fast 150 Jahre alten Flusszeder, die ihr Urgroßvater aus Paris von der Weltausstellung mitgebracht hat. In kurzer Entfernung ein zweites Haus auf dem Grundstück. Als sie Kind war – sie wurde 1965 geboren – wohnte dort ihr Großvater. „So war das früher, die Firma direkt nebenan. Er ging zu Fuß ins Kontor, so hieß das bei uns.“ Seit 1865 war die Baumschule Lorenz von Ehren hier in Nienstedten beheimatet, lieferte in die Nachbarschaft, aber auch bald bis Kopenhagen und Russland, später nach China oder Argentinien. „Unsere Kletterbäume waren dann plötzlich weg und an anderen Orten wiederzufinden. Das war witzig. Wir lebten in einem kleinen Mikrokosmos, auch Mitarbeiter der Baumschule wohnten auf dem Gelände.“ Besucher kamen und gingen. Intensiv wurden freundschaftliche Beziehungen zu Kunden und Gartenarchitekten gepflegt. „Es war ein großes Haus, in dem gelebt und gearbeitet wurde.“ Und so ähnlich hält sie das auch heute: Ihr Büro direkt neben der Wohnküche, alles offen; Arbeit und Familie – sie hat drei Kinder, die Älteste hat gerade ihr Abi bestanden – alles unter einem Dach. An der Wand schön gezeichnete Entwürfe und das Bild des weitverzweigten Stammbaums der Familie von Ehren. 1993 zog die Baumschule nach Marmstorf, wo sie noch heute von Friederikes Cousin Bernhard von Ehren geführt wird. Nicht weit davon entfernt leitet ihr Bruder Johannes ein Gartencenter, ihre Schwester Katharina hat sich als internationale Baummaklerin einen Namen gemacht. Eine Garten-Dynastie. Im Marmstorfer Gartencenter hat Friederike von Ehren ihren ersten Schaugarten aufgebaut. Doch musste der weichen, weil die Familie beschloss, einen Teil des Geländes zu verkaufen. Anstoß für sie, sich 2006 selbständig zu machen mit dem, was sie am allerliebsten tut: Garten-Design. Ein wenig wehmütig denkt Friederike von Ehren an die Zeit ihrer Kindheit und noch weiter zurück: „Das Geschäft hat sich dramatisch geändert.“ Heute seien nicht mehr viele Menschen bereit, Zeit in die Auswahl einzelner Pflanzen zu investieren. Bestellungen erfolgten meist aus dem Katalog vom Schreibtisch aus. „Ich versuche, das in meinem Bereich wieder aufzubrechen.“ Obwohl sie natürlich alle Baumschulen und Händler der Umgebung kennt, stattet sie ihnen noch oft einen persönlichen Besuch ab. „Ich möchte die Pflanzen erleben. Bilder und Filme können nicht alles abdecken. Das menschliche Auge ist immer noch unübertroffen.“ Manchmal lässt sie sich von einzelnen Gewächsen inspirieren, macht Fotos und setzt sich erst anschließend an das Design. Ein Besuch in einer Baumschule ist für sie wie ein Galeriebesuch. Gern vergleicht sie ihr Metier mit der Kunst, denn eigentlich wollte sie Kunstgeschichte studieren. Aber dann schwenkte sie doch um, durchlief eine Gärtnerausbildung und studierte anschließend Landespflege und Gartenarchitektur in Weihenstephan bei München. Ein Praxissemester in London, im Mutterland der Gartenkultur, inklusive. Die Liebe zur Kunst ist geblieben und findet ihren Ausdruck darin, dass sie gern Skulpturen in ihren Gärten platziert. „Es gefällt mir, Kunstwerke so zu stellen, dass das Auge neben den weichen Strukturen, dem Organischen auch einen Halt findet oder einen Bremser.“ Diese Funktion, erklärt sie mir, könnten auch schön geformte Bänke, Amphoren, Rosenbögen oder Pergolen erfüllen. Nachdem sie einen Garten designed und die Pflanzen ausgesucht hat, ist sie natürlich vor Ort, wenn diese geliefert und aufgestellt werden. „Da wird noch ein wenig gedreht, dieser Busch ein Stück vor, jener ein Stück zurück... Das fühlt sich vielleicht ähnlich an, wie ein Bild fertig zu malen.“ Eigentlich sei das Kunst, findet sie, kombiniert mit pflanzentechnischem Wissen über Standorte. Ein entscheidender Unterschied bleibt aber doch: Dem Maler wachsen seine Farben nicht entgegen. Und wie fühlt es sich an, wenn der Auftraggeber auf die Gestaltung des Kunstwerkes Einfluss nimmt? Letztendlich, meint sie, müsse der Bauherr entscheiden oder die Bauherrin. „Ich bin da nicht rigoros.“ Und ihre Kunden kommen schließlich zu ihr, weil sie just ihren Stil mögen. Am schönsten ist es natürlich, wenn ihr jemand freie Hand gibt. Dann verzichtet sie ganz auf die Pläne und lässt sich beim Setzen der Pflanzen vor Ort inspirieren. Beim Blick auf die kunstvoll und akkurat geformten Büsche in ihrem Garten, die in gebührender Entfernung voneinander als Einzelstücke wirken können, bekomme ich ein schlechtes Gewissen. In meinem Garten wachsen die Eiben in die Rhododendren und diese wiederum verdrängen die armen Rosen. Kann man einen schönen Garten haben, ohne Expertin zu sein oder Experten zu beschäftigen? Sie beruhigt mich, das sei möglich. Aber: „Es soll zu jeder Jahreszeit etwas blühen und das ganz, ganz pflegeleicht? Das gibt es nicht!“ Wenn ich allein schon an die Bewässerung denke. Stundenlang mit dem Schlauch in der Hand im Garten stehen, während andere mit einem Drink in der Hand die Abendsonne genießen... Wer übernimmt das denn hier? „Ich“, antwortet sie, „das macht mir Spaß!“ Ein wenig nachdenklich schaut Friederike von Ehren auf ihren Schmetterlingsflieder, der noch nicht blüht. „Ich glaube, ich möchte jetzt doch wieder mehr Farbe und werde einiges neu überlegen.“ In ihrem Garten ist nichts für die Ewigkeit gedacht. DIE WELT 23.07.2016

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Als Vorstand von startsocial e.V. organisiert Sunniva Engelbrecht Hilfe für Helfer, eine Art McKinsey für arme Sozialprojekte. Sie möchte nicht nur Bittstellerin sein, sondern auch Mehrwert schaffen.

©Bertold Fabricius

Der spitz zulaufende Konferenzraum am Sandtorkai bietet einen sagenhaften Panoramablick von der Elbphilharmonie bis zu den Landungsbrücken. Sunniva Engelbrecht sitzt mit dem gemeinnützigen Verein startsocial in der Hafencity, beherbergt von der Unternehmensberatung McKinsey. Sie fährt die Jalousien hoch, damit wir den Blick auf Stadt und Wasser genießen können, und gießt Kaffee ein. Ein Sozialprojekt in Luxuslage, ist das kein Widerspruch? Ihr gefalle sehr, sagt Sunniva Engelbrecht, dass sich der hohe professionelle Anspruch durch die Zusammenarbeit mit McKinsey auf startsocial übertrage. Setzt sie das unter Druck? Nein, eigentlich nicht, obwohl sie sich selbst eher für eine chaotische Arbeiterin hält. Wie sie da sitzt, in weißer Sommerbluse, ungeschminkt, nur wenig Schmuck, also eine adrette Erscheinung, kann ich mir gar nicht vorstellen, dass von Sunniva Engelbrecht Chaos ausgeht. Im Grunde passt die Location genau zur Zielsetzung des Vereins, der nämlich ehrenamtliche Berater aus der Wirtschaft an soziale Initiativen vermittelt. Eine Art McKinsey für arme Sozialprojekte. Motto: Hilfe für Helfer. 6400 gemeinnützige Projekte haben sich seit der Gründung 2003 bereits um ein Beratungsstipendium beworben; 1200 haben eins erhalten. Im vergangenen Monat war Sunniva Engelbrecht im Kanzleramt zur jährlichen Preisverleihung. Shake Hands mit Angela Merkel, der Schirmherrin des Vereins. „Wir haben 25 Projekte ausgezeichnet, sieben davon erhalten Geld, alle sollen ein Bild mit der Kanzlerin bekommen. Das ist gute Werbung.“ Und ebenso erhalten alle Preisträger professionelle Unterstützung, z.B. in Sachen Buchhaltung, Fundraising oder Marketing. Sunniva Engelbrecht ist seit 2011 der geschäftsführende Vorstand von startsocial. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, Leute zusammenzuführen. Welcher Berater aus welchem Unternehmen könnte welcher Initiative am besten helfen? Das muss sie gemeinsam mit vier festangestellten Mitarbeiterinnen herausfinden. Und natürlich muss sie auch Fundraising für den eigenen Verein betreiben. Startsocial lebt von Sponsoring und Spenden. Fällt es ihr leicht, um Geld zu bitten? „Nein, aber es fällt mir zunehmend leichter, weil ich unsere Förderer als Partner begreife. Es ist nicht schön, Bittsteller zu sein, wenn man keinen direkt quantifizierbaren Mehrwert schafft, und ich habe ja keine wirkliche Gegenleistung. Aber für die Kultur eines Unternehmens ist es nicht unwichtig, seinen Mitarbeitern Gelegenheit zum sozialen Engagement zu geben.“ Besonders schwierig war das Fundraising, als sie 2009 bei startsocial anfing. „Ich musste mich erst mal warmlaufen in meiner neuen Funktion, und das nach der weltweiten Finanzkrise. Da herrschte Panik und keiner hatte Geld.“ Es ist sehr heiß. Trotzdem heult der Wind so geräuschvoll durchs offene Fenster, dass wir lauter sprechen müssen. „Manchmal weht mich der Wind fast vom Rad“, sagt sie stirnrunzelnd, „Ich verstehe nicht, warum das Hamburger Wetter bei der Bauplanung für die Hafencity nicht ausreichend berücksichtigt wurde.“ Sie hat keinen langen Weg zur Arbeit, wohnt mit ihrer Familie direkt an der Hauptkirche St. Katharinen, wo ihr Mann, Frank Engelbrecht, als Pastor wirkt. „Das prägt unser Familienleben sehr“, erzählt sie. Wochenendausflüge mit den drei Kindern, 8, 12 und 14 Jahre alt, sind nur selten möglich. Hat Sunniva Engelbrecht also noch einen zweiten Job als Pastorenfrau? „Früher wurden der Pastor und seine Frau als Einheit gesehen. Das ist heute etwas anders. Trotzdem werde ich oft in Anspruch genommen, zumal wir direkt dort wohnen.“ Manchmal muss sie Akuthilfe leisten. „Vorgestern kam ich abgespannt und müde nach Hause, hatte mit sehr vielen Menschen gesprochen, sehnte mich nach Ruhe... Und dann sitzen da zwei Flüchtlinge, die schon seit Stunden auf meinen Mann warteten. Natürlich musste ich ihr Problem lösen.“ Die Engelbrechts haben ein offenes Haus. „Wenn jemand kommt, dann wird eben noch ein Teller aufgedeckt.“ Eine ähnliche Familienkonstellation kennt sie schon aus ihrer eigenen Kindheit. „Der Job meines Vaters hat den Takt vorgegeben.“ Er war Dorfarzt in einem kleinen Ort in der Nähe von Braunschweig; jeder kannte die Familie. Dort ist Sunniva, Jahrgang 1967, aufgewachsen. Ihr ungewöhnlicher Vorname kommt allerdings aus Skandinavien, inspiriert von einer norwegischen Schutzheiligen. Sunnivas Mutter, Hausfrau, litt unter Depressionen. „Das erste Weihnachtsfest, wo sie weg war, in der Psychiatrie, war ganz fürchterlich. Ich war zehn Jahre alt. Dadurch bin ich sehr früh selbstständig geworden.“ Vielleicht kam daher auch das Interesse Sunnivas am Ergründen der menschlichen Seele. Während ihrer Ausbildung zur Bankkauffrau stellte sie fest, dass die Gespräche mit den Kunden sie wesentlich mehr faszinierten als das eigentliche Bankgeschäft. Warum nehmen Menschen Kredite auf, die sie nicht zurückzahlen können? Wieso sitzen Leute auf ihrem Geld und geben es nicht für schöne oder sinnvolle Dinge aus?“ Folgerichtig studierte sie nach der Banklehre Psychologie in Osnabrück. Anschließend arbeitete sie in der Personalabteilung von Unilever. Im Jahr 2000 folgt sie ihrem Mann nach Dänemark. „In der Woche meinem Job nachgehen und meine Liebe nur am Wochenende zu sehen, der Gedanke gefiel mir nicht.“ Sie erhielt am Kopenhagener Forschungsinstitut eine Doktorandenstelle und forschte über Burnout von Hebammen. Das klingt sehr speziell, finde ich, und sie erklärt mir, dass eine dänische Studie festgestellt habe, Hebammen seien besonders häufig von Burnout betroffen. „Verheiratet, mit Kind kam ich zurück nach Deutschland, bekam noch ein zweites Kind und wollte mir mit meinem Doktortitel in der Tasche wieder eine Stelle suchen.“ Das war viel schwieriger, als sie dachte. „Ich habe früher viele Beratungen gemacht, bin dafür herumgereist. Wegen der Kinder war das nun schwierig.“ Schließlich heuert Sunniva Engelbrecht bei Wellcome an, einem gemeinnützigen Unternehmen, das junge Familien unterstützt. Selbst schwanger mit dem dritten Kind besucht sie Eltern, die nicht in der Lage sind, ihre Babys gut zu versorgen. „Als Psychologin denkt man, je näher man am Menschen dran ist, desto besser. Aber ich habe echt meine Grenzen gesehen.“ An einem Freitag Nachmittag brachte sie es nicht übers Herz, eine sehr junge Mutter mit zwei kleinen Kindern in der vermüllten Wohnung sich selbst zu überlassen und alarmierte das Jugendamt. Der Tod der siebenjährigen Jessica, die von ihren Eltern eingesperrt und vernachlässigt worden war, lag noch nicht lange zurück. Trotzdem wurde Sunniva Engelbrecht kritisiert, sie habe das mühsam aufgebaute Vertrauensverhältnis zur Mutter gestört. „Es gab gute Gründe, das Jugendamt einzuschalten“, sagt sie heute nachdenklich, „aber ich war nicht richtig souverän, das habe ich gemerkt. Ich bin keine Hardcore-Sozialarbeiterin.“ Mit einem belustigten Lächeln fügt sie hinzu: „Und schwanger war ich halt auch...“ So bewirbt sie sich nach ihrer Elternzeit bei startsocial, nicht mehr so dicht dran am bedürftigen Menschen, aber dennoch sozial engagiert. In ihrer Arbeit hat sie große Freiheiten, muss sich aber auch „verstörend unangenehmen Fragen“ des Aufsichtsrates – ja, den gibt es bei startsocial – stellen. Einmal wollte sie einen neuen Werbefilm veranlassen, eine äußerst kostspielige Sache. In der Mitgliederversammlung wurde sie daraufhin von einem der Aufsichtsräte gefragt: „Was glaubst du, wie viele Bewerbungen du generierst durch einen neuen Film?“ Über diese Zahl hatte sie sich keine Gedanken gemacht. „Das hat mich kalt erwischt. An Zahlen denke ich nicht als erstes. Aber die Nachfrage war ganz richtig. Auch im sozialen Sektor gibt es noch wahnsinnig viel zu lernen.“ Zum Beispiel, findet sie, müsste die Kooperationsbereitschaft gemeinnütziger Organisationen wesentlich größer sein. „Auch im sozialen Sektor wird mit harten Bandagen gekämpft, vielleicht gerade weil es nur wenig Geld zu verteilen gibt. Da werden manchmal die guten Sitten vergessen, zum Teil eher noch als in einem großen Unternehmen. Das hat mich überrascht.“ Sunniva Engelbrecht würde das gern ändern. Bei startsocial ist sie genau auf dem richtigen Posten, um darauf Einfluss zu nehmen. DIE WELT 09.07.2016

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© Bertold Fabricius

Pressefreiheit gegen Persönlichkeitsrecht

Als Anwältin für Presse- und Medienrecht versucht Patricia Cronemeyer zwei Grundrechte, die auch im Fall Böhmermann gegeneinander stehen, zum Ausgleich zu bringen. Sie vertritt Prominente und unbekannte Bürger, die sich durch Medien bloßgestellt fühlen.

In Saal B 335 des Hamburger Landgerichts geht es zu wie in einer Talkshow: „Ich habe doch gerade zugehört, wie Sie geredet haben, darf ich jetzt auch ausreden?“ verlangt einer der Anwälte leicht indigniert. Patricia Cronemeyer kennt das Spiel: „So ein bisschen sticheln, das gehört dazu.“ Aber verärgert ist sie auch, darüber dass hier so verharmlost wird, was ihrem Mandanten passiert ist. Patricia Cronemeyer vertritt den Kläger, einen 33 Jahre alten Mann, der aus Magdeburg angereist ist, um – ja, so kann man das sagen – seine Ehre zu verteidigen. Sie erklärt mir, ein Kamerateam des ZDF habe ihn an seiner Wohnungstür überrumpelt und gefilmt, in nicht gerade salonfähigem Aufzug: mit Nasenverband nach einer Operation, unter Schmerzmitteln stehend, in Unterhose und T-Shirt, aus dem Dämmerschlaf gerissen. Zwar stellte das ZDF-Team recht schnell fest, dass es hier an der falschen Tür geklingelt hatte, doch gesendet wurde die Szene trotzdem. Patricia Cronemeyer empört das, sowohl menschlich als auch juristisch. Eine Unterlassungserklärung hat der Sender bereits unterschrieben; sie möchte noch eine Entschädigung für ihren Mandanten erwirken. Mich wundert, dass es hier vor Gericht keine klaren Spielregeln zu geben scheint, die beiden Seiten in gerechter Weise Gehör verschaffen. Die Anwältin muss sich mehrmals durchboxen, um zu Wort zu kommen. „Das ist in der Tat so, aber hier ging es eigentlich noch sehr gesittet zu“, bestätigt sie meinen Eindruck. „Es gehört dazu, der Gegenseite mal in die Parade zu fahren. Das habe ich auch mit Absicht gemacht.“ Ihr kleines Geständnis verziert sie mit einem freundlichen, unschuldigen Lächeln. Als sich das Gericht nach einer guten Stunde vertagt, mit „Hausaufgaben“ für alle Beteiligten, legt sie ihre schwarze Robe ab und verstaut sie in einem Aktenkoffer. Zum Vorschein kommen ein elegantes, anthrazitfarbenes Kostüm und schwarze Wildlederpumps. Patricia Cronemeyer, 37 Jahre alt, ist Expertin für Presse- und Medienrecht mit einer eigenen Kanzlei in Hamburg-Rotherbaum. Zu ihren Mandanten zählen bekannte Künstler, Sportler, Politiker sowie Film- und Fernsehproduzenten. „Es sind meist prominente Persönlichkeiten, die im Fokus der Medien stehen.“ Namen möchte sie natürlich nicht nennen. „Sie müssen sich schon klar entscheiden, wie weit sie in die Öffentlichkeit wollen oder nicht. Wenn ich meine Privatsphäre einmal öffne, dann kriege ich die Tür so schnell nicht wieder zu. Wenn ich von vornherein bestimmte Bereiche aus der Öffentlichkeit heraushalte, habe ich die Rechtsprechung auf meiner Seite.“ Bevor sie 2009 ihre eigene Kanzlei gründete, arbeitete Patricia Cronemeyer für den prominenten Hamburger Medienanwalt Matthias Prinz. Zu ihren Mandanten gehörte dort der inzwischen verstorbene Entertainer Peter Alexander, der gegen Prinz vor Gericht zog, weil er sich von ihm getäuscht und hintergangen fühlte, auch finanziell. „Die Schöne und der Prinz“ titelte die BILD-Zeitung 2014, denn Patricia Cronemeyer hatte ihren Job in der Kanzlei Prinz aufgekündigt und sich entschlossen, als Zeugin vor Gericht gegen Prinz aufzutreten. War es schwer für sie, gegen ihren früheren Chef auszusagen? „Natürlich! Ich bin grundsätzlich ein sehr loyaler Mensch und sehr harmoniebedürftig. Aber es gibt Grenzen im Leben. Und außerdem hatte ich keine Wahl. Ich hätte behaupten können, mich an nichts zu erinnern, aber ich hatte eine Aussagepflicht. Das war mir gar nicht freigestellt. Noch dazu fand ich es richtig, es hat der Gerechtigkeit gedient.“ Peter Alexander wurde ihr Mandant; bis heute vertritt sie seinen Sohn. Eine eigene Kanzlei, das birgt auch Risiken. Kennt sie Existenzängste? „Natürlich kann man sich als Selbstständige nicht auf seinen Lorbeeren ausruhen. Das ist mir sehr bewusst, zumal ich in meinem Leben nichts geschenkt bekommen habe. Als mein Vater krank wurde, habe ich versucht, schnell auf eigenen Füßen zu stehen.“ Ihr Vater war Gartenbauingenieur, tätig unter anderem in der Forschung für ein amerikanisches Unternehmen, das Pestizide entwickelte. Er starb an Krebs. Aufgewachsen ist Patricia im Süden Münchens, mit einer älteren Schwester und einem jüngeren Bruder. Ein Sandwichkind mit sehr strengen Eltern. „Manchmal zu streng.“ Da hat sie für ihre Freiheiten gekämpft, ein bisschen wenigstens. „Disziplin ist natürlich nötig, aber ich durfte wirklich kaum etwas – außer Sport treiben.“ Und das tut sie bis heute mit Begeisterung: Joggen, Tennis, Golf und Squash spielen. In den Sommern ihrer Kindheit ging es regelmäßig zu den Großeltern in der Tschechoslowakei. Patricias Mutter stammt nämlich aus Prag. Geheiratet haben Mutter und Vater am 21. August 1968, dem Tag, als sowjetische Panzer dem Prager Frühling ein gewaltsames Ende setzten. Kein Symbol, sondern Zufall. Die Sommertage in der Chata (Gartenhaus) der Großeltern mit Bienenzucht, Lagerfeuer und Musik zählen zu ihren schönsten Kindheitserinnerungen. Da ahnte sie natürlich noch nicht, dass die tschechischen Wurzeln und Sprachkenntnisse ihr einmal zu einer interessanten Stelle in Brüssel verhelfen würden. Nach ihrem ersten Staatsexamen wurde sie wissenschaftliche Mitarbeiterin eines Europa-Abgeordneten, der sich der Osterweiterung widmete. „Mich hat Brüssel sehr fasziniert, und ich bin begeistert, welche Arbeit dort geleistet wird.“ So blieb sie auch in ihrer Dissertation beim Thema „Europa“ und beschäftigte sich mit der Frage, ob die Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft sinnvoll sei. Als ich sie das erste Mal in ihrer Kanzlei im Rotherbaum besuche, ist sie hochschwanger. Inzwischen erfreut sie sich an ihrem wenige Monate alten Sohn und legt öfter mal einen Home Office Tag ein, um sich um ihn kümmern zu können. Nichts ist ihr anzumerken von schlaflosen Nächten, heute wie damals macht sie einen sehr positiven, ausgeglichenen Eindruck. Bringt sie denn nichts aus der Ruhe? Doch, es gibt schon Fälle, die sie aus der Fassung bringen. Zum Beispiel ist es ihr einmal gelungen, schon im Vorwege einen Boulevardzeitungsbericht über einen Mandanten zu verhindern. Innerhalb von zwei Stunden hatte sie eine einstweilige Verfügung erwirkt und diese per Fax der Redaktion zugestellt. „Aber dann haben wir keinen Gerichtsvollzieher mehr für die förmliche Zustellung gefunden. Die hatten ab 17 Uhr schon alle Feierabend. Das ganze Verfahren halte ich für sehr antiquiert!“ Und so erschien der Artikel trotz der gerichtlichen Verfügung. Wollte sie immer schon Jura studieren? Jura oder Medizin. Aber nachdem eine befreundete Medizinstudentin sie mal mitgenommen und ihr in Formalin eingelegte Leichenteile gezeigt hatte, fiel ihre Entscheidung eindeutig für Jura. „Und das hat mir von Anfang an richtig Spaß gemacht!“ Am Medienrecht reizt sie, dass zwei Grundrechte, die eigentlich den gleichen Stellenwert haben, aufeinander stoßen, die Pressefreiheit und das Persönlichkeitsrecht. „Journalismus hat eine wichtige Aufgabe als public watchdog und Pressezensur ist fürchterlich. Das habe ich auch in der Tschechoslowakei erlebt. Aber wenn Persönlichkeitsrechte mit Füßen getreten werden, dann finde ich es richtig, sich zu wehren. Ich kann dazu beitragen, die beiden Grundrechte zum Ausgleich zu bringen.“ In diesem Sinne vertritt sie ihren Mandanten aus Magdeburg gegen das ZDF. Der hat sich inzwischen überlegt, auf den Vorschlag eines Vergleichs nicht einzugehen. „Es geht nämlich nicht nur ums Geld“, erklärt mir Patricia Cronemeyer, „er fühlt sich einfach bloßgestellt und ungerecht behandelt und möchte Genugtuung, mindestens eine Entschuldigung.“ Die vorsitzende Richterin in diesem Fall ist übrigens auch an der Entscheidung zum berüchtigten „Gedicht“ Jan Böhmermanns über den türkischen Präsidenten beteiligt. Patricia Cronemeyer beneidet sie darum nicht. Was ist denn ihre Meinung als Medienanwältin? Ist das noch Kunst oder Beleidigung? Sie überlegt kurz. „Isoliert betrachtet, ist es ganz klar herabwürdigend und damit beleidigend.“ Dann allerdings kommt das große Aber: „Entscheidend ist in diesem Fall der Gesamtkontext. Durch die Anmoderation wird deutlich, dass Böhmermann nicht sinnlos über einen Politiker herfallen wollte, sondern eine vorherige Auseinandersetzung in den Medien Anlass der Satire war. Und deshalb handelt es sich um eine zugespitzte Kritik, die in Deutschland aufgrund der Kunstfreiheit zulässig ist.“ So jedenfalls sieht das Patricia Cronemeyer. DIE WELT 28.05.2016

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Musikverlegerin Dagmar Sikorski sah sich mal als Hoteldirektorin auf den Malediven. Doch dann kam alles anders. Sie handelt mit Noten und fragt sich, wie wir eine musikfreie Woche überstehen würden.

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„Wir machen einen Fehler“, stellt Dagmar Sikorski fest. Und mit wir meint sie in diesem Fall alle, die mit klassischer Musik handeln. „Wir zwingen die Leute, still zu sitzen, nicht miteinander zu reden, auch nicht, wenn sie etwas nicht verstehen. Dann drehen wir noch das Licht aus und geben ihnen nichts zu essen.“ Darstellende Kunst habe es viel leichter als die Musik. Auf einer Vernissage könne man sich unterhalten, bekomme etwas zu trinken und die Bilder brauche man eigentlich gar nicht anzuschauen. Ich besuche Dagmar Sikorski in einer auffälligen, terracottafarbenen Gründerzeitvilla in Hamburg-Harvestehude. Hier residiert sie als Geschäftsführerin der Sikorski Musikverlage, einem Familienunternehmen von internationaler Bedeutung, gegründet vor gut achtzig Jahren von ihrem Vater Hans Sikorski. Jeder weiß, was ein Buchverlag macht. Sind die Aufgaben eines Musikverlages ähnlich? „Eigentlich sind wir Musikverleger die Manager der Komponisten und Autoren. Der Künstler soll in Ruhe komponieren und wir übernehmen alles Übrige, vor allem die Vermarktung und das Inkasso. Dazu brauchen wir unter anderem die Noten.“ Die werden hier im Haus gedruckt und dann verkauft übers Internet oder über Musikalienhändler. Oft allerdings werden sie nur verliehen. „Für ein Orchester ist es viel zu teuer, Noten zu kaufen, zumal jede einzelne Stimme anders aussieht und jeder Instrumentalist eigene Noten braucht.“ Im Angebot hat Dagmar Sikorski klassische zeitgenössische Musik, aber auch populäre Evergreens, die wir durch Stars wie Frank Sinatra, Marlene Dietrich oder Heinz Rühmann kennen. In jüngerer Zeit werden die Noten des Verlags von Stars wie Michael Bublé, Celine Dion, André Rieu, Götz Alsmann oder Max Raabe zum Leben erweckt. Auch Rolf Zuckowskis Kinderlieder sind hier zuhause. Als Kind schon hörte Dagmar, geboren 1956 im oberbayrischen Hausham, zuhause im heimischen Wohnzimmer Zarah Leander und Peter Alexander singen. Komponisten wie Peter Kreuder („Ich wollt’, ich wär ein Huhn“) und Lothar Olias („So ein Tag so wunderschön wie heute“) probierten neue Stücke am elterlichen Flügel aus. „Ich habe immer dabei gesessen. Natürlich wurde ich irgendwann mal ins Bett gebracht, aber wenn ich wieder aufstand, hat sich keiner darüber aufgeregt. Oder haben sie es einfach nicht bemerkt?“ Damals betrieben die Eltern nicht nur den Verlag, sondern auch eine Konzertagentur. So lernte sie fast alle großen Künstler jener Zeit kennen. Das hat ihr sehr gefallen. Eins allerdings mochte sie gar nicht: Im Rüschenkleid mit Lackschuhen auf die Bühne gehen, um nach dem Konzert einen Blumenstrauß zu überreichen. „Ist sie nicht süß? Das war und ist gar nichts für mich!“ Da hat sie schon lieber mal eine Runde Skat gekloppt. “Mit fünfzehn habe ich gegen Freddy Quinn fünfzig Mark gewonnen. Das war Wahnsinn! Wenn ich verloren hätte... , bei ungefähr vier Mark Taschengeld im Monat!“ Vielleicht hat er sie gewinnen lassen? „Nee! Skat spielen, das ist Kampf! Das war schon immer so, da lässt man keinen freiwillig gewinnen!“ Trotz ihrer musikalischen Früherziehung besonderer Art plant sie keineswegs, in den elterlichen Verlag einzusteigen, sondern macht eine kaufmännische Lehre im Hotelgewerbe. „Ich sah mich als Hoteldirektorin auf den Malediven.“ Doch dann kam alles anders. „Mein Vater ist gestorben, als ich 16 war. Als meine Mutter dann starb, war ich 25. Da hieß es: Friss oder stirb!“ Gemeinsam mit ihrem dreißig Jahre älteren Bruder hat sie die Geschäftsführung übernommen. Entschuldigung mal eben, dreißig Jahre älter? Sie lacht. „Ich habe eine sehr ungewöhnliche Familie. Ich bin das Kind aus der vierten Ehe meines Vaters und der zweiten Ehe meiner Mutter. Über Patchwork braucht man mir nichts zu erzählen!“ Heute führt sie die Geschäfte mit ihrem Neffen Axel Sikorski. „Er ist der Innen-, ich bin der Außenminister.“ Dagmar Sikorski versteht sich als Lobbyistin der Komponisten und Textdichter. Deshalb engagiert sie sich in diversen Verbänden der Musikbranche, war u.a. lange Jahre Präsidentin des Deutschen Musikverlegerverbandes, sitzt heute im Aufsichtsrat der GEMA. Die Verwertungsgesellschaft kassiert im Namen der Urheber Gebühren für die öffentliche Nutzung von Musik. Dass Plattformen wie YouTube und viele Internetnutzer sich weigern, für den Musikkonsum zu zahlen, kann sie überhaupt nicht verstehen: „Die Leute fragen dann: Warum muss Madonna noch mehr Geld bekommen? Aber sie übersehen, dass zwar die ausübenden Künstler bekannt sind und verdienen, es aber viele Komponisten und Dichter gibt, die von ihrer Arbeit nicht leben können. Es ist doch nur gerecht, die Urheber am Erfolg zu beteiligen!“ Zu ihren Aufgaben als Verlegerin zählt es, dafür zu sorgen, dass der Komponist nach Aufführung seines Werkes ein angemessenes Honorar erhält. „Ich bin traurig darüber, wie schlecht diejenigen bezahlt werden, die das Werk geschaffen haben. Sie bekommen viel weniger als diejenigen, die das Werk aufführen. Das finde ich nicht richtig.“ Besonders prekär sei die Lage für Komponisten zeitgenössischer klassischer Musik, erklärt sie mir. „Dieses Spitzwegmodell, wo der Künstler im kalten Zimmer sitzt und darbt, ist kein Ideal!“ Sie zieht die Augenbrauen hoch. „Im Grunde verkaufen wir Eisschränke an Eskimos. Keiner will die zeitgenössische Musik. Alle wären ganz zufrieden, wenn weiterhin nur Mozart, Beethoven und Bach in den Konzertsälen gespielt würden.“ Aber der Noten-Mix ihres Verlags scheint recht erfolgreich zu sein. Sie führt mich in einen türkis gehaltenen Raum mit schwarz lackiertem Flügel und goldenen Schallplatten an den Wänden. Hier befindet sich eine weltweit einzigartige Bibliothek, eine Sammlung aller zeitgenössischen Kompositionen aus den Jahren der Sowjetunion. Dagmar Sikorskis Vater war in den 1950er Jahren ein kluger Schachzug gelungen. Durch einen Vertrag mit dem Außenhandelsministerium der Sowjetunion gewann er bekannte Komponisten wie Dmitri Schostakowitsch. Russische Musik bildet seither einen Schwerpunkt im Verlag. Wände und Teppiche hier, alles in Türkis. Das ist ihre Lieblingsfarbe. „In türkis habe ich auch vor dreißig Jahren geheiratet.“ Und zwar den Stahlunternehmer Jürgen Großmann, der später Vorstandsvorsitzender der RWE wurde und heute zu den reichsten Männern Deutschlands zählt. Über weite Strecken eine Ferien- und Wochenende-Ehe, er bei seiner Georgsmarienhütte, später auch bei RWE im Ruhrgebiet, sie mit ihrem Verlag an der Elbe. Seine Frau sei nicht zahm und himmele ihn nicht an, wenn er nach Hause komme, verriet Jürgen Großmann dem ZEITmagazin vor einigen Jahren. „Sie ist nicht pflegeleicht und hat ihren eigenen Willen.“ Natürlich hat sie den. Und ein mütterlicher Typ im altmodischen Sinne ist sie auch nicht, keine, die alle gleich umarmt. Allerdings, die vielen Fotos hinter ihrem Schreibtisch zeugen von fröhlichen Familien-Momenten: eine Tochter, zwei Söhne, inzwischen alle mit abgeschlossenem Studium. Aber soll sie etwa Pizza backen für die ganze Klasse oder Marmelade kochen für eine gemeinnützige Organisation? Dafür hat sie keine Zeit und hilft lieber anders. Sie unterstützt zum Beispiel die Stiftung „Kinder brauchen Musik“ von Monika und Rolf Zuckowski. „Das Singen“, warnt Dagmar Sikorski, „darf nicht aus den Kindergärten verschwinden! Es ist wichtig für die Persönlichkeitsbildung. Wenn ich in einer Gruppe musiziere, muss ich auf den anderen Rücksicht nehmen, muss versuchen, mit ihm im Gleichklang zu bleiben.“ Was hört sie eigentlich selbst gern? Sie liebt Jazz, hört gern klassische zeitgenössische Instrumentalmusik zu Hause vor dem Kamin, auch einfach mal deutsche Schlager. Wenn sie an die von Lera Auerbach komponierte „Kleine Meerjungfrau“ denkt (in Hamburg von John Neumeier inszeniert), bekommt sie eine Gänsehaut. Musik als Klangteppich findet sie unerträglich. „Das Schlimmste für mich ist, wenn mich das belanglose Gedudel im Hotel verfolgt bis aufs Klo und in den Fahrstuhl. Oder wenn in den Kaufhäusern erst die Durchsagen ‚Klingklangklong Kasse sieben...’ kommen und dann geht das Düddeldaddel weiter. Das ist furchtbar!“ Dass Musik heute allgegenwärtig sei, trage auch zu ihrer Entwertung bei. „Was wäre wohl, wenn wir mal eine Woche ohne Musik blieben? Vielleicht wären die Menschen dann bereit, mehr dafür zu zahlen?!“ Ein Alltag ohne Musik, kaum denkbar, nicht nur für Dagmar Sikorski. DIE WELT 25.06.2016

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Als Botschafterin an Bord

Diakonin Maike Puchert entert Containerschiffe, um Seeleute im Hamburger Hafen zu unterstützen. Seelsorge im digitalen Zeitalter fängt mit der SIM-Karte an, meint sie.

Bevor sie an Bord eines Schiffes geht, packt Maike Puchert ihre Umhängetasche: Ladegeräte, Internet- und Telefonkarten, Zeitungen in verschiedenen Sprachen, Stadtpläne, Flyer und Sticker der Seemannsmission und Bonbontüten eines Sponsors. Obwohl es heute warm ist, trägt sie Sicherheitsschuhe und eine neongelbe wetterfeste Jacke. Ihr Ankerplatz, sprich: ihr Büro, befindet sich in Waltershof im Duckdalben, dem Clubhaus der Seemannsmission. „Haben Sie Strümpfe mit?“ fragt sie mit einem Blick auf meine Sandalen und besorgt dann schnell welche aus dem zum Club gehörenden Kiosk, der die Seeleute mit dem Nötigsten – von Schokolade bis hin zu Hamburg-Andenken – versorgt. Nachdem auch ich vorschriftsmäßig ausgestattet bin, steigen wir, die Helme unterm Arm, in einen kleinen roten Kastenwagen und kämpfen uns durch den täglichen Stau zu Füßen der Köhlbrandbrücke. Die Schranke zum Hafen öffnet sich wie von Geisterhand. „Eigentlich ist das hier Sicherheitsbereich, aber wir haben Sonderrechte, damit wir schnell zu den Seeleuten kommen“, erklärt mir Maike Puchert. Heute sind wir nicht schnell genug. Als wir am Kai ankommen, legt die Konstantinos gerade ab. So ein Mist! Maike Puchert ist seit 2012 Leiterin der Bordbetreuung der Seemannsmission. Unterstützt wird sie bei ihren Besuchen auf den Containerschiffen aus aller Welt von fünfzehn Ehrenamtlichen. „Wir erklären, wie man in die Stadt kommt oder wo man Geld wechseln kann. Wir sehen uns auch als Botschafter der Stadt Hamburg. Es ist wichtig, dass die Seeleute willkommen geheißen werden im Hafen.“ Auch um Seeleute, die im Krankenhaus stranden, kümmert sie sich. „Sie sind in der Fremde, sind krank, das Schiff, auf dem sie gearbeitet haben, ist weg, wenn sie Pech haben mit ihren persönlichen Habseligkeiten. Da brauchen sie Hilfe.“ 336 Krankenhausbesuche hat ihr Team im letzten Jahr absolviert. Am wichtigsten, das hat sie erfahren, ist für die Seeleute die Kommunikation. „Seelsorge ist, für das zu sorgen, was die Seele gerade am dringendsten braucht. Es kann eine SIM-Karte sein oder dass einer mal festen Boden unter den Füßen braucht, oder ein Bier, mal eine grüne Pflanze vor der Nase, ein Gespräch oder ein gemeinsames Gebet." Es kam schon vor, dass sie eine Internetkarte verkaufte und hinterher erfuhr, dass der Mann damit per Skype zum ersten Mal sein neugeborenes Kind sehen konnte. Ungewöhnlich für eine junge Frau, noch nicht 30 Jahre alt, sich tagtäglich mit Brummbären auf See abzugeben, denke ich. „Von wegen Brummbären...“ Einmal empfing sie einer oben an der Gangway: „Was willst denn du?“ Sie hat sich vorgestellt und dann gefragt: „Und du, wie geht’s dir so?“ Der „Brummbär“, fast überrumpelt, musste sich erstmal sammeln und antwortete dann ganz erfreut: „Mir geht es gut, danke! Super, dass du fragst! Das hat mich seit drei Monaten keiner mehr gefragt.“ Das, findet sie, sind besonders schöne Momente, die ihr die Arbeit als Seemannsdiakonin bietet. Manchmal muss sie auch Nothilfe leisten. Eine „sehr komische Atmosphäre“ spürte sie an Bord eines Schiffes. Niemand wollte mit ihr reden, sodass sie sich schon nach sehr kurzer Zeit verabschiedete. Einer aus der Crew schlich ihr hinterher, drückte ihr heimlich einen Zettel in die Hand und flüsterte: „Nicht hier lesen!“ Im Auto las sie dann, dass kein Essen mehr an Bord war, keine Overalls zum Wechseln, die Sicherheitsschuhe fielen auseinander. Da hat sie die Behörden eingeschaltet. Stammt sie aus einer Seemannsfamilie? Keineswegs. Ihre Mutter ist gelernte Pharmazeutin, der Vater Diplom-Kaufmann und Ingenieur. Maike ist im niedersächsischen Wolfenbüttel aufgewachsen, geboren in Wilhelmshaven an der Nordsee. Wochenenden und Sommerferien bei den Großeltern am Jadebusen, Besuche auf der Gorch-Fock prägten ihre Kindheit. „Mit siebzehn in der elften Klasse musste ich unbedingt mal über den Tellerrand gucken. Ich konnte mir nicht vorstellen, weitere zwei Jahre Schule durchzuziehen und am Ende genauso wenig zu wissen, was ich eigentlich mal tun wollte.“ Sie bewarb sich für ein Freiwilliges Soziales Jahr „überall dort, wo Wasser in der Nähe ist“. Ob Kindergarten oder Behinderteneinrichtung – ihr war alles recht. So kam es zu einem Vorstellungsgespräch im Duckdalben und sie wurde 2004 als freiwillige Helferin engagiert. „Diese Entscheidung hat mein Leben geprägt. Hier bin ich kleben geblieben.“ Aber nicht sofort. Zwischendurch musste sie noch ihr Abi machen, im Rauhen Haus studieren, um dann für zwei Jahre bei der Seemannsmission in Brunsbüttel zu arbeiten, bevor es sie wieder nach Waltershof zurückzog. Jetzt führt sie mich durch das Clubhaus, einen roten Backsteinbau, benannt nach den Pfählen, die in den Hafengrund gerammt werden zur Markierung oder als Gelegenheit zum Festmachen. „Von der Enge des Schiffes in die Weite der Seemannsmission...“ In der hohen Eingangshalle macht Maike Puchert eine einladende Bewegung. Jeder Platz an Decke, Wänden und Geländer verziert mit Bildern, Steuerrudern, Mitbringseln aus aller Welt und vor allem: Rettungsringen. Das Wichtigste kommt zuerst: Bunt angestrichene Telefonzellen gleich im Eingang, mit Hörern und Monitoren ausgestattet. Sie weiß, wie sich so eine lange Trennung anfühlt. Eine von Maikes zwei Schwestern ist auch zur See gefahren, als Schiffsmechanikerin. Ebenso ihr Lebensgefährte, heute Lotse auf dem Nord-Ostsee-Kanal. Europäische Seeleute sind vier Monate am Stück von zuhause weg, die philippinischen neun Monate. „Wir haben schon nach den vier Monaten immer gesagt: Oh, endlich vorbei!“ Ihr Freundeskreis besteht mittlerweile zu neunzig Prozent aus Seefahrern bzw. Angehörigen von Seeleuten. Im großen Clubraum setzen Billardtische das für jeden Seemann ultimative Zeichen: Er ist an Land! Denn auf einem Schiff würde dieses Spiel garantiert nicht funktionieren. Jetzt am Vormittag ist noch nicht viel los, nur ein paar junge Männer mit Smartphones in den Sofaecken. Durchschnittlich besuchen hundert Gäste pro Tag den Duckdalben. Die Speisekarte im Wirtsraum ist nicht sehr lang, aber speziell. „Manche Seeleute freuen sich schon in Singapur auf die Pferdewurst hier im Club.“ Maike Puchert führt mich weiter, zeigt mir den Computerraum, der auch gern zum Karaoke-Singen genutzt wird, besonders von den Philippinos. Dann die Bibliothek, aus der die Seeleute alles mitnehmen dürfen, was Buchstaben hat, Zeitungen, Bücher, darunter Bibeln in vielen verschiedenen Sprachen. Nicht zuletzt der Raum der Stille, groß, hell und ruhig, mit neun kleinen Altären für neun verschiedene Religionen. „Wir haben mal kleiner angefangen, aber dann kamen alle nacheinander, Sikhs, Daoisten ... und baten um ihre eigene Ecke.“ Ein orthodoxer Seemann, erzählt sie, habe dem Popen in seiner Heimat ein Photo der Ikonen im Raum der Stille gezeigt. Der Pope sei nicht erfreut gewesen über die unorthodoxe Gestaltung der Ecke und habe auf einem Zettel Anweisungen für die richtige Anordnung der Ikonen notiert. Mit diesem Papier kam der Seemann zurück, betrachtete die Ikonen-Ecke mit unglücklichem Ausdruck und zerknüllte den Zettel schließlich mit der Bemerkung: „Der Pope hat keine Ahnung.“ Das, findet Maike Puchert, sei das richtige Verständnis von der Weite der Seemannsmission. Im Flur zeigt eine große Stadtkarte das südliche Hamburg. „Die musste erneuert werden, denn hier und hier waren zwei Löcher.“ Sie fährt mit dem Finger über den Standort des Duckdalben und den Eingang des alten Elbtunnels. Dorthin fahren sie die Seeleute, wenn die mal einen Ausflug in die Stadt machen wollen. „Die Reeperbahn ist dabei nicht mehr gefragt, eher der nächste Elektronikmarkt.“ In ihrer Freizeit, so stelle ich mir das vor, sucht Maike sicher die Stille auf dem Wasser, vielleicht auf einem eigenen kleinen Boot... Nein, ich liege voll daneben. In Glückstadt, wo sie wohnt, führt sie am Wochenende ihren kleinen Hund Flocke aus und reitet ein isländisches Pony namens Blágrána über festen Boden. Bootsführerschein? Fehlanzeige. Keine Lust? „Also, ich fahre gerne ab und zu mit der Fähre.“ Für eine Woche hat sie mal auf einem Containerschiff angeheuert. „Das ist nichts für mich. Ich bin tatsächlich eher die, die an Land bleibt und den Grund bildet, die Basis. Von hier aus kann ich die Strippen ziehen.“ So hält sie das zuhause in Glückstadt und auch als Seemannsdiakonin in Waltershof. DIE WELT 11.06.2016

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Seit siebzehn Jahren im Aufsichtsrat, Professorin ohne Studium – Manuela Rousseau hat die allerbesten Ratschläge für den Weg nach oben. Macht ist für sie eine gestalterische Kraft.

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Bei Manuela Rousseau klingelt das Telefon. Am anderen Ende der Leitung ist der Aufsichtsratsvorsitzende der Beiersdorf AG. Ob sie Interesse habe, im Aufsichtsrat mitzuwirken, fragt er. Ihr Herz schlägt höher, ihre Gedanken fangen an zu rasen: Wie kommt er denn auf mich? Bin ich überhaupt qualifiziert? Kann ich das mit meiner Familie vereinbaren? Oh Schreck, was sagt mein Chef dazu? „Hallo, Frau Rousseau“, sagt die Stimme am anderen Ende, „sind Sie noch da?“ Das war 1994, also vor 22 Jahren. Jetzt steht Prof. Rousseau im Institut für Kultur- und Medienmanagement und teilt mit den Studierenden – überwiegend junge Frauen – Erfahrungen ihres Berufsweges. „Das Wort ‚nein’ bitte verlernen!“ fordert sie auf. „Wann immer Ihnen ein Angebot gemacht wird, besteht die Antwort aus zwei Buchstaben und heißt wie?“ Keiner sagt etwas. „Wir müssen es einfach üben!“ Allgemeines Gelächter und dann „Ja, ja! Ja!“ aus allen Richtungen. „Ein erstes Nein ist völlig unsinnig, denn die Rahmenbedingungen müssen Sie doch sowieso noch klären.“ Manuela Rousseau, damals Pressereferentin bei Beiersdorf, hat also Ja gesagt. Ohne großes Vorwissen und Erfahrung in diesem Bereich führt sie ihren Wahlkampf zur Aufsichtsrätin – und scheitert. „Furchtbar, es fühlte sich schrecklich an. Ich hatte daran wirklich zu knacken, es gab Tränen, Selbstmitleid, und die erste Zeit danach war ich blockiert.“ Erst später erkennt sie, dass „Scheitern eine wertvolle Erfahrung ist. Seitdem spornen mich Niederlagen eher an, es immer wieder aufs Neue zu versuchen.“ In diesem Sinne tritt sie 1999 erneut an, diesmal mit Erfolg. „Es gibt immer eine zweite Chance!“ Viermal wurde sie seither gewählt, ist also seit siebzehn Jahren im Aufsichtsrat und somit eine der erfahrensten Aufsichtsrätinnen in Deutschland. Sie hat richtig gute Ratschläge für den Weg nach oben, erteilt diese aber keineswegs von oben herab. Mit sichtlichem Spaß lässt sie andere an ihren Erfahrungen teilhaben. Ihr Vortrag ist gut vorbereitet, sie spricht authentisch und persönlich. „Ich verrate Ihnen jetzt, wie ich durch Selbstzweifel lange Jahre selbst verhinderte, dass ich eine Professur erhielt.“ Seit 1992 unterrichtet sie an der Hamburger Hochschule für Musik und Theater. Ohne Studium zur Professorin, das ist nicht alltäglich. Aber sie schaffte es aufgrund besonderer Fachkenntnisse und Qualifikationen. „Setzen Sie sich klare Ziele“, empfiehlt sie jetzt, „und schreiben Sie sie auf!“ Macht sie das selbst auch, frage ich später, als wir Gelegenheit zu einem Gespräch unter uns haben. „Ja, natürlich!“ nickt sie und zieht eine schwarz-rote Kladde aus der Handtasche. Das Büchlein hat sie immer dabei. „Ich gebe mir Jahresziele, Quartalsziele, monatliche, teilweise tägliche Ziele, private und berufliche, und ich schreibe sie auf.“ Im letzten Urlaub hat sie sich überlegt, was ihr 2016 wichtig sein würde und das festgehalten. Was erledigt ist, wird durchgestrichen. „Es ist für mich sehr befriedigend, wenn die Ziele erreicht sind“, erklärt sie und streicht über die beschriebenen Seiten. Sie trägt ein sommerliches Kleid und einen hellen Blazer. Wir sitzen auf der Terrasse der Kammerspiele im Grindelviertel, denn hiermit fühlt sie sich verbunden, wirkt gelegentlich während der Hamburger Privattheatertage in der Jury. Die Liste ihrer ehrenamtlichen Tätigkeiten ist lang, reicht von der Rettung der Nikolaikirche als Denkmal in den 1980er Jahren bis zu ihrer langjährigen Mitgliedschaft bei Zonta, einem „Zusammenschluss berufstätiger Frauen in verantwortungsvollen Positionen“, der die Lebenssituation von Frauen weltweit verbessern möchte. In wenigen Tagen wird Manuela Rousseau ihr neues Amt als Präsidentin des Zonta Clubs Elbufer übernehmen. Sie hat großen Spaß am Netzwerken. Ein Schlüssel zum Erfolg! „Netzwerke, Netzwerke, Netzwerke!“ das sagt sie gerne dreimal hintereinander. „Ich bin überzeugt, dass jedes Treffen, jedes Gespräch ein neuer Knoten in meinem Netzwerk sein kann.“ Aber ausnutzen dürfe man die nicht, warnt sie die Studierenden, das werde nicht funktionieren. Manche schreiben mit. Manuela Rousseaus Vortrag ist wie ein gutes Rezept, das durch häufige Anwendung immer wieder verfeinert wurde. Die Zutaten zum Erfolg: gute Ausbildung, realistische Selbsteinschätzung, Disziplin, Mut zum Scheitern, bereit sein, aus Fehlern zu lernen und über Grenzen zu gehen. Und vor allem: eine bewusste Entscheidung treffen, welche Rolle Beruf und Karriere im eigenen Leben spielen sollen. Bringt sie selbst das alles mit? Nicht unbedingt von Anfang an. Disziplin, ja, die hat sie durch eine sehr strenge Erziehung mitbekommen. Mit zehn Jahren schon musste sie nach der Scheidung der Eltern Verantwortung für ihren jüngeren Bruder tragen. „Wenn ich einen traurigen Moment bekomme, denke ich, sie haben mir einen großen Teil meiner Kindheit genommen. Andererseits habe ich dadurch sehr früh gelernt, Verantwortung zu übernehmen und Entscheidungen zu treffen.“ Manuela ist in Neumünster geboren (1955) und aufgewachsen. Die ersten drei Jahre hat sie bei den Großeltern gelebt. Der Vater war Lokführer, die Mutter, gelernte Näherin, hat als Kassiererin gearbeitet. Mit vierzehn musste Manuela die Schule verlassen, um zum Lebensunterhalt beizutragen. Sie machte eine kaufmännische Lehre. „Meine Mutter stand finanziell mit dem Rücken an der Wand. Das hat mich geprägt und ich habe mir vorgenommen: Das soll mir nie passieren! Ich werde meinen Unterhalt verdienen, immer und zu jeder Zeit!“ Nach ihrer Lehre wird sie im Kaufhaus angestellt. Sie heiratet schon mit 19, und mit 23 macht sie sich selbständig, eröffnet mit Geschäftspartnern drei Radio- und Fernsehgeschäfte im Hamburger Umland. Das Unternehmen geht in Konkurs, auch die Ehe hält den Anforderungen nicht stand. „Da war alles im Bruch. Das war ein ziemlich tiefer Punkt.“ Aber: Es gibt immer ein zweite Chance! 1984 geht sie zur Beiersdorf AG, erst als Einkäuferin, dann als Pressereferentin. 1992 heiratet sie ihren jetzigen Mann. Später wird sie Leiterin des Corporate Social Responsability Headquarters des Unternehmens, erst international, inzwischen ist sie nur noch für Deutschland zuständig, damit sie sich ihren anderen betrieblichen Aufgaben ausreichend widmen kann. Seit 2009 hat sie noch einen zweiten Aufsichtsratsposten, nämlich bei der Maxingvest AG, der Dachgesellschaft von Tchibo und Beiersdorf. Hat sich in den siebzehn Jahren ihrer Aufsichtsratstätigkeit viel verändert? Werden Frauen heute vorurteilsfrei in diesen Positionen akzeptiert? In ihren beiden Aufsichtsräten schon, antwortet sie. „Solange es aber noch Aktionäre gibt, die auf der Hauptversammlung bestreiten, dass Frauen Führungskompetenzen haben, weil sie zu emotional seien und dazu sogar geklatscht wird, sehe ich noch großen Verbesserungsbedarf.“ Das gibt es noch? Ja, tatsächlich, das gibt es noch. Und bei der Suche nach neuen Aufsichtsratskandidatinnen heißt es oft, es gebe keine geeigneten Frauen oder sie wollten nicht. Tatsächlich hat auch sie die Erfahrung gemacht, dass Frauen häufiger als Männer Macht ablehnen. „Sie möchten keine negativen Formen von Macht. Für mich ist Macht positiv, eine gestalterische Kraft, die Spielräume gibt, um Einfluss zu nehmen.“ Wenn ich die Liste ihrer Aktivitäten sehe, gestehe ich ihr, möchte ich am liebsten den Kopf in den Sand stecken. „Ich auch manchmal“, sagt sie sofort, „Sie hätten zuhören müssen am Wochenende, als ich mit meinem Mann diskutiert habe: Warum mache ich das alles?“ Und warum? „Wir haben keine Kinder. Und dann fühle ich mich einfach aufgefordert, die Welt ein wenig besser zu machen. Ehrenamt macht glücklich!“ Ihr Mann ist der ruhende Pol in ihrem Leben. Aber zu ruhig soll das auch nicht werden. Die beiden haben vereinbart, dass sie jedes Jahr neu entscheiden, ob sie ein weiteres Jahr zusammen bleiben. „Im Dezember gibt es immer unser Gespräch, wo die Karten auf den Tisch kommen: Was war gut, was nicht? Und dann die Frage: Wollen wir um ein Jahr verlängern? Das haben wir bisher 23 mal geschafft.“ Gibt es noch unverplante Tage, ohne Zielsetzungen und Vorsätze? „Zu wenige, die wünsche ich mir manchmal. Gestern war so einer. Mein Mann hat vorgeschlagen, Golfen zu gehen. Das kam mir entgegen: Mein Handikap will ich ja auch verbessern, das steht für 2016 auf der Liste.“ Es wurde ein sonniger, entspannter Tag. DIE WELT 21.05.2016

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© Bertold Fabricius

Herrin über Schriften aus 5000 Jahren

Sie schwärmt für die Vernetzung im Cyberspace ebenso wie für kostbare Originale: Gabriele Beger, Direktorin der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek

Liest sie ihre Zeitung morgens lieber auf Papier oder auf dem iPad? Das ist ihr ganz egal. Vor ein paar Jahren hat sie noch gesagt, ein Buch zu lesen ohne umzublättern, das sei kein Vergnügen. Heute sieht sie das ganz pragmatisch: „Viele Bücher sind ja so wahnsinnig schwer. Wir müssen jetzt nicht mehr so große Handtaschen haben. Ein iPad passt in jede Tasche.“ Gabriele Beger ist begeistert von den Möglichkeiten, die digitale Technologien schaffen. „Wir haben hier uralte Handschriften, die für die Forschung sehr relevant sind und versuchen, sie so aufzubereiten, dass sie weltweit digital zur Verfügung stehen. Das ist eine unserer Schwerpunktaufgaben. Von daher ist die Digitalisierung ein Geschenk.“ Nur logisch, dass sie ihre Promotion zum Thema „Urheberrecht und elektronische Bibliotheksangebote – ein Interessenkonflikt“ verfasst hat. Mit der großen Brille auf der Nase und den hinten verknoteten grauen Haaren sieht sie genau so aus, wie man sich eine Bibliothekarin vorstellt, aber eine, die die Nase nicht nur in verstaubte Bücher steckt, sondern sich mit großem Interesse auch den Menschen zuwendet, die ihr begegnen. Und das macht Gabriele Beger hier als Direktorin der Staats- und Universitätsbibliothek (kurz: Stabi) auch zum Programm. Die Bibliothek sage nicht mehr: „Dieses Buch ist gut, lies es, sei ruhig und setz dich hin!“ erklärt sie mir, sondern frage ihre Besucher: „Welche Ausstattung brauchst du, was suchst du hier?“ Ein Ausdruck dieser Haltung sind die neuen Arbeitsräume für Studenten mit gemütlichen Banknischen wie in einem Restaurant, versehen mit, einem Monitor und Anschlüssen zur umfangreichen Vernetzung. Die Tageszeitungen aus dem ersten Jahr des I. Weltkriegs hat die Stabi im Rahmen eines EU Projekts digitalisiert. Dabei wurde deutlich, wie sich die Einstellung der Bevölkerung veränderte, wie die Zustimmung abnahm und welche Auswirkungen ein Krieg hat. „Das mit anderen historischen Zeugnissen vergleichen, das können Sie nur im Netz. Früher ging das zum Teil mit Klebstoff, aber natürlich nicht in dieser Qualität.“ Wir sitzen in ihrem Büro, das, vornehmlich mit weißen Resopalmöbeln ausgestattet, keinen besonderen Charme ausstrahlt. Interessant aber die drei großen Bilder an den Wänden, die allesamt ihre Schwester gemalt hat. „Sie ist eine begnadete Malerin“, sagt Gabriele Beger bewundernd und verscheucht einen Anflug von Raucherhusten. Ja, sie raucht und trinkt gern wahnsinnig viel Kaffee. Und sie ist ungeduldig. „Geht das auch schneller?“ hat sie früher häufig gefragt. „Aber so geht man mit anderen Menschen nicht um.“ Deshalb hat sie sich das abtrainiert. Sie ist Jahrgang 1952, aufgewachsen in Ostberlin mit der Schwester und einem Bruder, beide älter als sie. Die Mutter Hausfrau, der Vater Journalist. „Ich komme also aus einem bürgerlichen Elternhaus, wo eine gute Bibliothek vorhanden war, wo ich an Literatur und klassische Musik herangeführt wurde“, erzählt sie und fügt hinzu: „Das ist ein Geschenk. Ich bewundere alle Menschen, die nicht dieses Glück in ihrer Kindheit hatten und es dennoch schaffen. Welchen Ehrgeiz, welche Disziplin müssen sie aufgebracht haben, um das aufzuholen?“ Nun, frei von Ehrgeiz und Disziplin ist Gabriele Beger mit Sicherheit auch nicht; das spüre ich sofort. Und immerhin war sie schon als Kind Leistungssportlerin im Boden- und Geräteturnen, sollte sogar für die Olympiade 1968 trainiert werden. „Aber da haben meine Eltern einfach den Stecker herausgezogen – schließlich ging es auch ums Doping – und gesagt: ‚Geh doch lieber ins Theater!’ Da sehen Sie, dass ich wirklich weitsichtige Eltern hatte.“ Obendrein behinderte noch eine Blinddarmentzündung das Training und so wurde Gabriele tatsächlich eine eifrige Theatergängerin und entwickelte eine besondere Liebe zu Bertold Brecht, dessen Texte sie gemeinsam mit ihrer Freundin auswendig lernte. Damit ich jetzt wegen ihrer Begeisterung für die Digitalisierung nicht schreibe: „Frau Beger ist ein Technik-Freak“, holt sie aus ihrem Regal das Moller Florilegium, einen dicken Band mit prachtvollen Blumenbildern, gemalt im 17. Jahrhundert. „Der Originalband kostet inzwischen eine Million und ist natürlich im Tresor.“ Neulich hatte sie ein anderes Buch mit einem Original-einband aus dem fünften Jahrhundert in der Hand: „Da empfinden Sie Ehrfurcht, das ist einfach wunderschön!“ Nicht nur Gedrucktes wird in dem siebzehn Stockwerke hohen Bücherturm aufbewahrt, auch Tontafeln und Handschriften, sowie an die 400 Nachlässe berühmter Hamburger wie Wolfgang Borchert oder Johannes Brahms. „Schön ist, dass diese Nachlässe nicht nur Manuskripte und Briefe enthalten, sondern auch Dinge wie den Schreibtisch von Klopstock oder die rosafarbenen Schuhe seiner Frau. So etwas liebe ich! Das ist dann natürlich wieder eine Liebe zum Haitischen.“ Was ist denn der größte Schatz in ihrer Bibliothek? „Da werden Sie jetzt staunen“, lacht sie, „das sind die Mitarbeiter!“ Sie verweist auf eine Urkunde an der Wand, die der Stabi attestiert, dass sie sich besonders für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf engagiere. Setzt sie sich dafür ein aus eigener Erfahrung? Sie ist verheiratet, hat eine erwachsene Tochter und eine Enkelin. „Entschuldigung“, winkt sie ab, „das lassen wir mal sein, klar hat man in meinem Alter Familie, aber mich berührt es unangenehm, als Frau immer danach gefragt zu werden.“ Da spricht sie etwas an, worüber ich als Autorin auch oft nachdenke. Lässt man die Familienverhältnisse eines Mannes außer Acht, protestiert niemand. Kläre ich aber in einem meiner Frauenporträts nicht über den Familienstand und die Kinderzahl auf, kommen garantiert kritische Nachfragen. Gabriele Beger will keine gängigen Klischees bedienen. Ich auch nicht. Aber bleiben diese Bausteine unseres Lebens nicht trotzdem interessant, gerade weil sie uns persönlich und gesellschaftlich so beschäftigen? „Erzählen Sie lieber etwas anderes“, wünscht sie sich, „zum Beispiel dass ich im Grindelviertel wohne und mich hier sauwohl fühle. So etwas zeigt doch eher, wie ein Mensch tickt.“ Sie genießt die Lebendigkeit in der Woche, die Ruhe am Wochenende und vor allem das Familiäre: „Nein“, sagt ihr der Schuster, „Sie brauchen keinen Zettel, ich weiß, wie Ihre Schuhe aussehen!“ Deshalb liebt sie ihren Hamburger Kiez. Der Blick aus ihrem Büro fällt direkt auf ein immenses Graffiti, das eine vier- bis fünfstöckige Hauswand dekoriert. Es erinnert an Berlin, „die lebendigste Stadt nach wie vor“, so sieht sie das und hat an der Humboldt Universität noch immer einen Lehrauftrag. Von 1971 bis 2005 war sie im Osten Berlins an der Stadtbibliothek tätig, also über dreißig Jahre, die letzten als deren Direktorin. Wie hat sie denn überhaupt ihre Liebe zu Bücherregalen entdeckt? Auf der Suche nach einem Beruf, erzählt sie mir, habe sie der damalige Direktor der Stadtbibliothek beeindruckt. Der sei durch die Welt gereist und habe von überall Neuerungen mitgebracht. Aus Schweden zum Beispiel die Idee einer Artothek, aus den USA Fließbänder, worauf die Bücher aus den Magazinen hochschnellten. „Also, dass man Bilder ausleihen konnte und dass die Bücher auf dem Fließband kamen.... so oberflächliche Dinge haben mich fasziniert!“ Nach einer Ausbildung zur Bibliotheksassistentin studierte Gabriele Beger Bibliothekswesen in Leipzig und Berlin. Die Öffnung der Grenze zwischen Ost und West kam für sie gerade recht. Sie war 37 und steckte in den letzten Zügen ihres Jura-Zweitstudiums. „Da konnte ich mich spezialisieren auf den Vergleich der Rechtssysteme und reiste sozusagen als Übersetzerin durch die Gegend. Direktorin der Stadtbibliothek wäre ich höchstwahrscheinlich ohne die Öffnung auch nicht geworden, wegen meiner Schwester im Westen.“ Ist ihr der radikale Wandel auch schwer gefallen? „Nein“, wehrt sie ab, „ich mag Veränderungen!“ Das hält sie für einen ihrer wichtigsten Wesenszüge. Gilt das ebenso fürs Privatleben? „Vielleicht nicht so sehr. Irgendwo muss man sich auch mal ausruhen können.“ Aber immerhin ist sie, darauf weist sie ausdrücklich hin, nach über fünfzig Jahren in Berlin 2005 nach Hamburg gezogen, ohne mit der Wimper zu zucken. Obwohl Freunde sie gewarnt haben, es regne hier immer und die Leute seien nicht so aufgeschlossen. „Das probiere ich erst mal aus!“ hat sie sich gesagt und in den zehn Jahren seither viele positive Überraschungen erlebt. Gibt es denn irgendetwas, das sie nervt hier, an ihrem Job zum Beispiel? Sie denkt lange nach. Sehr lange. „Nö“, antwortet sie dann trocken. „Wenn mich etwas nervt, dann stelle ich es ab.“ Das macht sie bestimmt, da bin ich ganz sicher. DIE WELT 07.05.2016

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Andrea Zietzschmann schwärmt für moderne Klänge. Sie leitet den Bereich Orchester, Chor und Konzerte im NDR. Ihre Mammut-Aufgabe in diesem Jahr: Der Umzug des Symphonieorchesters in die Elbphilharmonie.

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Sonntag Morgen in der Laeiszhalle. Die Musiker des NDR Sinfonieorchesters treten heute mit Koffern an, denn im Anschluss an das Konzert geht es gleich auf Tourneereise nach Polen. „Eigentlich“, erklärt mir Andrea Zietzschmann, „waren unsere Termine schon straff geplant. Aber dann hat uns die deutsche Botschaft in Warschau sehr eindringlich klar gemacht, dass ein Empfang beim Staatspräsidenten angesichts der aktuell schwierigen politischen Beziehungen ein wichtiges Signal setzen würde.“ Die Musik als diplomatisches Mittel? Ja, das hat sie schon häufiger erlebt. Andrea Zietzschmann ist seit gut zwei Jahren die Leiterin des Bereichs Orchester, Chor und Konzerte im Norddeutschen Rundfunk. Sozusagen Außen- und Innenministerin der vier Klangkörper (so heißt das in der Sprache der Sender), die zu ihrem Verantwortungsbereich gehören: der Chor, die Bigband, die Radiophilharmonie in Hannover sowie das NDR Sinfonieorchester. Ach nein, den Fehler habe ich schon am Anfang gemacht: NDR Elbphilharmonie Orchester heißt es jetzt offiziell, denn schließlich stellt der NDR das Hausorchester des neuen Konzerthauses, dessen Eröffnung nun tatsächlich näher rückt. Die Vorbereitungen für den Umzug nehmen in Andrea Zietzschmanns Arbeitsalltag einen großen Raum ein. Aber jetzt sitzen wir erstmal im ersten Rang links in der neobarocken Laeiszhalle, lauschen den Klängen von Schostakowitschs zehnter Sinfonie, dirigiert von Krzysztof Urbański. Andrea Zietzschmann ist begeistert: „Gerade mal Mitte dreißig und er dirigiert alles aus dem Kopf, ohne Partitur!“ Da vergisst sie schnell, dass sie sonntags eigentlich gern mal länger schläft und dann die Zeit mit ihrer neun-jährigen Tochter und ihrem Mann verbringt. In der Pause auf den Fluren vor dem Dirigentenzimmer kennt sie jeden, tauscht ein paar freundliche, kollegiale Worte, bleibt zurückhaltend. Den Pferdeschwanz hat sie mit einem einfachen Haargummi zusammengebunden, schwarzes Kleid zu schwarzen Leggings, eine lange Kette mit schmalem silbernen Anhänger, ansonsten kein Schmuck. Dass sie die wichtigen Dirigenten und Musiker der Welt kennt, mit dem inzwischen verstorbenen Claudio Abbado gar ein Orchester – das Mahler Chamber Orchestra – gegründet und es gemanagt hat, das trägt sie nicht vor sich her. Eine Art Startup war das, aber so nannte man das 1997 noch nicht. „Das war echte Pionierarbeit“, schwärmt Andrea Zietzschmann noch heute. „Das Orchester musste ohne Subventionen auskommen. Wir haben uns nur über unsere Einnahmen, Drittmittel und Sponsoren finanziert. Da war unser Improvisationstalent ständig gefragt.“ Die jungen Musiker kamen aus zwanzig verschiedenen Nationen, hatten das Ziel, West und Ost miteinander zu verbinden – die Mauer stand noch – und traten weltweit auf: Tokio, Turin, Paris, Brüssel... Andrea war damals Ende zwanzig. Sie hatte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte und Volkswirtschaft in Freiburg, Wien und Hamburg studiert. Eine ungewöhnliche Kombination. „Ich wollte in jedem Fall etwas mit Musik machen. Aber Stunden lang ein Instrument üben, das schien mir zu einseitig. Ich hatte so viele andere Interessen neben der Geige und der Musik: Sport, lesen, Freunde sehen... Da entdeckte ich mein Talent für das Organisieren.“ Schon während ihres Studiums arbeitete sie für den Westdeutschen Rundfunk, die Staatsopern in Stuttgart und hier in Hamburg. Nach sechs Jahren Pionierarbeit für das Mahler Chamber Orchestra ging sie als Orchestermanagerin und später Musikchefin zum Hessischen Rundfunk. Dass ihre Jobs mit vielen Reisen verbunden sind, ist ihr gerade recht. Schon als Kind flog sie häufig nach Venezuela, wohin ein Teil ihrer Familie ausgewandert war. Oft fuhren die Eltern mit ihr und der älteren Schwester auch einfach los nach Südeuropa, ohne nähere Pläne gemacht zu haben. Also liebt sie heute Abenteuerreisen nach Kambodscha oder Vietnam ebenso wie Tourneen nach Polen oder Shanghai. Geboren ist sie allerdings 1970 im beschaulichen Schwenningen am Neckar. Die Mutter Ärztin, der Vater Betriebswirt, gleichzeitig ein guter Klavierspieler, die Großmutter Opernsängerin, der Großvater eifriger Operngänger. Andrea indes schlich heimlich in den Keller, um ungestört von der Schwester Popmusik auf SWR 3 zu hören. Was läuft denn heute bei ihr zuhause? „Weltmusik, Pop, Jazz, eigentlich die ganze Bandbreite, nur kein Heavy Metal. Eher weniger klassische Musik, es sei denn, ich lege eine CD ein, um Solisten oder ein Repertoire kennenzulernen. Sonst höre ich eher Musik zum Entspannen.“ Also Klassik ist nichts zum Entspannen? Nein, Klassik kann sie nicht nebenbei hören. Und ihr Mann, Berufsmusiker, nämlich Geiger, erst recht nicht. Manchmal spielt sie selbst ein bisschen Klavier oder auch Flöte, nur für den Hausgebrauch. „Meine Geige liegt schon lange im Schrank. Ich habe einfach keine Zeit dafür. Mein Beruf - das ist ja eigentlich keine Arbeit, sondern eine echte Leidenschaft.“ Als vor kurzem das neue NDR-Musikprogramm auf einer Pressekonferenz vorgestellt wird, hat Andrea Zietzschmann ein fast permanentes Lächeln im Gesicht. Sie ist glücklich über das, was sie da mit auf die Beine gestellt hat. „Der Umzug in die Elbphilharmonie ist ein Meilenstein in der Geschichte des Orchesters. Die Musiker haben jahrelang darauf hingefiebert, endlich in einem eigenen Saal proben und Konzerte geben zu können. Die Begeisterung für die Residenz in der Elbphilharmonie ist riesengroß. Aber natürlich gibt es auch gewisse Ängste, denn die Herausforderung ist beachtlich und der Wettbewerb wird stärker. Wird man dieser Rolle gerecht?“ Die explodierenden Kosten der Elbphilharmonie führen ebenso wie der Rundfunkbeitrag, der bekanntermaßen nicht freiwillig und nicht von allen gern gezahlt wird, immer wieder zu der Frage: Warum soll denn jemand, der nur Schlager oder Metal hört oder gar keine Musik mag, diese „Klangkörper“ und ihre Konzerte mitfinanzieren? „Es ist wie eine flat rate“, so sieht Andrea Zietzschmann das, „das Angebot der öffentlich-rechtlichen Sender ist sehr vielfältig. Jeder nutzt nur einen gewissen Teil. Manche interessieren sich vor allem für Nachrichten, die nächsten für Sport, andere für die Kulturangebote.“ Nur 48 Cent des Rundfunkbeitrags würden beim NDR für die Orchester verwandt, erklärt sie weiter und die Leistung dafür sei enorm. „Ohne unsere Konzerte und ohne unser Engagement bei Festivals, wäre die Kulturlandschaft im Norden wesentlich ärmer. Es gäbe kaum noch professionelle Chöre oder Bigbands.“ Jetzt freut sie sich ganz besonders über die Chancen, in der Elbphilharmonie ein anderes, ein jüngeres Publikum anzusprechen und zeitgenössische Musik zu präsentieren. Dafür schlägt ihr Herz nämlich schon seit Kindheitstagen. „Wir hatten einen ziemlich verrückten Musiklehrer“, erzählt sie mir, „er hat uns ermuntert, mit ihm zu den Donaueschinger Musiktagen zu gehen. Außer mir wollte keiner so recht. Um 1980 liefen dort ganz extreme Geschichten. Eine Performance endete tatsächlich in einer Schlacht zwischen Publikum und Bühne, drei Blechblasinstrumente wurden zerstampft. Es war eine reine Provokation. Das hat mich schwer beeindruckt.“ So wurde sie schon als Schülerin zur regelmäßigen Besucherin dieser Musiktage, die nicht weit entfernt von ihrem Heimatort stattfanden und heute noch international als eines der wichtigsten Festivals für Gegenwartsmusik gelten. Ich gestehe ihr, dass mir der Zugang zu den meisten zeitgenössischen Werken fehlt, schwärme von den USA, wo man Beethovens oder Chopins populärste Klavierkonzerte serviert bekommt, ohne sich vorher durch experimentelle Klänge zu kämpfen. „Das ist eine Frage der Vermittlung“, erwidert sie voller Überzeugung. Und deshalb arbeitet sie auch gerne zusammen mit Dirigenten wie Thomas Hengelbrock und Krzysztof Urbański oder Komponisten wie Anders Hillborg, die die Menschen zu erreichen wissen. Hillborgs Werke, sagt sie, seien zugänglich. „Die tun nicht weh!“ Sie erinnert sich an Paavo Järvi, gleichzeitig Chefdirigent in Frankfurt und Cincinnati, wo die Kultur auf staatliche Unterstützung weitgehend verzichten und von Eintrittsgeldern und Spenden leben muss. „Wenn wir über der Programmplanung saßen, dann war Järvi ganz erstaunt über unsere Vorschläge: Wie, das geht? Und das geht auch? Denn in Cincinnati saß immer der Marketingchef dabei und sagte direkt: yes, no, yes, no, je nach Popularität des Programms. Ich finde es schön, dass wir größere künstlerische Freiheiten haben.“ Und außerdem hat sie die Erfahrung gemacht, dass Menschen, die nicht mit klassischer Musik aufgewachsen sind, schräge, moderne Klassik oft spannender finden als eine Beethoven Sinfonie. Der Funke ihrer ganz selbstverständlichen Begeisterung springt über. Vielleicht sollte ich doch mal ausgetretene Pfade verlassen und den Hillborgs der nächsten Saison eine Chance geben. Es tut ja nicht weh... DIE WELT 23.04.2016

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Allein hinter dem Schreibtisch

Die Schriftstellerin Petra Oelker brütet gerade über dem Schluss ihres neuen historischen Romans. Ihr Krimi-Debut gab sie erst mit 50, trotzdem brachte sie es inzwischen auf gut zwei Dutzend Bücher, darunter viele Bestseller.

Petra Oelker ist gerade im Endspurt, als wir uns das erste Mal treffen. Sie schreibt an den letzten Kapiteln für ihren neuen Roman „Emmas Reise“, der im kommenden Herbst erscheinen wird, und sie ist im Verzug. Eigentlich hätte sie schon abgeben müssen. Das mache sie etwas nervös, zumal sie eigentlich gar nicht schreiben könne, gesteht sie mir gleich zur Begrüßung. Ach, das kann ja interessant werden: eine Schriftstellerin, die nicht schreiben kann! „Ich zähle immer durch“, sagt sie, nachdem wir uns an einen dunklen Holztisch gesetzt haben. Sie zeigt auf eine Ecke im Regal, in der sie die selbst verfassten Bücher sammelt. „Ich glaube, jetzt sind es 25, die haben sich alle gut verkauft. Es kann eigentlich nicht sein, dass ich es nicht kann.“ Wir lachen. Aber am Anfang sei es wirklich immer furchtbar schwer. „Alle wollen ins erste Kapitel, ich habe immer sehr viel Personal.“ Im ersten Moment stutze ich. Doch dann fällt der Groschen. „Und einigen Figuren muss ich sagen: Ihr könnt nicht mitspielen, es sind schon so viele! Ich hebe euch auf für ein anderes Buch. Ganz doof! Das zu sortieren am Anfang, ist für mich sehr schwer.“ Deswegen muss sie dabei leider immer ganz viel Schokolade essen. Nervenfutter. Auf Fotos macht Petra Oelker oft einen burschikosen, manchmal sogar herben Eindruck. In der persönlichen Begegnung bewahrheitet sich das nicht. Ihre zarteren, sensiblen Facetten zeigen sich sofort. „Ich plappere immer so, Sie müssen mich unterbrechen!“ fordert sie mich freundlich auf, aber ich bin natürlich sehr froh, dass sie plappert. Im Nebenraum ist ihr Arbeitsplatz, der wie selbstverständlich jeder klischeehaften Erwartung gerecht wird: Ein mittelgroßer Schreibtisch, links ein paar Unterlagen, rechts ein Telefon, in der Mitte ein sehr großer Bildschirm. Die Regalwand dahinter bis zur Decke mit Büchern gefüllt. Letzte Woche, erklärt sie, habe hier noch eine ganze Wanne voller Recherchematerial gestanden, lauter kopierte Bücher. „Bescheuert, das kann man gar nicht alles verwerten! Ich neige dazu, mich festzufressen, weil ich immer alles interessant finde.“ Petra Oelker schreibt historische Romane, auch mal Biografien wie die über Eva Lessing oder zeitgenössische Krimis wie „Tod auf dem Jakobsweg“. Aber bekannt geworden ist sie durch ihre historischen Kriminalromane, in denen sie die Komödiantin
Rosina und den Kaufmann Claes Herrmanns durch das Hamburg des 18. Jahrhunderts schickt, um heimtückische Morde aufzuklären. Beliebt sind ihre Bücher durch die Detailtreue, die Bilder malt von der Stadt und den Menschen damals, ihren Sitten und ihrem Handwerk. „Natürlich schreibe ich Romane und keine Geschichtsbücher, aber was ich schreibe, soll auch stimmen.“ Deswegen siedelt sie ihre Geschichten nie im Mittelalter an. „Das stimmt nie, denn man weiß einfach zu wenig über diese Zeit.“ Seit sie selber welche schreibt, mag sie historische Romane nicht mehr lesen, denn vieles erscheint ihr „extrem ausgedacht“. So ein Buch bestimmt mindestens ein Jahr in ihrem Leben. Der neue Roman „Emmas Reise“ nahm sie noch länger in Anspruch, denn die Recherche war aufwendiger als gewöhnlich. Normalerweise spielen ihre Geschichten in einer, höchstens zwei Wochen. „Ich mag diese Geschlossenheit.“ Aber Emma ist lange unterwegs, von Hamburg bis nach Amsterdam, um 1650, also nach dem 30jährigen Krieg. Die Reise führt sie auch in Petra Oelkers niedersächsische Heimat. In Cloppenburg ist die Krimi-Autorin 1947 geboren, aufgewachsen in umliegenden Dörfern. Häufige Umzüge bestimmten ihre Kindheit. Sie kokettiert gerne damit, dass sie kein Abitur gemacht hat. „In den sechziger Jahren auf dem Land, da hätte ich Fahrschülerin werden müssen...“ Nach der Mittelschule ging es auf die Höhere Handelsschule; das Kind sollte ins Büro. „Bibliophil war mein Elternhaus nicht gerade, aber meine Mutter las gern Romane und Reader’s Digest.“ Zum Geburtstag gab es für Petra und ihre zwei älteren Schwestern immer ein Buch. Und Socken. „Bücher lesen oder draußen sein, im Wäldchen oder am Bach, das war unsere Freizeit.“ Petras Vater arbeitete als Förster, hat sie oft mitgenommen auf seine Streifzüge durch Wald und Feld. Daher ihre Leidenschaft fürs Wandern. Einmal im Jahr macht sie auch heute noch eine Fernwanderung, zwei bis drei Wochen lang mit dem Rucksack: durch die Schweiz, Frankreich, durch Schottland und England, aber auch durchs Sauerland oder den Teutoburger Wald. Auch die Reiseroute ihrer aktuellen Protagonistin Emma hat sie persönlich abgeklappert, zu Fuß, mit dem Fahrrad, ein Stück mit dem Auto. „Zwischendurch bin ich gewandert. Das war keine gute Idee.“ Sie lacht. „Zwischen Bremen und Bramsche war es ziemlich langweilig. Aber ich muss überall gewesen sein.“ Die Gründlichkeit zahlt sich aus. Bei ihren Recherchen vor Ort landete sie auch in einem ehemaligen Forsthaus, das sie noch aus Kindertagen kannte, heute ein Gasthof. Dort fand sie beim Frühstück eine Broschüre, die zu berichten wusste, dass in der heute bewaldeten Region im 17. Jahrhundert kein einziger Baum gestanden hat. „Wenn ich nicht selbst dort gewesen wäre, hätte ich wunderbare Baumszenen beschrieben. Und das wäre mir sehr peinlich gewesen.“ Schon mit ihrem ersten Krimi „Tod am Zollhaus“ schaffte es Petra Oelker 1997 in die Bestseller-Listen. Eigentlich wollte sie eine „richtige Schmonzette“ schreiben. Heraus kam ein Hamburg-Krimi, 250 Seiten in weniger als sechs Wochen. „Da habe ich noch geübt, es ist ein dünnes Buch.“ Eins, das ursprünglich keiner haben wollte, denn Krimis mit Lokalkolorit waren damals noch nicht im Trend. Eine wage Zusage gab es unter der Maßgabe, sie solle etwas mehr Sex & Crime einarbeiten. Das passte ihr nicht und so schickte sie das Manuskript noch an den Rowohlt-Verlag mit der ausdrücklichen Bitte um eine schnelle Entscheidung. Die Lektorin fand diese Naivität „totkomisch“, erfuhr Petra Oelker im Nachhinein. Als angehende Schriftstellerin hatte sie damals keine Ahnung, dass unverlangt eingesandte Manuskripte in den Verlagen meist gar nicht beachtet wurden. Eigentlich arbeitete sie zu jener Zeit als freie Journalistin, vor allem für die „Brigitte“, aber die Branche war im grundsätzlichen Wandel begriffen. Die langen Dossiers und Reportagen zu schweren Themen, die Petra Oelker nach aufwendiger Recherche geschrieben hatte, wurden immer weniger gefragt. „Das Buch war halt ein Versuch. Und wenn es keiner will, dachte ich damals, dann gehe ich Kartoffeln verkaufen. Oder so was.“ Flexibel hatte sie sich im Laufe ihrer beruflichen Entwicklung schon häufig gezeigt. „Meine Ausbildung mäanderte vor sich hin, weil ich nie etwas durchgehalten habe.“ So war sie einige Jahre als medizinisch-technische Assistentin tätig, dann studierte sie Sozialpädagogik und arbeitete mit Jugendlichen, hängte später noch ein Pädagogikstudium dran und ging als Dozentin in die Erwachsenenbildung. Zwischendurch betätigte sie sich kurz als Weinhändlerin, fand dann 1981 – da war sie Mitte 30 – über die frisch gegründete „Hamburger Rundschau“ in den Journalismus. Fünf Monate hielt sie es als Chefin vom Dienst bei der „TAZ“ aus. „Ich wollte nie, nie, nie Chefin sein! Manchmal bin ich mit der Wärmflasche auf dem Bauch durch die Redaktion gelaufen.“ Wir amüsieren uns über die Zeiten, als man bei der „TAZ“ noch mit dem Duden unter dem Arm für die korrekte Rechtschreibung werben musste. Zu ihrem Glück wurde Petra dann von der „Brigitte“ abgeworben, für die sie fast ein Jahrzehnt im Themenbereich Gesundheit, Arbeit, Soziales und Psychologie schrieb. Bis zum ersten Bestseller-Krimi eben. Sie setzt sich an ihren Schreibtisch, zeigt mir Handy-Fotos von ihren Wanderungen und Kopien von Gemälden, die sie inspiriert haben. „Wenn ich anfange zu schreiben, dann weiß ich den Anfang, das Ende und die Mitte. Wenn es ein Krimi ist, weiß ich, wer das Opfer ist und warum, wer die Täter sind und warum. Ich lasse mich nicht am Schluss überraschen.“ Der Schluss des neuen Buches muss also nur noch aufgeschrieben werden. Anschließend die Korrekturgänge, dann tief Luft holen und endlich wird sie wieder Zeit haben für andere Dinge, die sie so gerne macht: ins Theater gehen, melodramatische Opern oder Neues vom Ensemble Resonanz hören. Diese Töne erwärmen ihr Herz. Aber auch wenn das Schreiben sie von schönen Erlebnissen dieser Art zeitweise fernhält, auch wenn es ihr nach 25 Büchern immer noch sehr mühsam erscheint, auch wenn sie eigentlich gar nicht schreiben kann, so ist sie inzwischen doch zu dem Schluss gekommen: „Da wo ich bin, bin ich genau richtig: allein hinter meinem Schreibtisch.“ DIE WELT 09.04.2016

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Ebola, Zika, Lassa-Virus... Die Infektionsforscherin Marylyn Addo sucht nach Impfstoffen und Medikamenten gegen Viren, die die Welt alarmieren.

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Als wir uns in ihrem Labor im Heinrich-Pette-Institut auf dem UKE-Gelände treffen, gibt es gerade ein aktuelles Problem. Lassafieber in Deutschland. Vor einigen Wochen war in Köln ein Patient daran gestorben, dessen Bestatter ist ebenfalls erkrankt. Und nun scheint sich noch jemand mit dem Tropenvirus infiziert zu haben. Sollte sich das bewahrheiten, wird Dr. Marylyn Addo ihn behandeln. Bringt sie sich damit nicht selbst in Ansteckungsgefahr? Sie schüttelt den Kopf. „Wenn man weiß, mit welcher Krankheit man es zu tun hat, kann man sich schützen.“ Gefährlich wird es oft, wenn die Diagnose erst später gestellt wird. Und manchmal machen Menschen Fehler. „Es gibt strenge Regeln, an die man sich halten muss und die auch trainiert werden. Wenn etwas schiefgeht, dann hat nicht selten jemand die Regeln nicht beachtet, sich zum Beispiel ins Gesicht gefasst.“ Marylyn Addo ist Forscherin für neuartige Virus-Infektionen und gleichzeitig behandelnde Ärztin für solche Erkrankungen. „Ich habe eigentlich drei Hüte auf“, erklärt sie, und dementsprechend hat sie auch drei Büros: Eins im Bernhard-Nocht-Institut am Hafen, eins in der Infektiologie der Uni-Klinik Eppendorf und ein drittes im Labor des Heinrich-Pette-Instituts. Nebenbei ist sie noch ehrenamtlich in der Ethikkommission der Hamburger Ärztekammer und ehrenamtliche Professorin in Durban, Südafrika. Im Grunde trägt sie mindestens ein halbes Dutzend Hüte auf dem Kopf. Anspannung oder Stress merke ich ihr erstaunlicherweise trotzdem nicht an. Freundlich, zugewandt und charmant ist sie, trotz des aktuellen Problems, und obwohl sie gerade erst von einer Tagung in Köln zurückkommt und noch nicht mal Zeit hatte, die Koffer vom Skiurlaub mit den Kindern auszupacken. „Eigentlich bin ich genetisch nicht fürs Skifahren vorprogrammiert, aber nachdem ich in der Schweiz gewohnt habe, wurde ich infiziert“, erklärt sie lachend. Sie ist eine aparte Erscheinung, heute in schwarz-weißem Etuikleid unter dem blauen Kittel, hohe Stiefel, Schmuck aus Silber und Leder. Eine Kollegin zeigt mir die Eisschränke, in denen bei bis zu minus 80 Grad Plasma-, Speichel- und Urinproben aufbewahrt werden. Zellproben wollen es noch kälter, sie lagern in Fässern bei bis zu minus 190 Grad. Impfstoffe und Medikamente werden hier getestet, zum Beispiel gegen das Ebola-Virus. Nach Ausbruch der Epidemie im letzten Jahr haben Forscher in der ganzen Welt auf Hochtouren gearbeitet, Marylyn Addo eingeschlossen. „Habe ich um 4 Uhr nachts eine E-Mail nach Genf geschickt, dann kam prompt um 4:05 Uhr die Antwort. Die Regularien, die wir sonst in sechs Monaten durchlaufen haben, mussten nun sehr viel schneller erledigt werden.“ Bevor ein Impfstoff oder Medikament erforscht und getestet werden kann, müssen Anträge geschrieben werden, um Genehmigungen und Finanzierungen zu erhalten. Das galt auch zu Hochzeiten des Ebola-Ausbruchs. „Ich habe immer schon über meine Grenzen gehen können, wenn es sein musste.“ Geboren (1970) und aufgewachsen ist Marylyn im rheinländischen Troisdorf: „Gut behütet und beschützt.“ Zunächst hat sie „sehr aktiv versucht, nicht Medizin zu studieren“, wollte nicht dem Klischee entsprechen, dass Arztfamilien immer Ärzte hervorbringen. Ihr Vater nämlich war auch Mediziner, einer der ersten Stipendiaten aus dem unabhängig gewordenen Ghana. Die Eltern haben sich im Krankenhaus kennengelernt, wo die Mutter in der Verwaltung tätig war. Allerdings, betont Marylyn, war ihr Vater dort als Patient, nicht als Arzt, und die Mutter hat ihm geholfen, die Papiere auszufüllen. „So eine mixed race Familie, das war in den 1970er Jahren in Deutschland nicht einfach. Ich habe meine Erfahrungen gemacht, aber nichts, das mich traumatisiert hätte.“ Philosophie hat sie studiert, sich für Theologie und Lebensmittelchemie interessiert... Am Ende schlug ihr Herz doch für die Medizin. „Und wenn ich zurückblicke, würde ich das immer wieder studieren.“ Ihr Studium hat sie in Bonn, Straßburg und Lausanne absolviert, die Promotion mit einem Diplom der London School for Tropical Medicine ergänzt. Eine infektiologische Ausbildung gab es damals in Deutschland noch nicht, deshalb ging sie 1999 nach Boston, wo sie vierzehn Jahre mit ihrem Mann, ebenfalls Mediziner, lebte und arbeitete. Dort wurden auch ihre Kinder, heute sieben und dreizehn Jahre alt, geboren. An der Harvard Medical School hat Marylyn Addo alle Staatsexamen noch einmal auf Englisch gemacht, anschließend noch mal drei praktische Ausbildungsjahre in der Klinik absolviert, denn eine deutsche Facharzt-Qualifikation wird in den USA nicht anerkannt. Das alles hat sie auf sich genommen, weil sie sich keinesfalls auf die Wissenschaft beschränken, sondern unbedingt auch als behandelnde Ärztin tätig sein wollte. Im Bezug zum Patienten liegt die Motivation für ihre Forschungsarbeit. So befasst sie sich seit Jahren auch mit HIV und AIDS, das weltweit immer noch zu den zehn häufigsten Todesursachen zählt. „Ich bin eine Forscherin, die gerne den Zweck sieht. Es gibt sicherlich viele Fragen, die wichtige Bausteine zur Erklärung des Universums sind, aber ich würde zum Beispiel weniger gern das Geschlechtshormon des Zebrafisches erforschen.“ Sie braucht die Interaktion mit Patienten und mit Menschen überhaupt. „Ich bin nicht die Art von Wissenschaftlerin, die keine Menschen mag und deswegen ewig durchs Mikroskop guckt.“ Als im Juli 2015 die Nachricht kam, dass sich ein getesteter Ebola-Impfstoff in frühen Studien hundertprozentig wirksam zeigte, schwebte Marylyn Addo „wie auf Wolke sieben. Da konnte ich auch meinen Kindern, die gerade im letzten Jahr oft auf mich verzichten mussten, sagen: Guckt mal, das ist auch eurem Einsatz zu verdanken.“ Jede Woche Donnerstag gibt es ein internationales Ebola-Update, das alle Forscher auf dem Laufenden hält. Ein Medikament zur Heilung ist noch nicht gefunden. „Auf der einen Seite“, erklärt mir Marylyn Addo, „sind wir natürlich froh, dass der Ausbruch fast vorbei ist. Aber wenn es keine Infektionen gibt, kann man auch keine Medikamente auf ihre Wirksamkeit testen.“ Denn hier im Labor, weitab vom realen Umfeld der Krankheit, lassen sich nur einige Phasen der Forschung erledigen. Es scheint, als würden die Abstände immer kürzer, bis ein internationaler Viren-Alarm vom nächsten abgelöst wird: Ebola, Zika, Lassa... Müssen wir uns an immer neue Viren gewöhnen? „Die meisten dieser Viren“, gibt Marylyn Addo zu bedenken, „kennen wir schon lange, Ebola seit 1967, Lassa ist auch schon länger bekannt. Bisher haben sie aber ihren Weg selten aus Afrika, aus ihren geographischen Regionen heraus gefunden. Heute ist die Welt sehr vernetzt.“ Sehr leise spricht sie und ziemlich schnell. In ihren Vorträgen zeigt sie gern eine Karte, auf der alle Flüge, die sich zu einer bestimmten Zeit in der Luft befinden, zu sehen sind. Es wimmelt nur so von Flugzeugen, und sofort wird deutlich, wie groß heute die Gefahr ist, dass ein Reisender ein Virus um die halbe Welt transportiert. „Allerdings“, beruhigt sie, „wir haben zwar große Angst vor Erkrankungen wie der Ebolainfektion oder dem Lassafieber, aber sie sind im Grunde genommen nur schwer übertragbar. Es braucht den direkten Kontakt mit Körperflüssigkeiten. Sie fliegen nicht durch die Luft wie die Grippe.“ Und übrigens hat sich der Lassa-Verdacht, der sie vor einigen Tagen in Atem hielt, nicht bewahrheitet. Warum eigentlich hinkt die Forschung hinterher? Warum gibt es für all diese altbekannten Krankheitsauslöser weder Impfstoffe noch Heilmittel? Leider habe die Welt keine unlimitierten Ressourcen, bedauert Marylyn Addo. „Wenn jemand 2002 Gelder für die Entwicklung eines Ebola-Impfstoffes beantragt hätte, dann hätte die Welt geschrien: Ja, wozu denn das? Nur für die paar hundert Leute, die da irgendwo im Urwald erkranken, können wir doch nicht so viel Geld ausgeben. Schließlich haben wir auch noch andere Krankheiten wie Krebs oder Demenz.“ Müssen wir da nicht umdenken, mehr in Richtung Vorsorge? Doch, bestätigt sie, und genau das sei jetzt geplant. Die WHO habe eine Liste der zehn wichtigsten Viren erstellt, die das Potenzial zu großen Ausbrüchen in sich tragen. In internationaler Zusammenarbeit sollen Impfstoffe und Therapien entwickelt werden. „Das ist ein sehr positives Vorhaben, das sich aus so einer großen Tragödie ergeben hat.“ Und natürlich haben Marylyn Addo und ihr Team auch schon einen Antrag gestellt, um für drei Impfstoffe mit ins Rennen zu gehen. DIE WELT 26.03.2016

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Vom Hindukusch an die Alster

Die amerikanische Generalkonsulin Nancy Corbett hat schon viel von der Welt gesehen: Peking, Tokio, Minsk, Bagdad... Fünf Präsidenten hat sie gedient. Was, wenn der nächste Präsident Donald Trump heißt?

Ihre ersten tieferen Einblicke in deutsche Gewohnheiten bekam Nancy Corbett nicht in Hamburg, sondern am Fuß des Hindukusch. Drei Jahre lang war sie in Afghanistan, zunächst in Kabul und dann als Gast der Bundeswehr im Camp Marmal, wo sie mit ihrem Mann, ebenfalls amerikanischer Diplomat, in einem kleinen Container wohnte. Täglich aß sie in der deutschen Cafeteria und ging zum Sport ins Fitness-Studio der Bundeswehrsoldaten. Als Kulturattachée war sie eine von knapp drei Dutzend Diplomaten, die sich in dem riesigen Feldlager unter tausenden von Soldaten aus sechzehn Nationen bewegten. Jeden Morgen verließ sie das Camp in einem amerikanischen Geländewagen, um Termine mit Schülern, Studenten, Kulturpolitikern oder Denkmalschützern wahrzunehmen. Die halbe Stunde zur nächst gelegenen Stadt Masar-e Scharif fuhr sie selbst, zum Teil über Schotterpisten, und wenn sie das Steuer mal an ihren einheimischen Mitarbeiter übergeben wollte, wehrte der ab: „Sie geben ein gutes Beispiel. Fahren Sie!“ Keine Waffen, keine Eskorte. Fühlte sie sich sicher? „Nicht immer“, Nancy Corbett zuckt mit den Schultern. „Aber man kann nicht andauernd über die Sicherheit nachgrübeln, dann würde man bestimmte Orte nie besuchen und viel verpassen. Wenn Sie zu viel daran denken, wird die Angst Ihre Überlegungen dominieren.“ In dieser Zeit gehörte ein locker über das Haar geworfenes Tuch zu ihrer Arbeitskleidung und ihre Oberteile reichten mindestens bis zur Mitte des Oberschenkels. „Man möchte zeigen, dass man die Traditionen respektiert. Und außerdem: It’s just nice to feel you fit in.” Es fühlt sich einfach gut an hineinzupassen. Aus dem staubigen Afghanistan 2013 direkt ins wohlhabende verregnete Hamburg. Hier sitzen wir nun in einem gemütlichen kleinen Salon, gediegen viktorianisch möbliert mit Blick auf die Alster. Ein krasser Kontrast. „Ja,“ bestätigt sie, „aber warum entscheidet man sich für eine diplomatische Laufbahn? Weil man immer bereit ist, weiter zu ziehen und etwas Neues auszuprobieren! An jedem Ort finden Sie etwas Wunderbares!“ Thomas Jefferson und Abraham Lincoln blicken aus verschnörkelten Goldrahmen auf uns herab, Heiko Herold, Pressereferent im Generalkonsulat, ist auch dabei. Nancy gießt Kaffee ein und versichert mir: „Seien Sie beruhigt, Ich habe ihn nicht selbst gekocht, er ist von Starbucks.“ Natürlich ist sie Meisterin des Smalltalks; Amerikaner saugen das mit der Muttermilch auf. Gestern Abend war sie bis elf Uhr unterwegs. „Das ist nicht immer einfach für jemanden, der gewohnt ist, sehr früh aufzustehen“, gesteht sie. Normalerweise befindet sie sich um diese Zeit schon in tiefem Schlaf, um früh am Morgen ihre Fitness-Übungen zu machen und Nachrichten zu hören: BBC, CNN und dann NDR Info, nicht zuletzt um ihr Deutsch zu verbessern. Disziplin scheint ihr selbstverständlich zu sein. Wir sprechen Englisch, da fühlt sie sich wohler. Dabei ist ihr Deutsch gar nicht schlecht, aber das ist ihr wahrscheinlich nicht perfekt genug. Französisch und Chinesisch spricht sie fließend, Arabisch, Russisch und Dari hat sie auch gelernt. Ihren ersten Auslandseinsatz hatte sie Anfang der 1980er Jahre. Als 22-jährige Freiwillige ging sie mit dem Peace Corps in den Kongo und unterrichtete dort Englisch in einem Rebellendorf, das die Regierung des zentralafrikanischen Landes von der Umwelt abgeschnitten hatte: „Keine Zeitung, kein Radio ... Die Erfahrung dort hat mir die Augen geöffnet. Danach wollte ich unbedingt in Übersee arbeiten.“ Präsident John F. Kennedy, der das Friedenscorps zu Zeiten des Kalten Krieges gründete, war schon als Kind ihr Idol. Sie erinnert sich genau, dass sie krank war und deshalb nicht im Kindergarten, als er 1963 ermordet wurde. Die Bilder aus Dallas hinterließen einen anhaltenden Eindruck bei ihr. Kennedys berühmtester Satz war quasi das Leitmotto ihrer Familie: „Frag nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern denk darüber nach, was du für dein Land tun kannst.“ Sollten wir Deutschen uns diese Devise nicht auch öfter mal zu Herzen nehmen? Ach, das darf sie als Diplomatin wahrscheinlich gar nicht empfehlen. „Richtig“, antwortet sie, „aber ich finde, jeder sollte sich das hin und wieder zu Herzen nehmen.“ Sich einfügen, dazugehören, das passt zu ihrem Wesen, und deshalb passt die Diplomatie gut zu ihr. „Was heißt denn diplomatisch letztendlich?“ fragt sie mich, um dann gleich selbst zu definieren: „Sich mit anderen Menschen zu beschäftigen und ein aktiver Zuhörer zu sein!“ Ihre Aufgabe ist es, Kontakt mit Menschen im gesamten norddeutschen Raum zu halten. Sie liebt ihre Fahrten in die Provinz, nach Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern. Ursprünglich stammt sie aus der Gegend um San Francisco, beide Eltern waren Lehrer an öffentlichen Schulen und sozial engagiert. Das erzählt sie mit Zurückhaltung, aus Angst, ich könne Schlüsse auf ihre parteipolitische Orientierung ziehen. Ist es mühsam, immer diplomatisch zu sein? „Es kann manchmal schwierig sein“, gibt sie zu. Würde sie nicht gern einfach mal rundheraus sagen, was sie denkt? „Hmmm... Ab und zu kann man das, mit guten Freunden und Kollegen. So ein Ventil braucht man auch.“ Und manchmal bezieht das Konsulat auch klare Position: Anlässlich des Christopher Street Days wird es jährlich in regenbogenfarbenes Licht getaucht. Auf dem Hintergrund der emotionalen und kontroversen Debatte um Schwulenrechte wundert mich das ein wenig, aber Nancy Corbett ist bleibt ganz unbeirrt: „Der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten hat im letzten Jahr entschieden, dass das Grundrecht auf Ehe auch für gleichgeschlechtliche Paare gilt. Im US-Außenministerium sind solche Paare längst akzeptiert.“ Also wird die Regenbogenfahne auch im kommenden August wieder vor dem kleinen weißen Haus an der Alster flattern, natürlich nicht am selben Mast wie üblicherweise das Sternenbanner, das verbieten die Regeln. Und vielleicht auch zum letzten Mal, denn das Generalkonsulat wird in die Hafencity umziehen. Wann genau, steht noch nicht fest, klar aber ist, dass Nancy Corbett ihren persönlichen Standort schon vorher verlagert. Im Spätsommer oder Herbst wird sie Hamburg nach drei Jahren verlassen. Nancys Ehemann, James Boughner, ist ebenfalls Diplomat und zur Zeit an der amerikanischen Botschaft in Berlin tätig. Sie lernte ihn 1990 in China kennen. „By mistake!“ betont Nancy, aus Versehen also. Eigentlich hatte sie ihren freien Samstag, den sie am liebsten den ganzen Tag im Schlafanzug verbringen wollte. Doch dann sollte sie diesen Kollegen abholen, der mit einer dicken Tasche voller Geld anreiste, die unbedingt im Safe der Botschaft verstaut werden musste. „Ich war müde, schlecht gelaunt und sah gar nicht gut aus.“ Doch das konnte nicht verhindern, dass die beiden schon im nächsten Jahr heirateten. Nun stehen sie alle zwei, drei Jahre vor der Herausforderung sich zu einigen, wohin die Reise geht. „Es müssen zwei annehmbare Jobs in derselben Gegend frei sein und sie müssen zu unserem Rang und unseren Fähigkeiten passen. Das ist wirklich schwer.“ Sechs Orte haben sie als mögliche nächste Station identifiziert. Und dann gehen erstmal die Verhandlungen der beiden untereinander los. Wo sie nach ihrem Deutschland-Aufenthalt landen werden, ist noch nicht geklärt, vielleicht erstmal an der Diplomaten-Schule in Virginia, um ihre Arabisch-Kenntnisse zu intensivieren. Könnte sie denn jeden Präsidenten im Ausland repräsentieren? Was wäre zum Beispiel mit Donald Trump? Natürlich will sie den Wahlkampf nicht kommentieren, aber: „Wir hatten in der Vergangenheit Präsidenten, die gegen das Wahlrecht für Frauen waren. Das Rad der Geschichte lässt sich nicht so einfach zurückdrehen. Kein Präsident könnte so leicht eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs kippen.“ Das ist Fakt, ganz klar und ganz diplomatisch. DIE WELT 12.03.2016

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Die Chefredakteurin von Hinz & Kunzt, Birgit Müller, erhielt unlängst das Bundesverdienstkreuz. Es kam gerade richtig, denn der desolate Zustand der Obdachlosen in Hamburg hätte sie fast zum Aufgeben getrieben.
DIE WELT

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Großes Gedränge herrscht in den Redaktionsräumen des Straßenmagazins Hinz & Kunzt in der Altstädter Twiete. Verkäufer, Mitarbeiter und Presseleute füllen den großen Eingangsraum mit der Kaffeetheke und dem Verkaufstresen, Fernseh- und Fotokameras fokussieren eine freundlich und zurückhaltend lächelnde Frau in schwarzem Kleid mit weißen Punkten, rotem Strickschal und Stiefeletten. Birgit Müller steht heute im Mittelpunkt – und das ist ihr gar nicht recht. Für 22 Jahre Chefredaktion bei Hinz & Kunzt erhält sie das Bundesverdienstkreuz und wird nicht müde, auf all die anderen im Team zu verweisen, die diese Auszeichnung mindestens ebenso verdient hätten. Aber trotzdem, sie freut sich, das sehe ich, und die meisten Anwesenden wissen, dass ihr Engagement von der ersten Stunde an dafür gesorgt hat, dass das Straßenmagazin und seine 500 Verkäufer heute fast jedem Hamburger bekannt sind. „Sag mal, Birgit, wie viel von diesem Kreuz da ziehst du dir eigentlich selber ‘rein?“ wird sie später von einem der Verkäufer gefragt. Zur Antwort legt Birgit Daumen und Zeigefinger ganz dicht zusammen: „Nur so viel!“ Sie ist definitiv bescheiden und auch genügsam. Ich kann gar nicht zählen, wie oft sie während unserer Gespräche darauf hinweist, dass es schließlich nicht um sie, sondern vielmehr um alle anderen ginge. Auf ihren expliziten Wunsch hin finden die Feierlichkeiten nicht im Rathaus, sondern bei Hinz & Kunzt statt, damit möglichst viele Zeitungsverkäufer dabei sein können. „Du liebst Menschen!“ stellt einer der Preisredner fest. „Es ist erstaunlich, wie du dich über jemanden aufregen und ihn nach einer Stunde wieder liebhaben kannst!“ Zum Abschluss der Zeremonie verteilt sie Lebkuchenherzen mit der Zuckerguss-Aufschrift „Danke“ an einige Mitarbeiter und Verkäufer. Als ein paar Tage später der Rummel vorbei ist, treffe ich Birgit Müller in ihrem Büro. Das teilt sie mit einem Kollegen. Ein halbes Dutzend prächtiger Blumensträuße, nicht gerade liebevoll arrangiert, zieren noch die beiden Schreibtische. Dazwischen Tannengrün mit Silberkugeln, was hier diverse Wochen nach Weihnachten offensichtlich weder erfreut noch stört. „Heute ist Aufräumtag“, verrät sie lachend, „bis hierher sind wir noch nicht gekommen.“ Über zwanzig Jahre ist es her, dass Birgit Müller zu einem kleinen Team aus Journalisten und Obdachlosen, die ein neues Blatt erschaffen wollten, stieß. „Ich habe mich total in diese erste Crew verliebt.“ Zu jener Zeit war sie als festangestellte Lokalredakteurin beim Hamburger Abendblatt zuständig für Hafen und Soziales. „Ich hätte so viele Geschichten zu erzählen“, dachte sie damals, „aber Soziales war nicht sehr gefragt, es sei denn, es gab einen Skandal.“ Deshalb reizte sie die neue Zeitschrift, obwohl sie sehr gern auch für ihr zweites Ressort, den Hafen, unterwegs war. „Dabei bin ich gar nicht seetüchtig, habe obendrein Höhen- und Tiefenangst.“ Geboren 1956 in Oberhausen, aufgewachsen in Duisburg, Köln und Karlsruhe, kam sie mit zwölf Jahren zum ersten Mal zu Besuch an die Landungsbrücken und hatte schon als Kind das Gefühl: „Hier kann ich durchatmen!“ Ihr Weg in den Journalismus verlief nicht geradlinig: Nach dem Abitur ein abgebrochenes Jura-Studium in Freiburg, danach Germanistik und Hispanistik fürs höhere Lehramt in Bonn und Hamburg. Das anschließende Referendariat führte nicht in die Schullaufbahn, sondern in die Abendblatt-Redaktion. Das neue Magazin erhielt den Namen Hinz & Kunzt und sollte professionell gemacht werden, mit gut recherchierten Geschichten. „Kein Jammerblatt!“ verlangten insbesondere die Betroffenen selbst. Zufällig hatte Birgit Müller gerade Urlaub und widmete diesen ganz dem spannenden Projekt. „Die meisten anderen Journalisten, die auch ihre Jobs hatten wie ich, hatten plötzlich keine Zeit mehr, und dann saßen wir da und es fehlten die Texte.“ Mit „Ach und Krach“ wurde im November 1993 die erste Ausgabe fertig gestellt, 30.000 Exemplare gedruckt. „Wir hatten wahnsinnige Angst, dass die sich gar nicht verkaufen.“ Doch die Verkaufszahlen gingen gleich „durch die Decke“, es musste nachgedruckt werden. Von der Kirche gab es 50.000 Mark für den weiteren Aufbau des Projektes. Birgit Müller kündigte spontan ihre feste Stelle beim Abendblatt und war mit zwanzig Wochenstunden auf Honorarbasis dabei. Ganz schön mutig! „Es war mutig, aber es war auch ein Abenteuer. Ich habe gedacht: Mit 38 bin ich gerade noch jung genug, um zwei Jahre lang mit zwanzig Stunden in der Woche über die Runden zu kommen. Mit vierzig wollte ich wieder richtig in Lohn und Brot stehen.“ Hinz & Kunzt sollte „eine soziale Stimme in der Stadt sein, für Menschen sprechen, die weniger privilegiert sind als ich“, erklärt sie mir. Ja, auch sie hatte Probleme in ihrer Kindheit, die Scheidung der Eltern, als sie fünf war, der Tod des Großvaters, bei dem sie wohnte. „Aber ich hatte trotzdem eine tolle Familie. Und die meisten hier, die obdachlos geworden sind, kommen aus ganz harten Verhältnissen.“ Was hält sie eigentlich von dem vielzitierten journalistischen Leitsatz Hajo Friedrichs: „Distanz halten, sich nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten...“? Darüber denkt sie kurz nach und kommt dann zu dem Schluss: „Ich kann diesen Satz nicht mehr unterschreiben. Ich bin auch Lobbyistin, aber ich versuche, so wahrhaftig und sorgfältig wie möglich zu sein. Wir arbeiten hier nicht nach dem Motto: Nur mit einem Auge sieht man besser.“ Plötzlich fällt eine der Blumenvasen um, weil kaum noch Wasser darin ist. Wir lachen, wischen die Pfütze weg. „Ich habe überhaupt keinen grünen Daumen“, gesteht sie und erbarmt sich dennoch, frisches Wasser zu holen. Während sie mir ältere und neuere Ausgaben der Zeitung zeigt, registriere ich ein wenig – ein ganz klein wenig ¬– Stolz in ihrer Stimme (natürlich nicht auf die eigene Leistung, sondern auf die des Teams!). Hinz & Kunzt verfolgt nicht nur journalistische, sondern auch politische Ziele, anfangs mit großem Idealismus: „Wir dachten allen Ernstes: Es kann ja wohl nicht so schwer sein, 500 Obdachlose in zwei Jahren unterzubringen.“ Aus zwei wurden 22 Jahre und eine Vollzeit-Stelle. Sie ist immer noch begeistert von der Crew. „Wenn ich morgens ‘reinkomme und meinen Kaffee von ‚Spinne’ kriege, dann ist der Tag ein guter Tag.“ Die Auflage von Hinz & Kunzt stieg stetig auf heute 66.000, im Weihnachtsmonat Dezember werden die Verkäufer sogar 100.000 Exemplare los. Aber die Zahl der Obdachlosen nahm nicht ab sondern zu; schätzungsweise 2000 Menschen ohne eigene Unterkunft leben heute in der Hansestadt. „Früher haben wir für Wohnungen gekämpft. Jetzt sind wir schon so weit, dass wir uns für Schlafplätze draußen einsetzen, nur weil da irgendwo ein Dach ist. Diese Stadt hat keinen Willen, die Obdachlosigkeit zu beseitigen.“ Und dann wird auch noch ein Gebäude, das sie von der Stadt für Notschlafplätze erkämpfen wollten, für Flüchtlinge geöffnet. „Das war ein Schock“, sagt sie und hält erschrocken inne. „Puh, ich rede mich gerade in Schwierigkeiten...“ Denn natürlich will sie auf keinen Fall, dass Obdachlose und Flüchtlinge gegeneinander ausgespielt werden. Das letzte Jahr hat sie als politischen Tiefpunkt empfunden. Nun, meint sie, vielleicht habe auch der Tod ihrer Mutter ihre Stimmung beeinflusst. „Aber ich habe den Eindruck, wir müssen mal zurücktreten, uns die Lage anschauen und eine neue Strategie entwickeln.“ Die Enttäuschung setzt ihr persönlich so sehr zu, dass sie sogar ans Aufhören dachte. Auch die tägliche Konfrontation mit den harten Schicksalen und nicht selten mit dem Tod in allzu jungen Jahren macht ihr mehr und mehr zu schaffen. „Je älter ich werde, desto mehr geht mir das an die Substanz.“ Deshalb möchte sie künftig ein bisschen kürzer treten. Und womit füllt sie dann ihre freie Zeit? Sicherlich nicht mit Gartenarbeit, oder? „Och“, antwortet sie, „Couchpotatoe bin ich auch gern.“ Außerdem mag sie Kochbücher, obwohl sie nicht gut kochen kann. „Ich kann schnibbeln, aber letztendlich fehlt mir die Muße.“ Einige Sonderhefte zum Thema „Kochen“ hat sie betreut und das fand sie super. „Wenn ich abends mal nicht schlafen kann, lese ich keinen Krimi, sondern Kochbücher. Das heißt, ich lese sie gar nicht richtig, ich schaue sie an, die Fotos, die Maßeinheiten ...“ Was kann sie eigentlich besonders gut? „Ich glaube, ich kann gut Ideen entwickeln. Und ich bin immer wieder unzufrieden. Das Gute daran ist, dass sich dadurch unsere Arbeit verändert und verbessert.“ Sie zögert, dann: „Aber ich bin hier ja nicht allein!“ Ich weiß schon, sie hätte lieber, wenn ich nicht nur über sie, sondern über alle Hinz & Künztler schreiben würde. Wir lachen. „Es wäre schon schön, wenn ich nicht so angeberisch ‘rüberkommen würde“, beharrt sie. Na, das muss erstmal jemand schaffen, Birgit Müller als Angeberin zu beschreiben ... DIE WELT 27.02.2016

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© Bertold Fabricius

Im Reich der guten und der bösen Dinge

Sie trägt Ananasschuhe und zum nächsten Ball ein Recyclingkleid von ihrer Mutter. Als Direktorin des Museums für Kunst und Gewerbe hat Sabine Schulze Sinn für das Besondere und für das Alltägliche.

Zu gerne hätte sie als Kind diese schwarzen Keramikmasken gehabt, die man sich in den sechziger Jahren gern an die Wand hängte oder hinstellte. Negerfiguren (ja, so sagte man damals, ohne mit der Wimper zu zucken), die im Zuge einer vom Kolonialgeist geprägten Afrika-Romantik sehr beliebt waren. Aber ihre Eltern befanden, das sei Kitsch, und so musste Sabine Schulze warten, bis sie erwachsen war und sich auf Flohmärkten selbst eine Sammlung zusammenkaufen konnte. Neulich hat sie aufgeräumt und sich gefragt: „Kann man diese Figuren eigentlich noch hinstellen oder ist das politisch nicht mehr korrekt?“ Und, zu welchem Schluss kommt sie, möchte ich natürlich wissen. „Noch stehen sie, aber ich fühle mich nicht mehr wohl damit.“ Der Umgang mit bösen Dingen macht Prof. Dr. Sabine Schulze offensichtlich Spaß. „Böse Dinge“ – so hieß vor einigen Jahren eine Ausstellung in ihrem Museum, die Zeugnisse schlechten Geschmacks aus verschiedenen Epochen zusammenstellte, vom busenförmigen Salzstreuer bis zum Strass verzierten Handy. Dabei ging es nicht darum zu entscheiden, was gut und was böse ist, nein, die Ausstellung sollte uns zum Nachdenken bringen: Wie finden wir unser Urteil? Insgeheim frage ich mich, ob ihre Schuhe – cremefarbene absatzfreie Halbschuhe in ungewöhnlichem Flechtmuster – nicht auch ins Reich der bösen Dinge gehören. Laut beschränke ich mich allerdings auf den Hinweis, dass es sich wohl um ganz besonderes Schuhwerk handele. „Der hieß Ananasschuh“, erzählt sie voller Begeisterung. „Ich habe lange überlegt, ob ich den kaufe, bis er ‘runtergesetzt wurde, was meine Entscheidungsfreudigkeit steigerte. Seitdem habe ich ihn jeden Tag an.“ Dazu trägt sie heute einen lila Cordanzug mit Rolli und lila-gemustertem Schal. Sabine Schulze hat Sinn für Besonderes und für Lustiges. Sie hat Humor und wir lachen andauernd während des Gesprächs. Ihr Büro ist eher spärlich und unauffällig möbliert, aber hell und freundlich, obwohl es im Souterrain des Museums liegt. Licht im Haus sei ihr wichtig, sagt sie, um die Besucher mit freundlicher Geste zu empfangen. Der jahrelange Umbau des Hauses ist noch immer nicht ganz abgeschlossen. Sie freut sich, dass ihr Museum so viele junge Menschen erreicht. Mit Ausstellungen wie „Endstation Meer – das Plastikmüll-Projekt“ oder „Tattoo“ trifft das Museum den Nerv der Zeit, obwohl seine Direktorin (Jahrgang 1954) langsam auf die Pensionierung zugeht. „Ich finde, die Themen liegen einfach auf der Hand“, erklärt sie mir. „Tattoo ist eine der weitreichendsten Design-Entscheidungen des Lebens. Das ist angewandte Kunst! Und auch Material und Ressourcen sind klassische Themen für ein Museum angewandter Kunst.“ In der Gründungszeit des Museums für Kunst und Gewerbe wurde der Bestand noch nach Material sortiert. „Unsere Wunderkammer ist voll von Schildpatt, Koralle, Elfenbein, alles Materialien, die heute geschützt sind. Auch das ist ein Thema: Was haben frühere Generationen gebraucht und warum hat sich das geändert?“ Eigentlich, erinnert sie, sei das Museum 1877 eröffnet worden, um mit der Präsentation künstlerisch gestalteter Gebrauchsgegenstände den Konsum anzuregen. „Guckt mal, was es alles Schönes gibt, das könnt ihr auch haben!“ Ihre Aufgabe heute sieht Sabine Schulze eher darin, auch mal zu bremsen. Während der Vorbereitung der Ausstellung „Fast Fashion – die Schattenseiten der Mode“ hat sie erfahren, dass ein Deutscher ein gekauftes Kleidungsstück im Durchschnitt nur 1,4 mal trägt. Das findet sie beängstigend. „Überleg dir, wie lang du etwas tragen willst, ob es dir wirklich steht, ob du es wirklich brauchst!“ appelliert sie an ihr Umfeld. Hält sie sich selbst daran? „Ja! Ich trag meine Sachen auf!“ Wir lachen über diese Formulierung aus der vorletzten Generation. „Als Kind bekam ich pro Saison ein neues Teil, dann ging ich mit Mutti in die Stadt und sah alles sehr genau an und das war’s dann. Jetzt wissen Sie auch, warum neben meinem Schreibtisch ein Recyclingkleid aus den sechziger Jahren hängt!“ Lachend zeigt sie auf ein silberfarbenes Abendkleid, etwas aus der Zeit gefallen, das sie für einen anstehenden Ball aus dem Fundus ihrer Mutter gegraben hat. Schaufensterbummel liebt Sabine Schulze trotzdem, interessehalber. „Das ist sehr entspannend.“ Geboren und aufgewachsen ist sie in Frankfurt, die Eltern beide Volkswirte. Der Vater hat sie am sonntäglichen Vormittag oft mitgenommen ins Museum. „Meine Mutter hat gekocht. Sie hat sich auch für Kunst interessiert, aber so war das damals. Bei den Museumsbesuchen habe ich gelernt, dass jeder in der Kunst etwas anderes finden kann, dass es nicht nur einen Zugang gibt und dass man mit ganz vielen neuen Gedanken im Kopf aus einer Ausstellung herauskommt.“ Kunstgeschichte, Archäologie und Germanistik hat sie später studiert und war sehr schnell fasziniert davon, Ausstellungen zu machen. „Da muss man viele Menschen – Leihgeber, Architekten, Autoren – dazu bringen, an einem Strang zu ziehen. Und ich fand immer gut, wenn hinterher alle sagten: Eigentlich war’s meine Idee. Das war das Beste.“ Nach dem Studium arbeitete sie zunächst an der Neuen Sammlung in München, ab 1984 in der Frankfurter Liebieghaus-Skulpturensammlung, dann als Kuratorin in der Schirn Kunsthalle und ab 1996 am Städel, der ältesten bürgerlichen Museumsstiftung Deutschlands. Seit 2008 ist sie Direktorin des Museums am Steintorplatz, von manchen auch despektierlich Museum für Kunst und Gemüse genannt, weil sich hier von chinesischen Grabbeilagen über Kochlöffel und silberne Salzstreuer, die aus jüdischen Haushalten geraubt wurden, bis hin zu Buddha-Statuen und einem Pracht-Koran alles unter einem Dach wiederfindet. Genau das aber liebt Sabine Schulze. Als „Herbergsmutter“ sieht sie sich hier, markiert nicht gern die strenge Chefin ihrer 86 Mitarbeiter und freut sich über freundschaftlichen Umgang. „Wenn es um Inhalte geht, müssen sie ausdiskutiert werden. Da bin ich basisdemokratisch. Es ist einfach eine Frage der Zeit, dass man in Gesprächen mit Überzeugungsarbeit von allen Seiten Lösungen entwickelt.“ Sabine Schulze macht schon auf den ersten Blick einen kollegialen Eindruck, patent und unprätentiös. Ganz begeistert führt sie mich durch ihr Haus, zuerst zur Jugendstil-Ausstellung, in der Dinge zu einem großen Ganzen gefügt werden, die ich bis dahin nicht bewusst in einem Zusammenhang sah: Friedrich Nietzsche, Karl Marx und Paul Gaugin, Suffragetten, Blumenmuster und Röntgenstrahlen, Industrialisierung und ein neuer Blick auf den nackten Körper. Lachen, als wir zu einem winzigen (höchstens fünf Zentimeter langen) Phallus aus der Sammlung Sigmund Freuds kommen: „Den hatten wir uns anders vorgestellt und waren sehr überrascht beim Auspacken.“ Kurz darauf stehen wir in ihrem liebsten Saal, rund und weiß gestrichen, die Vitrinen voller Keramiken mit phantasievollen Ornamenten aus dem arabischen Raum. Seit kurzem hat der Islam mehr Platz als das Christentum, nicht nur weil das Museum über eine umfangreiche Sammlung verfügt, sondern auch weil das Interesse deutlich gestiegen ist. „Arabische Führungen werden plötzlich gefragt. Das wäre vor zwei Jahren undenkbar gewesen. Wir stellen uns darauf ein.“ Sabine Schulze hat ihr Ohr am Zeitgeist. Mal was ganz anderes: Gibt es neben der Kunst eigentlich noch etwas, das sie interessiert? „Sehen Sie“, antwortet sie, „das ist das Problem! Wenn ich verreist bin und meine Mutter fragt mich am Telefon: Was hast du denn heute gemacht? antworte ich: Ich war im Museum. Und dann sagt sie: Bieni...! Das ist ja mal ganz was Neues!“ Immer wieder nimmt sich Sabine vor, „über den Tellerrand zu schauen“. Sie liest, hört Musik, die ihr Mann ihr nahe bringt. Mit dem ist sie schon „seit Urzeiten“ verheiratet, „leider ohne Kinder“. Ach ja, ins Kino geht sie gern. „Mein Lieblingskino ist die Schanze. Und wenn in einem Film mit Überlänge nichts passiert, dann ist das genau mein Film!“ Also, dann werden wir sicher nie zusammen ins Kino gehen. Aber vielleicht besuche ich Sabine Schulze mal und schaue mir ihre Keramikmasken an, bevor sie sie ins Reich der bösen Dinge verbannt. DIE WELT 13.02.2016

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Die Verlegerin Katarzyna Mol-Wolf möchte Menschen auf den Weg bringen, das Beste aus ihrem Leben zu machen. Sie kaufte sich eine Zeitschrift und will zeigen, wie man auch heute noch mit gutem Journalismus Geld verdient.
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Sie hat eine Mission: „Lebe dein Leben! Geh deinen Weg!“ Und sie hat eine Zeitschrift. Die hat sie sich gekauft, um ihre Mission zu verwirklichen. Mut gehört dazu. Und eine Vision. Beides hat sie und das war ihr einziges Eigenkapital. Denn Geld fehlte ihr, als sie dem Verlag Gruner & Jahr 2009 das Frauenmagazin emotion abkaufen wollte. Geschafft hat sie’s trotzdem. „Ich bin 1981 mit meiner Mutter aus Polen hierher gekommen. Wir hatten nichts. Vielleicht habe ich deshalb keine Angst zu scheitern. Man muss sich nur trauen.“ Jetzt sitze ich mit Katarzyna Mol-Wolf in ihrem Büro in der alten Tabakfabrik an der Hoheluftchaussee. Hier treffen Trend und Tradition aufeinander: junge Mitarbeiterinnen im loftartigen Großraumbüro mit Nostalgie verbreitenden Sprossenfenstern. Das passt zu ihrer Person und ihrem Programm. Emotion ist eine Zeitschrift für Frauen, die mitten im Leben stehen und etwas daraus machen wollen, vielleicht berufstätig sind, vielleicht Kinder haben, auf jeden Fall mehr brauchen als Rezepte- und Schmink-Tipps. Frauen wie Katarzyna Mol-Wolf. Schlank und groß von Statur, 42 Jahre alt, strahlt sie Autorität und Weiblichkeit zugleich aus. Gern trägt sie Blazer zu Jeans. Bluse und leicht verspielte Ohrringe sorgen dafür, dass es nicht nach strengem Businesslook aussieht. Freundlich, charmant und bestimmt wirkt sie auf mich, sicherlich auch durchsetzungsfähig. Unterbricht jemand ihre Rede, spricht sie einfach weiter. So kann ich mir gut vorstellen, wie sie – in einer Zeit, wo kaum jemand mehr einen Pfifferling geben wollte auf das Printgeschäft – die Überzeugungskraft besaß, Investoren für ein Frauenmagazin zu finden, an das im Hause Gruner & Jahr keiner mehr glaubte. Zweimal drohte dann der Deal kurz vor Abschluss auf unvorhergesehene Weise zu scheitern. Mit unbeirrbarer Ausdauer und Biss hielt sie auch diese Rückschläge aus. Sie wollte diese Zeitschrift haben. Und nun ist sie ihre. Der Januar-Ausgabe von emotion liegt ein kleines rotes Büchlein bei, etwas dünner als eine Mao-Bibel. „Selbst-Coaching mit Spaß. Wer willst du sein?“ steht auf dem Titel und dann folgen 44 Fragen, die wir beantworten sollen, um zu einem selbstbestimmten Leben zu finden. „Als die Agentur thjnk, die diese Selbst-Coaching-Kampagne für uns entwickelt hat, mit dem Vorschlag ankam, hatte ich ein Aha-Erlebnis“, erzählt Katarzyna Mol-Wolf, „ich hatte das Gefühl: Genau das ist die Mission von emotion! Und das ist der Grund, warum ich mich selbständig gemacht habe!“ Ein paar Wochen später findet sie dann beim Aufräumen in einem alten Sekretär zufällig einen ungeöffneten Umschlag, adressiert an ihre alte Adresse, ein Brief, den sie 2006 in einer Coaching Übung selbst an sich geschrieben und längst vergessen hatte. „Da waren wir alle sprachlos, das war verrückt und total faszinierend.“ Denn in diesem Brief ging es genau um dieselben Fragen: Was willst du erreichen und was steht dir im Weg? Manche Dinge, so hat sie durch diesen alten Brief gelernt, sind offensichtlich nur schwer veränderbar, zum Beispiel dass sie schon damals dazu neigte, zu viele Themen auf einmal anzupacken. „Ich bin ein sehr kreativer Mensch. Sobald es zu ruhig wird, fallen mir neue Sachen ein.“ Tatsächlich habe ich während unseres Gesprächs den Eindruck, dass ihr parallel tausend andere Dinge durch den Kopf gehen. Eine leichte Anspannung lauert da im Hintergrund; ihre Freundlichkeit kann den Zeitdruck nicht überspielen. Ihr Verlag „Inspiring Network“ – der Name ist Programm – hat sich seit der Gründung vor sechs Jahren enorm vergrößert: Aus anfangs 9 Mitarbeiterinnen sind heute mehr als 45 Festangestellte geworden. Neben emotion (verkaufte Auflage 60.000) erscheint nun das Philosophie-Magazin Hohe Luft – für alle, die Lust am Denken haben (30.000). Außerdem werden Publikationen im Auftrag anderer Unternehmen oder Verbände verlegt. Auch die Veranstaltung von Seminaren und Konferenzen wie dem Women’s Business Day gehören zum Geschäft. „Ich will zeigen, wie man auch heute noch mit gutem Journalismus Geld verdient“, erklärt sie mit Nachdruck. Und da sie sich ja nie genug vornehmen kann, heiratet sie in diesen Gründerjahren einen Kollegen von Gruner & Jahr, obwohl der eigentlich „gar nicht in ihr Beuteschema passt“, denn er ist „leider“ einige Jahre jünger als sie. 2011 bekommt sie eine Tochter. 2012 schreibt sie auch noch ein Buch über ihren Werdegang und ihre Familie: „Mit dem Herz in der Hand“. Eigentlich hat sie Jura studiert, schnell gemerkt, dass ihr das keinen Spaß machte, aber durchgehalten bis zum Zweiten Staatsexamen, sogar noch promoviert. Den Ehrgeiz und die Selbstdisziplin hat sie von ihrer Mutter, die – obwohl studierte Diplom-Ingenieurin – nach ihrer Flucht aus Polen erstmal putzen ging, um sich und die Tochter durchzubringen. Die siebenjährige Kasia, so der Kosename für Katarzyna, ahnte nicht, dass aus dem Sommerurlaub in München ein ganz neues Leben in Deutschland werden würde. Ihre Mutter musste 1981 wegen ihres Engagements für die gewerkschaftliche Demokratiebewegung Solidarno´sc aus dem kommunistischen Polen fliehen. „Als wir nach München kamen, musste ich sehr schnell erwachsen werden, wollte meiner Mutter nicht zur Last fallen, weil ich gesehen habe, dass sie es schwer hatte.“ Mit aller Kraft und ganzem Willen schuftet Kasias Mutter für ein besseres Leben. Zuhause wurde nur Deutsch gesprochen, was Katarzyna heute bedauert, denn sie wäre gern flüssiger in der polnischen Sprache. „Ich bin heimatverbunden und spreche gern polnisch, denn ich hatte eine sorgenfreie Kindheit in Polen. Meine Mutter empfindet sich nicht so sehr als Polin wie ich.“ Da gab es nur ein großes Problem, und das war der Vater, ein unsteter Geist, der zu viel Alkohol trank, Frau und Tochter verließ, als sie zwei Jahre alt war. Die heftig herbeigesehnte Versöhnung, der Wunsch, dem Vater näher zu kommen, blieb für immer unerfüllt, denn sieben Jahre nach der Flucht aus Polen, starb er, bevor Kasia ihn wiedersehen konnte. Lange hat das ihr Leben überschattet und zu dunklen Momenten geführt, obwohl sie eher ein zuversichtlicher, positiver Mensch ist. Die polnische Seele sei in Deutschland weitgehend unbekannt, bedauert sie. „Wir sollten uns mehr mit den Menschen auseinandersetzen, die in den Nachbarländern leben!“ Und sie, trägt sie die polnische Seele noch in sich? „Ja, dieses Dramatische, Temperamentvolle, auch mal Melancholische, das steckt in mir. Und die große Offenheit anderen Menschen gegenüber. Leider wird die in der aktuellen politischen Situation nicht widergespiegelt, das ist sehr erschreckend und macht mir große Sorgen.“ Aufgewachsen ist Katarzyna in einem reinen Frauenhaushalt mit Mutter, Oma und Tante. Mich wundert es also nicht, dass ich heute in der Eppendorfer Tabakfabrik nur wenige Männer sichte. Zwei arbeiten zur Zeit für emotion, einige mehr für das Philosophie-Magazin und im Vermarktungsteam. Herrscht hier ein anderes Klima als in einem großen Betrieb wie Gruner & Jahr? „Wir sind transparenter, die Hierarchien sind flach. Die Mitarbeiter arbeiten vielleicht mehr als früher bei Gruner & Jahr, aber sie haben auch mehr Freiheiten. Wenn ein Kind krank ist, dann ist klar, dass es die Mutter oder den Vater braucht. Wir wollen ein sozialer Arbeitgeber sein.“ Wie klappt es denn bei ihr selbst, die Vereinbarung der Aufgaben als Mutter und als Unternehmerin? Das sei ein permanentes Organisieren, antwortet sie, sie müsse sich ständig klarmachen, dass man nicht alles schaffen könne. Und gleich verbindet sie wieder ihre persönlichen Erfahrungen mit ihrer Mission: „Unser Auftrag ist es auch, Frauen zu sagen: Jedes Leben ist individuell. Wir Frauen machen es uns oft schwer, weil wir uns immer vergleichen. Wenn eine Mutter ihr Kind erst abends um sechs aus der Kita abholen möchte, dann ist das ihre Sache. Und wenn eine andere mehr Zeit mit ihrem Kind verbringen will, dann ist das auch schön. Ich möchte dazu beitragen, uns Frauen entspannter zu machen.“ Gelingt ihr das für sich selbst? „Ich arbeite daran.“ Auf mich macht sie allerdings den Eindruck, als hätte sie sehr hohe Ansprüche an sich selbst. Ja, gibt sie zu, aber: „Wir Frauen müssen uns gegenüber gnädiger und sanfter sein.“ Und hat sie eine Antwort auf die Frage aller Fragen: Katarzyna, wer willst du sein? Ganz direkt antwortet sie darauf nicht, doch ich glaube, sie will genau das sein, was sie jetzt ist: Eine Unternehmerin auf dem Weg zum Erfolg mit der Mission, auch anderen zu Erfolg und Erfüllung zu verhelfen. DIE WELT 30.01.2016

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© Bertold Fabricius

Ein Wort, ein Akkord

Die Liedermacherin Anna Depenbusch mixt munter Sounds und Genres von Chanson bis Country. In ihrer Musik zeigt sich die ganze emotionale Palette, die ihr das Leben bietet.

Sie glaubt, die Lieder sind eigentlich schon fertig und suchen sich dann aus, zu wem sie kommen. Wenn Anna Depenbusch Songs schreibt, sitzt sie an ihrem Klavier und wartet. Und wartet. „Man muss Bereitschaft zeigen“, betont sie, „dann kommen die Lieder angeflogen.“ Und tatsächlich wirken viele ihrer Songs auf mich so, als seien sie spielerisch durch die Luft geschwebt, leicht und frisch, vom Wind mal sachte, mal in Böen genau hierher getragen in Annas gemütliches Musikzimmer im Schanzenviertel. Der schwarze Flügel beherrscht den Raum, ein Sofa gibt es, darunter einen großen bunten Teppich aus abgeschabten Flicken, darüber ein sehr großes Bild von der Mailänder Scala. Den Kräutertee, den sie mir gekocht hat, stellt sie auf einer kleinen hölzernen Trittleiter ab. Zwar fliegen ihr die Ideen zufällig und überall zu, im Supermarkt, auf dem Fahrrad, in der Bahn, aber ihre Songs schreibt sie am Klavier. „Text und Musik gleichzeitig. Ein Wort, ein Akkord, ein Wort, ein Akkord.“ Sie merkt, wie Wörter eine andere Bedeutung bekommen, je nach dem welche Harmonie dazu gespielt wird. “Nur wenn ich die Melodie singe, kann ich beurteilen, ob ein Text für mich gut ist.“ Zur Not ginge es auch unterwegs – mit der Klavier-App auf dem Handy. Zugeflogen ist ihr das Lied von Tim, der Tina liebt, die aber wiederum auf Klaus steht, obwohl der oft nach China fliegt und Tina allein zu Hause lässt. „Wir lachen, wir leiden, verlassen und bleiben, wir leben und lernen daraus“, heißt es in dem Song, und das kann man sicherlich auch als eine Lebensweisheit der Anna Depenbusch bezeichnen. Ihre Lieder handeln von Alltagssituationen, von menschlichen Begegnungen. Sie sind traurig oder lustig, oft beides zugleich. Vor den Fenstern ihres Proberaums ist der Himmel grau und verhangen. Es wird einfach nicht hell. Ich muss an ihr letztes Album denken, das auch ein Duett mit Mark Forster enthält, da singt sie: „Ich bau mir einen Sommer aus buntem Glanzpapier, den stell ich auf im Winter, wenn es vor dem Fenster friert ...“ Ich bin sicher, dass sie sich heute am liebsten einen strahlend blauen Sommertag basteln würde. Sie ist ein sonniger Typ, trotz der dunklen Haare. Aber sie überrascht mich: „Ich mag sehr gern, wenn es kalt ist und bewölkt. Für mich ist das die kreativste Zeit. Es gibt einen Titel von mir: ‚Alles auf Null’. Damit verbinde ich den Winter. Das Papier ist weiß, es beginnt von vorne.“ Ah, so erklärt sich, dass sie den Beschluss, Liedermacherin zu werden, in Island fällte. „Es war dunkel, es war kalt und es war wunderschön.“ Das war 2002 und Anna war 25 Jahre alt. Ihr Jazz-Gesang-Studium in Berlin hatte sie abgebrochen. „Man kann nur Jazz oder Klassik studieren. Klassik war’s nicht. Und im Jazz fehlte mir dann die deutsche Sprache. Wenn man Lust hatte, mal etwas auf Deutsch zu singen, hieß es: Nee, das ist ein Jazz-Studium!“ Ihre Engagements als Background- und Studio-Sängerin reichten ihr nicht mehr aus. „Ich wollte etwas Eigenes!“ Deutsche Liedermacherin – dafür gibt es kein passendes Studium. Sie ließ sich von der isländischen Musikerin Björk und ihrem vielseitigen, unabhängigen Schaffen inspirieren, traf Björk auch ein paar Mal und fasste am Ende der Island-Reise den Entschluss: „Ich mach das jetzt auch!“ Drei Jahre später erschien Anna Depenbuschs Debut-Album „Ins Gesicht“. Seither hat sie insgesamt vier CDs veröffentlicht, experimentiert dabei mit unterschiedlichen Sounds und Genres, Chanson, Pop, Blues, Jazz, Country... Manche wunderten sich vielleicht, denkt Anna, wenn sie eine CD von ihr hören: Warum sind da so viele Stile gemischt? Warum spielt hier nur ein Klavier, dort ein Orchester? Und woher kommt auf einmal die Ukulele? „Auf der Bühne erschließt sich das alles. Deswegen ist live spielen für mich sehr wichtig.“ Fünfzig bis sechzig Konzerte im Jahr spielt sie, wenn ein neues Album erschienen ist. Wurde ihr die Musik in die Wiege gelegt? Nein, antwortet sie, ihre Eltern, beide Französisch-Lehrer, seien zwar musikbegeistert, aber keine Musiker. „In der Schule hat’s gezündet. Es war letztendlich ein Lehrer, der alle inspiriert hat.“ Der hat sie aufgefordert, die Noten wegzulegen und miteinander zu improvisieren. Auch ihren drei Jahre älteren Bruder hat das animiert. Er spielt Saxophon und betreibt heute eine eigene Musikschule. „Damals hatte er seine ersten Bands. Für die habe ich geschwärmt. Die kleine Schwester, die am Rockzipfel hing und mitmachen wollte.“ Irgendwann durfte sie mitsingen. Dass sie auch wollte war nicht immer selbstverständlich gewesen. „Lange, lange Zeit habe ich im stillen Kämmerlein gesungen, nur wenn alle aus dem Haus waren, bis zu meinem großen Coming Out auf einer Schulveranstaltung.“ Und heute steht sie da auf der Bühne, grazil und selbstbewusst, in geschnürten Stiefeletten und schulterfreiem Kleid, mit hochgesteckten Haaren und Perlenohrringen. Sie singt, pfeift, klatscht, klopft und trommelt, schnipst mit den Fingern, schnalzt mit der Zunge und bringt das ihr ergebene Publikum dazu, es ihr gleich zu tun oder sie mit rasselnden Hausschlüsseln zu begleiten. Nicht nur ihre Pony-Frisur mit Pferdeschwanz, auch ihr Gesicht wirkt mädchenhaft, ihre Stimme kräftig und zart zugleich. Unglaublich charmante Kusshände wirft sie in die Menge, führt mit liebevoller Ironie von einem Song zum anderen: „Meine Themen finde ich in meinem Alltag. Immer wenn eine neue CD erscheint, haben meine Freunde ein bisschen Angst …“ Ihr Kleid, vor der Pause oben cremefarben, unten schwarz, nach der Pause oben schwarz, unten cremefarben. Oder habe ich mich verguckt? Nein, das ist passend zur CD „Die Mathematik der Anna Depenbusch in Schwarz-Weiss“. Das Outfit, ihre Musik-Videos, alles ihre Ideen. Es ist ihr wichtig, nichts Fremdes übergestülpt zu bekommen. Und genau deswegen war das letzte Jahr auch kein gutes Jahr. Sie feiert den Schnitt zwischen zwei Jahren, das hat für sie große Bedeutung. „Es gibt das alte Jahr“, betont sie, „und es gibt das neue Jahr.“ Dazwischen holt sie ganz tief Luft. Es gibt gute Vorsätze für 2016, und es gibt Dinge, die sie zurücklässt. „Ich sage dann: Nee, das lasse ich jetzt im alten Jahr, das darf nicht mitkommen!“ Wie hieß der Song noch mal? – „Alles auf Null“. Dieses Jahr empfindet sie das besonders stark, und das hängt vor allem mit großen Änderungen in ihrer kleinen Plattenfirma, 105music, einem Hamburger Label, zusammen. „Es ging sehr familiär dort zu, nur Hamburger Künstler. Ich konnte mich musikalisch ausleben, wie ich wollte. Es war das ideale Umfeld, ein tolles Team, eine ganz tolle Produkt-Managerin. Es war eine sehr produktive Zeit.“ Doch dann erfolgte 2015 die Vertreibung aus dem Paradies. Die beiden Label-Chefs gingen in Rente und die kleine Firma wurde an ein großes Label verkauft, mit Haut und Haaren und allen Künstlern. Da sollte Anna Depenbusch plötzlich ihre Songs nicht mehr selbst schreiben und produzieren. Wie kommt man darauf, einer Musikerin, die erfolgreich auf dem Weg nach oben ist, solche Vorschriften zu machen? „Das hat etwas mit Timing zu tun. Es ging zu langsam. Ich glaube, es war kein böser Wille.“ Sie wollte sich dem neuen Team und den neuen Ideen nicht verschließen und fing an, Songs zu singen, die andere für sie geschrieben haben. So ist eine ganze Platte entstanden. „Es fühlte sich aber sehr komisch an. Das hat mich eine Menge Selbstbewusstsein gekostet. Ich habe die Orientierung verloren.“ Und was wird jetzt aus der fast fertigen CD? „Die liegt da jetzt ‘rum. Ich fühle mich den Liedern nicht verbunden.“ Zurück ins Paradies geht es nun nicht mehr, auf jeden Fall aber wieder zurück zu ihren eigenen Liedern, die sie textet und komponiert, singt und produziert. Das ist der Plan für dieses Jahr. Mit einer neuen CD von Anna Depenbusch dürfen wir im Frühling 2017 rechnen. In selbstbestimmtem Tempo möchte Anna weiterwachsen wie bisher, ohne dass von außen zu stark gedrängt wird. Die Kontinuität ist ihr wichtig, denn: „Ich möchte noch lange Musik machen und auf der Bühne stehen.“ Langfristig denkt sie, zum Beispiel auch daran, dass sie mit ungefähr 75, also im letzten Viertel ihres Lebens, heiraten möchte. Wen, das verrät sie nicht. Sie erzählt mir von einem Hamburger Café, dessen Toiletten sich im Keller befinden. Erst nach ein paar dunklen Stufen lässt der Bewegungsmelder das Licht anspringen. Auf dem Treppenabsatz ein Schild: „Gehen Sie mutig ins Dunkle weiter. Irgendwann wird Licht.“ Das gefällt Anna Depenbusch: „Man darf nicht gleich zurückschrecken. Man muss wirklich manchmal ins ungewisse Dunkle gehen. Dann wird Licht kommen, wird die Idee kommen, die Begegnung... Das ist so ein schönes Bild!“ Seit zwanzig Jahren macht sie Musik. Durststrecken schrecken sie nicht. Wenn es zu gemütlich ist, wird es schnell auch zu geruhsam, fürchtet sie. Sie mag die riskanten Phasen, denn die können einen in kürzester Zeit auf neue Ebenen heben. DIE WELT 16.01.2016

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Die syrische Schriftstellerin und Architektin Rosa Yassin Hassan baut Romane wie andere Häuser. In ihrer Heimat kämpfte sie für Menschenrechte und musste fliehen.

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Rosa – ihren Vornamen hat sie von Rosa Luxemburg. Sie hat viele deutsche Bücher gelesen, von Thomas Mann, Hermann Hesse, Günter Grass, Heinrich Böll, Übersetzungen allerdings, denn Deutsch lernt sie erst seit kurzem. „Ich bin in Syrien mit der deutschen Kultur aufgewachsen“, erzählt sie und natürlich drängt sich mir sofort die Frage auf, wie das denn sein kann. Ganz einfach, erzählt sie, ihr Vater, habe zwischen 1960 und 1970 Politik und Wirtschaft in Mainz studiert. Die Jahre der Studentenrevolte!? „Ja, natürlich...“ Sie lacht. „Er liebte Karl Marx und Rosa Luxemburg. Und als er zurückkam, nannte er mich Rosa.“ Das war 1974 in Damaskus. Jetzt sitzt sie in einer bürgerlichen Wohnung im Hamburger Westen. Nur wenig erinnert an ihre Heimat im Nahen Osten, die sie erst vor drei Jahren verlassen hat. Selbst die orientalisch gemusterte Decke auf dem Second-Hand-Sofa hat sie nicht mitgebracht, sondern im Schanzenviertel gekauft. Während sie in der Küche Kaffee und Tee zubereitet, leistet mir ihr Sohn Aram, ein aufgeweckter Siebtklässler, Gesellschaft. Ihm ist aufgefallen, dass in Deutschland mitten in der Stadt, auf den Straßen, Bäume wachsen. Das gebe es in Syrien nicht, erklärt er mir in perfektem Deutsch. „Er wird ein deutscher Mann sein“, stellt Rosa später mit leichtem Bedauern fest. „Er ist zwar auch stolz darauf, Syrer zu sein, aber er möchte nicht zurück, denn er hat zu schlechte Erinnerungen.“ Von Arams Vater ist sie schon lange geschieden. Rosa Hassan hat Syrien nicht freiwillig verlassen. „Ich bin Alawitin, Oppositionelle und Frau.“ Genug Gründe, um in einem totalitären und patriarchalischen Staat verfolgt zu werden. Wie sie da auf dem Sofa sitzt und mit weicher Stimme nach den richtigen Sätzen sucht, fällt mir ein altmodisches Wort ein: Liebreiz. Das passt zu ihr. Dahinter verborgen eine sanfte, zähe Stärke, die ihr ermöglicht hat zu ertragen, was sie ertragen musste. Rosa Yassin Hassan hat sich zur Zeugin der Unmenschlichkeit gemacht, ist den Orten und den Opfern von Brutalität und Grausamkeit nicht ausgewichen. Seit Beginn des syrischen Aufstands gegen Assad berichtete sie in Zeitungen und in einem Blog über den Alltag ihrer Landsleute. Im August 2012 ist sie in der Nähe von Damaskus. Trotz brennender Häuser und rauchgeschwängerter Luft wagt sie sich auf die Straße, folgt Gruppen von klagenden Frauen und Kindern in einen Olivenhain, hin zu einigen geparkten Autos, deren Ladeflächen mit Leichen bedeckt sind, alle im Schlafanzug, fürchterlich zugerichtet, darunter einige Nachbarn, die sie kennt, mit Folterspuren, erschlagen, verbrannt, ermordet. „Als ich auf ihn zuging, lag dort Abd al-Qadir Bilal! Er glich gar nicht mehr dem, den ich kannte. Er sah aus wie eine erschrockene Puppe mit durchgeschnittener Kehle.“ In ihrem Tagebuch der syrischen Revolution, das teilweise von deutschen Zeitungen und Portalen veröffentlicht wurde beschreibt Rosa Hassan, wie sie auf der Ladefläche einen bekannten Mann entdeckt. Wie lebt sie mit diesen Bildern? „Es war eine sehr schreckliche Zeit. Ich kann das gar nicht ausdrücken. Vielleicht kann ich meine Gefühle in ferner Zeit beschreiben.“ Nicht nur ihre Berichterstattung, auch ihr sonstiges Engagement für Frauen- und Menschenrechte brachte sie ins Visier der syrischen Geheimpolizei. Sie gehörte zu den Gründerinnen des Vereins „Frauen für Demokratie“. Die Organisation musste inzwischen die Arbeit einstellen. Viele der Mitglieder wurden verhaftet, andere haben ihre Arbeit verloren. Anfang 2012 ist die Heinrich-Böll-Stiftung auf Rosa Hassan aufmerksam geworden und hat sie nach Deutschland eingeladen. Aber die Schriftstellerin hatte Ausreiseverbot, vor allem wegen eines Buches über Frauen in syrischen Gefängnissen. Ein halbes Jahr lang suchte sie einen Schlepper, zahlte ihm 1600 Dollar und gelangte mit ihrem Sohn Aram auf illegale Weise und gefährlichen Wegen durch die Berge nach Beirut. Von dort aus flogen sie nach Deutschland, wo sie Unterstützung von der Böll-Stiftung und der Stiftung für politische Verfolgte erhielten, bis ihr Asylantrag anerkannt wurde. Rosa Hassans Romane, die sich mit der aktuellen Situation beschäftigen, durften – bis auf einen – in Syrien nicht erscheinen. Sie wurden in anderen Ländern veröffentlicht. Auf meinem Schreibtisch liegen die beiden Bücher, die ins Deutsche übersetzt wurden, in hochwertigen schimmernden Leineneinbänden. Hellgrün das eine mit dem Titel „Wächter der Lüfte“, schwarz und silbern das andere: „Ebenholz“. Es begleitet das Leben fünf syrischer Frauen aus fünf verschiedenen Generationen. Einige Passagen, die sich mit Sexualität befassen, wurden in der arabischen Ausgabe gestrichen. „Meine Waffen sind meine Worte“, sagt Rosa. „Ich glaube, dass ich etwas Gutes für meine Heimat und meine Leute mache, und auch für Deutschland. Vielleicht kann ich wie eine Brücke sein zwischen der arabischen und der deutschen Kultur.“ Sie hat so einen intensiven Blick aus runden dunklen Kulleraugen, die sie weit aufreißt, wenn sie ihren Worten Nachdruck verleihen möchte. „Hier in Deutschland wissen die Leute nur wenig. Viele glauben, dass es nur eine arabische islamische Kultur gibt, aber das ist nicht richtig. Unsere Gesellschaften sind wie ein Mosaik, mit sehr verschiedenen Weltanschauungen, Meinungen und Gebräuchen.“ Mit ihren Romanen möchte sie die arabische Kultur erklären. „Das ist meine Aufgabe, meine Pflicht!“ Eigentlich hat sie Architektur studiert. Das hat sie ihrer Mutter zuliebe gemacht, denn als sie anfing mit dem Studium vor zwanzig Jahren, wurde die Literaturwissenschaft nicht sehr geschätzt in Syrien. Sie hat nur fünf Jahre als Architektin gearbeitet, aber das Wissen hilft ihr heute beim Schreiben. „Die Romangebäude sind wie architektonische Gebäude. Du baust einen Roman auf wie ein Haus. Das Architektur-Studium hat mein Denken, meine Phantasie beflügelt.“ Ihren Erfolg als Schriftstellerin haben die Eltern nicht mehr erlebt, sie sind vor fünfzehn Jahren gestorben. Der Vater, selbst ein in der arabischen Welt bekannter Autor, hätte sich sicher gefreut. Zum Abschluss eines Praktikums beim NDR resümierte Rosa im vergangenen September: „Die arabischen Wörter sind die Steine, mit denen ich meine Zauberhäuser baue. Plötzlich verlor ich meinen Zauberstab. Und so bin ich eine Zauberin ohne Zauberstab geworden. Ich musste mit vierzig Jahren anfangen, meine Zauberwerkzeuge von neuem zusammenzubauen.“ Seit eineinhalb Jahren geht sie zum Deutschunterricht, sehr intensiv, fünf Tage in der Woche vier Stunden. Da drückt sie die Schulbank, während sie gleichzeitig an der Uni einen Lehrauftrag hat, Vorträge in Hocharabisch über arabische Literatur hält. Ab und zu hilft sie als Übersetzerin in Flüchtlingsunterkünften und Frauenhäusern. Will sie mit mir Deutsch oder lieber Englisch sprechen? „Unbedingt Deutsch“, sagt sie ganz entschieden, „ich will den Schwierigkeiten nicht mehr aus dem Weg gehen.“ Selbst ein einstündiges Interview vor einem guten Dutzend Journalistinnen der Organisation „Pro Quote“ bewerkstelligt sie in der neuen Sprache. Sehr weiblich und liebenswert, Jeans, dunkle Jacke, geblümte Bluse, die großen runden Augen von Kajal umrandet, den Mund dunkelrot geschminkt, sitzt sie in der Mitte, souverän nach Worten suchend. Alle hören gebannt zu. Hat sie Weihnachten gefeiert? Nein, aber sie kennt das Fest, denn in Syrien leben viele Christen. „Und natürlich haben wir unsere christlichen Freunde zu Weihnachten besucht oder ihnen kleine Geschenke geschickt.“ Normalerweise feiert sie selbst am 31. Dezember. „Da wird das neue Jahr begrüßt. Wir essen lecker, trinken, auch Alkohol übrigens. Wir haben sehr guten Weißwein in Syrien oder Arak (ein Anisschnaps). Wir laden unsere Freunde ein und natürlich die ganze Familie. Feuerwerk gibt es auch. Das sind sehr große Partys.“ Aber seit 2011 hat sich alles geändert. „Wie können wir feiern, während die anderen leiden und sterben?“ Sie zeigt mir einige wenige Familienfotos, die auf ihrer Fensterbank stehen. Das ist alles, was sie aus Syrien mitgebracht hat. Eine ihrer Schwestern lebt mit ihrem Sohn ebenfalls in Hamburg. Die andere Schwester arbeitet als Zahnärztin in Brüssel. Trotz allem – Rosa Yassin Hassan strahlt nicht nur Trauer aus, sondern auch Zuversicht. Sie hat das Lachen nicht verlernt, sie hat Pläne für die Zukunft, für ihren Sohn Aram vor allem. Sie selbst schreibt an ihrem nächsten Roman. Er handelt von ihrer Familie, die genauso zerrissen ist wie ihr Heimatland. Sie schreibt auf arabisch, eine deutsche Übersetzung ist in Planung. DIE WELT 02.01.2016

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Sozialpädagogin mit Unternehmergeist

Mit ihrem gemeinnützigen Unternehmen Wellcome leistet Rose Volz-Schmidt Wochenbett-Hilfe an mittlerweile mehr als 250 Standorten. Persönliche Erfahrungen gaben den Anstoß für ihren mehrfach preisgekrönten Einsatz in jungen Familien.

Als Rose Volz-Schmidt zum ersten Mal schwanger wurde, rechnete sie nicht mit Problemen. Schließlich war sie vom Fach, arbeitete seit Jahren als Sozialpädagogin in der kirchlichen Familienbildung. „Ich war eine unfassbar optimistische Schwangere“, erklärt sie mir lachend in ihrem Büro an der Hoheluftchaussee. Hier in der alten Zigarrenfabrik sitzt sie nun als hundertprozentige Gesellschafterin und Geschäftsführerin der gemeinnützigen GmbH Wellcome und managed nachbarschaftliche Wochenbett-Hilfe im großen Maßstab. „Es ist phantastisch, entscheiden zu können, das bringt viel Spaß!“ Herzlich, warm und zupackend wirkt sie vom ersten Moment an auf mich, und natürlich stehen weihnachtliche Kerzen und Kekse auf ihrem Tisch. Tatsächlich hatte sie damals, Anfang der 1990er Jahre, eine „Traumschwangerschaft“, auf Komplikationen war sie nicht vorbereitet. So hielt sie ihren Mann davon ab, Urlaub zu nehmen: „Ein schlafendes Kind, zwei Erwachsene, das ist viel zu viel!“ Dann kam alles ganz anders. Die Geburt war langwierig und kompliziert, die neugeborene Tochter wurde sofort mit Fieber in ein Kinderkrankenhaus gebracht. Später zuhause, mitten im Sommer, saß Rose mutterseelenallein und erschöpft mit dem Säugling da: Der Mann immer beruflich unterwegs, die Freunde, fast alle kinderlos, verreist oder berufstätig, die eigene Familie in Süddeutschland, in der Nachbarschaft kannte sie kaum jemanden. Die Hormone fuhren Achterbahn, ihre Gefühle waren „hochgradig ambivalent“. Sie hatte nicht erwartet, dass „so ein kleiner Mensch einen derartig an den Rand der eigenen Kraft, der Souveränität bringen kann“. Das alles ist nun über zwanzig Jahre her, die Tochter hat inzwischen ihren Master in London gemacht. Es folgte noch ein Zwillingspärchen, inzwischen auch beide im Studium. Bis heute habe sich nichts verbessert für junge Familien direkt nach der Geburt, stellt Rose Volz-Schmidt fest: „Für Schwangere gibt es jede Menge Kurse und Hilfsangebote, aber so gut wie nichts für die Zeit nach der Niederkunft.“ Und da sie „ganz und gar ein Kind der 1970er Jahre“ ist, hat sie sich eines alten Leitspruchs erinnert: „Das Private ist politisch.“ Deshalb hat sie Wellcome gegründet. An über 250 Standorten, verteilt über vierzehn Bundesländer, neuerdings auch in Österreich und der Schweiz, sitzen heute Ansprechpartnerinnen, die Wochenbett-Hilfe organisieren. Gegen eine geringe Gebühr von vier Euro pro Stunde schicken sie ein- bis zweimal in der Woche ehrenamtliche Mitarbeiterinnen ins Haus. Die kümmern sich um das Baby, damit die Mutter mal duschen kann, spielen mit den Geschwisterkindern oder sind einfach zum Reden da. Auf 4500 freiwillige Helferinnen kann Wellcome zählen. Die Hilfe erfolgt unabhängig vom Einkommen der Eltern. Denn, so weiß Rose Volz-Schmidt: „Die türkische Mutter mit sechs Kindern, Großfamilie und geringem Einkommen steht oft weniger allein da als die Akademikerin, deren Mann gut verdient und um die Welt fliegt.“ Sie ist überzeugt, dass „viele Risse in Partnerschaften, die später zur Trennung führen, genau in dieser Phase entstehen. Mit relativ wenig Einsatz haben wir einen unfassbar großen Effekt, sorgen für die Stabilisierung einer ganzen Familie.“ Rose Volz-Schmidt selbst hat fünf Geschwister: „Meine Mutter hatte immer Hilfe von Nachbarn und Verwandten. Als Wöchnerin war sie die ersten vier Wochen mit dem Säugling abgeschirmt in einem Zimmer, konnte sich in aller Ruhe ans Stillen gewöhnen, sich regenerieren. Diese selbstverständliche gegenseitige Nachbarschaftshilfe gibt es heute nicht mehr.“ Geboren ist Rose 1955 in Liebelsberg, einem idyllischen 600-Seelen-Dorf im Schwarzwald, ganz in der Nähe von Calw, dem Geburtsort Hermann Hesses. Alles hat sie von Hesse gelesen und am Hermann-Hesse-Gymnasium Abitur gemacht. Ein leichter Akzent ist zu hören, wenn sie von ihrem „schwäbischen Erbe“ spricht: „Ich bin stark von Tugenden wie Sparsamkeit und Fleiß geprägt, frage mich immer: Machst du eigentlich etwas Sinnvolles mit deiner Zeit?“ Ihr Vater war Sparkassenangestellter, die Mutter Hausfrau. „Mit Garten und sechs Kindern gut ausgelastet!“ Fast alle Geschwister haben studiert, obwohl nicht viel Geld vorhanden war. „Das geht nur, wenn der Haushaltsvorstand gut rechnen kann!“ Ihrem Elternhaus hält sie zugute, dass sie zwei recht gegensätzliche Eigenschaften in sich vereint: „Ich kann auf der einen Seite sehr strukturiert sein, auf der anderen sehr emotional und emphatisch.“ Sie studierte Sozialpädagogik in Nürnberg, damals ein begehrtes Fach mit Numerus Clausus. Der gesellschaftspolitische Bezug war ihr wichtig. „Ich wollte nicht dahin, wo die ganzen strickenden Frauen hingingen...“ Also wählte sie die politische Bildungs- und Jugendarbeit, zog nach dem Studium mit einem Wohnwagen durch die Lande und bot auf Campingplätzen Familien-Programme an, von der Nachtwanderung bis zum Gottesdienst. Der nächste Job führte sie in Erholungsheime an Nord- und Ostsee. Mitte dreißig dann wurde sie „ein bisschen unruhig“. Einen Mann hatte sie inzwischen an ihrer Seite, aber „die Kinderfrage war noch nicht gelöst“. Rose beschloss, sesshaft zu werden, übernahm die Leitung der Familien-Bildungsstätte in Norderstedt und wurde ein Jahr später schwanger. „Da sind die damals noch richtig erschrocken, das war sehr ungewöhnlich. Entweder eine Frau war berufstätig oder sie hatte Kinder.“ Die Arbeit gab ihr Gelegenheit, was sie persönlich beschäftigte, ins Programm einfließen zu lassen. „Da konnte ich gleich Kurse draus machen. Nähkurse, die kaum noch gebucht wurden, habe ich komplett gestrichen und ein offenes Mütter-Café eingerichtet.“ So habe sie schon immer versucht, nicht wie eine Angestellte zu funktionieren, erklärt sie mir. „Ich fühlte mich – die Unternehmer würden sagen – sehr stark dem Kunden verpflichtet.“ Die Kunden waren in diesem Fall die Kontakt- und Hilfe suchenden Mütter. Sieben Jahre lief die Wochenbett-Hilfe als Projekt unter dem Dach der Kirche. Ermutigt durch Unterstützung von Förderern und Stiftungen, machte sich Rose Volz-Schmidt 2009 schließlich selbstständig. Von der Sozialpädagogin zur Unternehmerin, hat ihr das Angst gemacht? „Ich bin in die Aufgabe hineingewachsen und habe mich schließlich gefragt: Was schreckt mich eigentlich? Viel Arbeit, viel Verantwortung? Ich habe doch schon immer viel und gern gearbeitet und mich verantwortlich gefühlt.“ Den Sprung in die Selbstständigkeit hat sie nie bereut. Gleich im Gründungsjahr erhielt sie mehrere Auszeichnungen, darunter das Bundesverdienstkreuz. Und sie schaffte es, Angela Merkel als Schirmherrin für Wellcome zu gewinnen. „Ich habe mehr gemeinsam mit einem mittelständischen Unternehmer als mit dem Sozialmanager eines großen Wohlfahrtsverbandes, der ein Krankenhaus managen muss“, antwortet sie, als ich sie frage, ob sie eigentlich einen Gegensatz zwischen sozialem und wirtschaftlichem Engagement sehe. „Gründer verbindet sehr viel: die Passion für den Markt, für die Inhalte, für ständige Weiterentwicklung, die Einsicht, dass Mitarbeiter nicht austauschbar sind, sondern gepflegt werden müssen.“ Wellcome ist in schnellem Tempo expandiert. Die Verbreitung erfolgt durch ein soziales Franchise-System. Die Partner vor Ort, freie Träger der Jugendhilfe, zahlen Kooperationsgebühren und erhalten dafür die Nutzungsrechte an Konzept und Marke, sowie Expertenwissen und Aufbauhilfe. Das deckt vierzig Prozent der Wellcome-Ausgaben für die professionelle Struktur. Der Rest kommt über Spenden und Partnerschaften mit Unternehmen in die Kasse. 2015 sei ein schwieriges Jahr, erklärt mir Rose Volz-Schmidt bedauernd: „Sehr, sehr viele Spender entscheiden sich für die Flüchtlingshilfe.“ Das ist bitter, denn ein entscheidender Unterschied bleibt zwischen einer profitorientierten und einer gemeinnützigen GmbH: Das Kerngeschäft von Wellcome, die praktische Hilfe nach der Geburt, wird nie kostendeckend sein. Nicht zuletzt aus diesem Grunde startet Rose Volz-Schmidt nun ein ganz neues Projekt. In Arbeit ist eine Eltern-Plattform, welche die digitale Generation der Mütter und Väter erreichen soll. „Da will ich noch mal richtig angreifen!“ verkündet die Sozial-Unternehmerin lachend. Ein Workaholic ist sie aber keineswegs, sondern eine Frau, die auch gerne gemütlich einen Krimi liest oder „einfach faul ist und Löcher in die Luft guckt“. Und dazu wird während der Weihnachtstage bestimmt ein bisschen Zeit sein. DIE WELT 19.12.2015

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Mit den Initiativen NAT und mint:pink vernetzt Sabine Fernau Schulen, Hochschulen und Unternehmen. Sie schafft es, Jugendliche – gerade auch Mädchen – für Naturwissenschaft und Technik zu begeistern.

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Als der Airbus A380 zum ersten Mal vom Boden abhob, da hat sie geweint. Sabine Fernau erinnert sich an eine Veranstaltung auf dem Werksgelände in Finkenwerder. „Dort habe ich einen Film über den ersten Flug gesehen, lauter Anzugmänner um mich herum und mir rollten die Tränen über die Wangen, weil dieses Wahnsinnsflugzeug tatsächlich flog.“ Technik hat sie schon immer fasziniert. „Aber leider verstehe ich nicht viel davon, mir fehlen die physikalischen Grundlagen.“ Unverblümt hat ihr der Physiklehrer in der Mittelstufe gesagt, sie könne sich gleich in die letzte Reihe setzen. Das war in den 1970er Jahren. Ihr Sohn Loic, mittlerweile Maschinenbau-Student, sollte auf jeden Fall andere Erfahrungen machen. „Der hat schon in jüngstem Alter schnell verstanden, wie etwas geschaltet und verdrahtet ist.“ Schule sollte anders werden, dazu wollte sie beitragen. Jetzt, mehr als zehn Jahre später, treffen wir uns in einer 3 D Druckerei, wo Sabine Fernau Unternehmer, Lehrer und eine Gruppe von Schülerinnen und Schülern des Gymnasiums Süderelbe zusammenführt. Sie erscheint in dunkelblauem Anzug und grauer Bluse, dazu Laufschuhe, kein Schmuck außer einem kleinen Ring. Das wirkt geschäftsmäßig und lässig zugleich. Inzwischen sei sie selbstbewusst genug, um auf hohe Absätze verzichten zu können, verrät sie mir später. Sehr ausführlich philosophiert der Inhaber über Motivation und Lebensfreude, bis Sabine Fernau ihn freundlich lächelnd unterbricht: „Lieber Herr S., könnten sich vielleicht erstmal alle vorstellen?“ Dem Gespräch eine Struktur verleihen, darauf achten, dass hier bestimmte Fragen gestellt und beantwortet werden, das sind ihre Aufgaben, die sie gleichermaßen charmant und entschlossen übernimmt. Gebannt betrachten die Jugendlichen die 3 D Drucker, vom kleinsten, der einer Espresso-Maschine gleicht, bis hin zum größten, der aussieht wie ein moderner Webstuhl hinter Glas. „Wir haben auch schon fürs BKA gedruckt“, verrät der Inhaber, „und zwar den Schädel eines erschlagenen Mannes.“ Ein leises Raunen geht durch den Raum. Warum das BKA denn keinen Modellierer angeheuert habe, will Sabine Fernau wissen. Der hätte den Toten erst einmal von Haut und Haaren befreien müssen, lautet die Antwort, ein 3 D Drucker sei da praktischer. „Der Praxisbezug, die Anwendungen in Industrie und Forschung helfen den Schülern – auch den Lehrern – zu verstehen, worum es in den Naturwissenschaften eigentlich geht“, erklärt mir Sabine Fernau. Als ihr Sohn noch in der Grundschule war, hörte sie von einem „fliegenden Klassenzimmer“ der Airbus Group in Berlin. „Das habe ich mir brav auf Wiedervorlage gelegt: Wenn Loic ins Gymnasium kommt, dann rufe ich da mal an!“ Als es soweit war, schienen die Vertreter von Airbus sofort angetan, sagten die vereinbarten Treffen aber wegen Lieferschwierigkeiten und anderer interner Probleme gleich zweimal hintereinander ab. Davon ließ sich Sabine Fernau nicht abhalten. „Dann treffen wir uns eben ohne Airbus!“ Kurzerhand wurde 2007 das Audimax der Technischen Universität Harburg gebucht. 250 Interessierte aus Schule, Unternehmen und Behörden, drei Hochschul-Präsidenten inklusive, kamen mit dem Vorsatz, an Hamburger Schulen Begeisterung für die MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik) zu entfachen oder, wie Sabine Fernau kurz sagt: „Wir wollten die Physik in Hamburg retten!“ Mit diesem großen Ziel vor Augen ließ sie sich sogar von ihrem Job in einer Unternehmensberatung zu zwanzig Prozent freistellen. Die Wirtschaftsbehörde und die Agentur für Arbeit versprachen eine beachtliche Anschubfinanzierung. „Wir hatten also diese Zusage, aber keine Struktur, keine Firma, wo die Wirtschaftsbehörde das Geld hätte abgeben können. Das war zeitweise richtig tragisch!“ Sie lacht. „Ich dachte damals, jetzt kann ich noch einen Monat durchhalten, dann muss ich mal wieder ein volles Gehalt verdienen.“ Ihre guten Beziehungen halfen ihr aus der misslichen Lage. Sie lernte den Unternehmer Helmut Meyer kennen, der sie bei einer Tasse Tee fragte: „Ich habe da noch eine GmbH. Wollen Sie die haben?“ Natürlich wollte sie die haben und gründete so 2007 gemeinsam mit Meyer, dessen Stiftung das erforderliche Stammkapital von 25.000 Euro einzahlte, und dem Mathematik-Professor Wolfgang Mackens die Initiative Naturwissenschaft & Technik, kurz NAT, als gemeinnützige GmbH. Ihren Job in der Unternehmensberatung – und damit ihr sicheres Einkommen – gab sie auf. Ist sie selbst eigentlich Naturwissenschaftlerin? Nein, nach dem Abitur 1983 begann sie erstmal Philosophie zu studieren, brach das aber nach zwei Jahren wieder ab. Eigentlich wollte sie Journalistin werden. Auf der Suche nach einem Praktikumsplatz erhielt sie nur ein Angebot – von einem Gay Journal. Pragmatisch wie sie war, nahm sie an. “Damals in den 80ern gehörte Homosexualität noch in die Schmuddelecke. Ich sollte einen Artikel über Vakuumpumpen schreiben.“ Hat sie die Materie naturwissenschaftlich angepackt? Wir lachen. „Ich habe das sehr mutig gemacht, bin aber schnell zu dem Schluss gekommen: Das ist nicht mein Thema!“ Vom Schwulenmagazin ging es zum Südwestfunk nach Baden-Baden, wo sie sich in Dokumentation und Recherche eingearbeitet hat. „Heute haben wir das Internet. Früher war es wirklich eine Kunst, teuer und sehr aufwendig, in Datenbanken zu recherchieren, zum Beispiel in Amerika.“ Mit diesem Wissen arbeitet sie für mehrere Unternehmen, bis sie ihren Mann, einen schwedischen Historiker kennenlernt und mit ihm nach Schweden zieht, wo später ihr Sohn Loic geboren wird. Nach sieben Jahren fehlt ihr etwas in der idyllischen schwedischen Einöde. Sie bewirbt sich für einen Job. Es geht um den Vertrieb von höhenverstellbaren Arbeitstischen und Werkbänken in Deutschland. „Sind Sie sicher, dass Sie so eine junge Mutter dorthin schicken wollen?“ hat der Aufsichtsrat zweifelnd gefragt und ihr Chef antwortete: „Die Frau Fernau ist sich sicher, dass sie das schafft, und sie hat mir glaubwürdig dargelegt, wie sie es machen will.“ So reiste sie einmal im Monat mit dem anfangs einjährigen Loic in ihrem Volvo nach Deutschland, bis sie sich Ende der 1990er Jahre zur Trennung von ihrem Mann entschloss und ganz nach Kiel zog. 2001 ging sie zu einer Hamburger Unternehmensberatung, die viele technisch orientierte Kunden hatte. „Vertriebsarbeit ist Kärrnerarbeit“, sagt sie, „da telefoniert man und ist froh, wenn man jemanden erreicht und nichts Unfreundliches zu hören bekommt.“ Ab 2007 nun sprach sie die Kunden an, um für ihre naturwissenschaftliche Initiative an Schulen zu werben. „Und auf einmal riefen die alle zurück. Da habe ich gedacht: Das muss dein Ding sein!“ Das Ding, die Initiative NAT, ist mittlerweile kräftig gewachsen und hat neue Engagements hervorgerufen, z.B. mint:pink, ein Programm, das vor allem Mädchen Lust auf die MINT-Fächer machen soll. „Es gibt genügend Mädchen, die sich für Mathe und Physik interessieren, vielleicht für andere Aspekte als Jungen. Sie sehen eher den Bezug zum Menschen und zum Leben. Den Jungen reicht manchmal die Technik an sich“, weiß Sabine Fernau aus Erfahrung. „Die Mädchen entscheiden sich oft aus sozialen Gründen gegen diese Fächer. Die Peergroup muss erlauben, dass ein Mädchen das Physik-Profil wählt.“ Und da setzt mint:pink an: Mädchen mit Begabung und Interesse für Naturwissenschaften zusammenzubringen, das ist der erste kleine Schritt. „Und wenn dann noch der Lehrer kommt und sagt: Ihr seid so gut, ich will euch bei mir haben, dann gehen sie zusammen in das Profil.“ 35 Schulen und 40 Unternehmen gehören mittlerweile zu den Kooperationspartnern. Neuerdings gibt es sogar ein Programm speziell für junge Zuwanderer, (M)Integration genannt. Drei große Gs hatte sich Sabine Fernau für dieses Jahr vorgenommen: Gelassenheit, Golf und Geld. Gelassener ist sie nach acht Jahren NAT auf jeden Fall geworden, beim Golfspielen arbeitet sie sich langsam an ein Handicap 36 heran. Das dritte G macht die meisten Probleme. Schließlich hat sie ihren früheren Job und damit ihre monetäre Sicherheit für ihr naturwissenschaftliches Engagement aufgegeben. Im Frühjahr überlegt sie jedes Mal: „Schaffe ich das Jahr finanziell oder nicht? Das ist keine gute Basis.“ So träumt Sabine Fernau davon, neben Wirtschaftsbehörde, Hochschulen und Stiftungen noch einen weiteren Finanzier zu finden, der mit ihr die Physik in Hamburg retten will. DIE WELT 05.12.2015

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„Ich bin ein Uhu“

Die Finanzexpertin Renate Krümmer schaffte den Sprung von der Sammlerin zur Kunsthändlerin. Der Verkauf eines Werkes hat auch immer eine traurige Note: Gerade die schönsten Bilder sind jetzt nur noch ihre Begleiter auf Zeit.

© Bertold Fabricius

Am liebsten hätte sie ein Haus, dem Bauhausstil ähnlich, mit einer sehr puristisch eingerichteten Eingangshalle, schwarzer Boden, viel Glas ... Und dann hängt da nur dieses eine Bild. „Boah, Hammer!“ begeistert sich Renate Krümmer. Dieses eine Bild zeigt in fluoreszierenden Farben eine hummerrote Ellipse auf pink verlaufendem Untergrund. Einstweilen hat es, 120 mal 95 cm groß, einen prominenten Platz gleich am Eingang der Galerie „Krümmers Fine Art“ in Hamburg-Eppendorf. Gekonnt weiß Renate Krümmer die Anziehungskraft des Bildes in Worte zu fassen. Wie sie uns Vernissage-Besuchern den Eindruck der Schwerelosigkeit erklärt, sehe ich die hummerrote Ellipse fast aus ihrem schwarzen Rahmen schweben. Und als sie uns dann noch begreiflich macht, warum der Künstler Rupprecht Geiger den Pinsel gegen die Spritzpistole getauscht und Acryl- statt Ölfarben verwendet hat, verstärkt das auf magische Weise die Magie des Bildes. Was sich hier spürbar verbindet, ist das Wissen über Kunstobjekte mit einer großen Liebe zur Kunst. Dabei ist Renate Krümmer eher ein nüchterner Typ. Von kleiner Statur, macht sie auf den ersten Blick einen sachlichen, geschäftstüchtigen Eindruck, sicherlich zu recht, denn in ihrem früheren Leben war sie Finanzmanagerin in den oberen Etagen großer Unternehmen, u.a. Finanzvorstand der Bertelsmann Buch AG, später verantwortlich für Fusionen und Unternehmenskäufe, bei der Commerzbank Leiterin des Controllings und der Konzernentwicklung. Im Herbst 2010, mit 54 Jahren, wagte sie den Sprung in die Welt des Kunsthandels, zunächst vorrangig mit Werken der klassischen Moderne. Gleich ihr erster Messeauftritt wurde zum Durchbruch. „Ich war der rosa Elefant. Um 14 Uhr wurde eröffnet, um 14.20 Uhr hatte ich mein erstes Bild verkauft.“ Natürlich freute sie sich über den Erfolg, analysierte aber auch umgehend, dass sie den Preis des Bildes wohl zu niedrig angesetzt hatte. Als wir uns das erste Mal treffen, genießen wir auf ihrer Terrasse mit Blick auf die Alster die letzten herbstlichen Sonnenstrahlen, während Onda, ihr niedlicher Border Terrier, uns beobachtet. Ihre Wohnung im dritten Stock ist großzügig und stilvoll eingerichtet. Darunter, in der zweiten Etage, liegt die Galerie. Sich ein schönes Umfeld leisten zu können, das hat sie sich lange von Herzen gewünscht. Ihr Vater war Buchhalter mit geringem Verdienst. Er starb, als Renate sechzehn war. „Wir haben in einer klitzekleinen Wohnung mit Kohleheizung gewohnt, ich hatte kein eigenes Zimmer. Meine Eltern sind ein einziges Mal in Urlaub gefahren, in den Schwarzwald.“ Aufgewachsen ist sie am Rande von Köln, nahm über eine Stunde Fahrt in Kauf, um das beste Gymnasium in der Stadt zu besuchen. „Wenn ich nach der Schule zu meinen Freundinnen ging, ist mir die Kinnlade ‘runtergefallen.“ Großzügige Wohnungen, geschmackvolle Einrichtung, Bilder an den Wänden... „Ich wollte genau das haben, was ich in meiner Kindheit nicht hatte. Nennen Sie es Nachholbedarf oder was auch immer!“ Das trieb sie an, zum sehr guten Abitur, zum Doppelstudium Volks- und Betriebswirtschaft, zur Promotion mit magna cum laude, zur Erfüllung hochprofilierter Jobs und vielleicht auch dazu, die Eitelkeiten ihrer Chefs zu ertragen. Sie hat keineswegs geschmollt, wenn sie vom Vorstandsvorsitzenden „Schätzele“ genannt oder „zusammengefaltet“ wurde. „Da hat mir die Eingebung gesagt: Einen emotionalisierten Menschen kannst du nicht durch Sachlichkeit entemotionalisieren. Von seiner Kritik sind entweder achtzig Prozent oder auch nur zwei Prozent richtig. Wie auch immer der Prozentsatz ist, genau da setzt du an und sagst: Eigentlich ist es eine Schande, dass Sie mir das sagen müssen. Also mea maxima culpa.“ Und das bringt sie über sich? Ich schlucke. „Dabei brech’ ich mir doch nichts ab!“ antwortet sie ungerührt. „Ich habe den Mechanismus gefunden, der den Mann wieder ‘runterkocht. Der rote Luftballon in seinem Kopf schrumpft zusammen und am nächsten Tag können wir zurück zum Sachargument.“ Mehr als zehn Jahre lang hieß es zur Eröffnung von Konferenzen: „Frau Dr. Krümmer, meine Herren...“ Während andere Kolleginnen sich nicht genug beachtet fühlten, sagte sie zu sich selbst: „Oh, geil, da sitzen siebzig Leute und du wirst namentlich erwähnt. Wenn du die Chance nicht nutzt, dann hast du etwas falsch gemacht in deinem Leben!“ Und jetzt hängen an ihrer eigenen Wohnzimmer-Wand drei Zeichnungen von Gerhard Richter, über dem Sofa eine Frau mit mintgrünen Augen und schöner klarer Kinnlinie, porträtiert von Emil Nolde. Wie viel ist sie wert? „Ich werde das Bild für 250.0000 anbieten und viel darunter wird es auch nicht werden“, antwortet Krümmer selbstsicher und zuversichtlich. „Aber eigentlich“, betont sie, „bin ich ein Uhu.“ Ein Uhu? „Unter Hunderttausend in der Regel.“ „Natürlich ist Kunst auch eine Asset-Klasse“, stellt sie fest und denkt dabei nicht zuletzt an ihre Rente. „Wenn ich so viel Geld in etwas stecke, dann muss es im Wert steigen oder wenigstens werthaltig sein. Deshalb habe ich mich geschult, bis ich verstanden habe, was Sammler von einem Künstler wollen.“ Und was macht letztendlich den Wert eines Bildes aus? „Im Grunde kann das jeder Kunstliebhaber erkennen“, klärt sie mich auf, „häufig ist das künstlerisch höher Bewertete auch das kommerziell Wertvollere. Zum Beispiel“, erläutert sie weiter, „wird ein früher Pechstein aus der Brücke-Zeit immer höher bewertet als ein später Pechstein. Denn meistens ist der expressiver in den Farben und nicht naturalistisch. Da kann die Wiese auch mal rot sein.“ Und das kommt offensichtlich an. Ihr erstes Bild war ein Geschenk ihres Mannes. „Irgendwann habe ich gesagt: Ich brauche keinen Schmuck mehr, schenk mir mal ein schönes Bild! So fing’s an.“ Die Ehe ist längst geschieden. Das renovierte Bauernhaus mit riesigem Garten, die „totale Idylle, ausgelegt für eine Zukunft mit Kindern“, gehört der Vergangenheit an. „Dass wir keine Kinder bekamen, obwohl wir es lange versucht haben, war sicher nicht gut für die Beziehung.“ Von den Ehefrauen ihrer Kollegen fühlte sie sich oft geschnitten. Die beäugten oft skeptisch ihren beruflichen Erfolg und gaben ihr schon mal zu verstehen, dass die wahre Erfüllung im Leben doch die Mutterschaft sei. „Irgendwann habe ich mal gesagt: Sie haben recht! Das ist etwas, das mir leider nicht vergönnt ist und Sie glauben gar nicht, was ich schon für Anstrengungen unternommen habe. Ab da haben sie mich nie wieder so angefeindet. Und ich habe gedacht: Offenheit ist gar nicht so blöd.“ Diese Erkenntnis gewinnt sie nicht nur außerhalb des Büros. „Wenn ein Mann etwas macht, dann sagt er: Mein Haus, mein Rennpferd, meine Leistung!“, lässt sie mich an ihren Einsichten teilhaben und haut drei Mal mit der Faust auf den Tisch, sodass die Tassen klappern. „Wie viele Frauen habe ich anfangs gedacht, mein Chef werde schon sehen, dass ich hier Spitzenleistungen vollbringe, das brauche ich ihm nicht zu sagen.“ Doch leider hat der Chef weder gesehen noch honoriert, dass ihr Restrukturierungsprogramm dem Konzern 300 Millionen eingespart hat. „Irgendwann bin ich deutlich geworden und da habe ich alles bekommen, was ich wollte. Eine erstaunliche Erfahrung!“ Bevor sich bei mir der Eindruck festsetzen kann, dieser Frau gelinge einfach alles, konstatiert sie: „Ich bin auch zwei, drei Mal in meinem Leben satt gescheitert.“ Dazu zählt sie ihre letzte Aufgabe als Deutschlandchefin des Finanzinvestors JC Flowers, die sie ausgerechnet annahm, kurz bevor die Finanzkrise die Geschäfte ins Taumeln brachte. „Das war nicht witzig, die Commerzbank verlassen zu haben und eineinhalb Jahre später zu überlegen: Was machst du jetzt eigentlich?“ Da war die Zeit reif, ihr Hobby, das Kunst-Sammeln, zum Beruf zu machen. Risikoprüfung, Kostenschätzung, Businessplan – das alles erledigte sie innerhalb eines Jahres planvoll und mit Sachverstand. Die größte Herausforderung bestand jedoch in der Frage: „Kann ich mich von den Bildern trennen, mit denen ich mich umgebe?“ Beim ersten Katalog neige man dazu, die Bilder anzubieten, die man schon immer mal verkaufen wollte. „Nein, nein“, hat sie sich gesagt, „du tust all die Sachen ‘rein, von denen du dich nur schwer trennen kannst!“ Und das war die richtige Devise. Jetzt musste also die zauberhafte Nolde-Frau mit den mintgrünen Augen ebenso wie Geigers hummerrote Ellipse mit auf die Herbstmessen in München und Köln. Und sollte Renate Krümmer mal wieder erfolgreich sein, so wird sie nach besiegeltem Deal sehr bedauern, die Bilder nicht mehr in ihrer Nähe zu haben. „Bilder sind für mich jetzt Begleiter auf Zeit“, sagt sie und freut sich schon auf das nächste, das sie unbedingt haben möchte. DIE WELT 21.11.2015

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„Chef-Archäologin“ des ZDF wird sie genannt, obwohl sie eigentlich Volkswirtin ist. Gisela Graichen begibt sich in ihren Filmen auf die Suche nach den Spuren unserer Ahnen. Sie führt uns auch zum zerstörten Weltkulturerbe in Syrien und im Irak.

©Bertold Fabricius

In der Wüstenoase Palmyra sprengten IS-Terroristen den 2000 Jahre alten Triumphbogen in Schutt und Asche. In Timbuktu zündeten Islamisten die historische Bibliothek mit ihren jahrhundertealten Manuskripten an. Und in Bagdad zerschlugen Plünderer die Vitrinen des Nationalmuseums, raubten 15000 Artefakte. „Als ich die Bilder aus Bagdad das erste Mal sah, habe ich geweint“, sagt Gisela Graichen. All diese Orte hat sie bereist und bewundert. Mit ihren Filmen gibt uns die Fernsehautorin seit Jahrzehnten Einblick in die Geschichten, die Ruinen und Grabungsstätten über frühe Lebensweisen und Kulturen erzählen. „Das ist auch unsere Geschichte, Mesopotamien ist die Wiege der Zivilisation. Hier wurde die Schrift erfunden, und die Sesshaftigkeit.“ Graichen schüttelt bedauernd den Kopf. „Sie zerstören alles, was dem Westen wichtig ist. Sie tun dem Westen richtig weh und erhalten so unsere Aufmerksamkeit.“ Timbuktu kennt sie besonders gut, denn ihr inzwischen verstorbener Mann, Hans-Georg Graichen, war lange Zeit deutscher Generalkonsul von Mali. 1974 ist sie das erste Mal dort gewesen, 26 Jahre jung und frisch verheiratet. Jetzt rät sie mir von einer Reise nach Timbuktu eindringlich ab. Zu gefährlich. Sie selbst war auch länger nicht mehr dort. Wir sitzen in Eppendorf an ihrem alten englischen breakfast table, neben uns ein Bücherregal, in dem ein Fach reserviert ist für die bisher 24 Bücher, die sie selbst geschrieben hat. Gestern Abend hat sie hier Doppelkopf gespielt. Manchmal stellt sie ein halbes Dutzend Tische mit grünem Filz belegt auf. „Wenn der Briefträger durchs Fenster guckt, denkt er wohl, hier sei eine Spielhölle.“ In ihrem ersten Buch (1981) ging es um Aussteiger. Im zweiten um Arbeitslosigkeit als Chance; es wurde ein Flop: „Niemand wollte das hören.“ Das nächste Buch dagegen über die neuen Hexen war überaus erfolgreich und wurde verfilmt. Kurz darauf führt sie zu Opferplätzen und Kultstätten in Deutschland. Das „Kultplatzbuch“ wird ein Bestseller. Hat sie einen Hang zur Magie? „Ich glaube, dass man viel spüren kann, wenn man es zulässt“, meint sie und verrät mir, dass sie mit den Bäumen auf dem Hof ihres jahrhundertealten Landhauses spricht, auch mit dem Haus selbst: „Wenn ich lange nicht da war, spüre ich, dass das Haus sauer auf mich ist. Dann lege ich meine Hand auf den alten Balken und sage: Du, ich konnte nicht kommen, sei nicht so knurrig mit mir!“ In ihren Filmen allerdings geht es streng wissenschaftlich zu. Da setzen Archäologen und Historiker die Kriterien. „Kein esoterischer Spinnkram! Dazu bin ich zu sehr Volkswirtin. Es muss belegt sein, dass unsere Ahnen an bestimmten Orten ihre heiligen Handlungen durchgeführt haben.“ Ihr Volkswirtschaftsdiplom hat Gisela Graichen gemacht, weil der Vater, Personalchef eines großen Unternehmens, meinte, das sei „etwas Ordentliches“. „Ich gehöre noch zu der Generation, in der man das tat, was die Väter wollten.“ Interessiert hat sie das Studium nicht die Bohne. Begeistert war sie hingegen schon immer vom Schreiben. Ihre Großmutter nannte sie „unsere Geschichtenerzählerin“. Giselas erstes Buch war eigentlich eine dicke Kladde, ganz eng beschrieben, mit dem Titel „Aus dem Tagebuch eines Wellensittichs“. Da war sie neun Jahre alt. Ihr heute erwachsener Sohn Sebastian ließ sich nur zu gern daraus vorlesen. Mit dem „Kultplatzbuch“ und dem folgenden Film startete sie ihre Karriere als Fernsehautorin. Sie hat Serien entwickelt wie „C 14“, „Schliemanns Erben“ und „Humboldts Erben“. Ihre Filme sind häufig Sonntag Abend zu sehen, aktuell in der Reihe „Terra X“. Sie hat an den exotischsten Orten gedreht, in Asien, Afrika, Südamerika und viel in Europa. „Es muss nicht immer Troja sein“, betont sie, „viele Schätze liegen direkt vor unserer Haustür!“ Aus Spuren in deutschen Höhlen wüssten wir nicht nur, dass unsere Vorfahren Kannibalen waren, erklärt sie mit einem verschmitzten Lächeln, sondern: „Sie waren auch Feinschmecker, vor 3000 Jahren schon, haben Knochen bevorzugt, die Mark enthielten.“ Die leckeren Markklößchen in unserer Suppe sind also keine kulinarische Erfindung unserer Großeltern. Geboren ist sie in Stendal in Sachsen-Anhalt, aufgewachsen in Mülheim an der Ruhr. Sie schwärmt von einer freien Kindheit, wie es sie heute nicht mehr gebe. „Während die anderen Mädchen mit ihren Puppen spielten, hatte ich meine Jungsbande.“ Mit der ging sie schwimmen in der Ruhr direkt hinterm Haus, stromerte durch das Ufergestrüpp, übte sich als Straßenfußballerin und bekämpfte natürlich die gegnerische Gang. Nach dem Studium hat sie zunächst als Volkswirtin gearbeitet, lernte ihren Mann kennen und zog mit ihm nach Hamburg (1974). Nebenbei schrieb sie – unter Pseudonym – über hundert Kurzgeschichten, die in der „Hör Zu“ und anderen Magazinen veröffentlicht wurden. Als Buch- und Fernsehautorin hat sie die Bernsteinstraße zwischen Ostsee und Nil, nachgezeichnet, die Hanse als heimliche Supermacht dargestellt und sich in die verborgenen Sphären von Geheimbünden wie Opus Dei begeben. Sie hat das Trauma der deutschen Kolonien unter die Lupe genommen und den Limes, Roms Grenzwall gegen die Barbaren, erkundet, sich zu den Inka, den Skythen und den Khmer begeben. „Ich habe einen Traumberuf, reise seit dreißig Jahren um die Welt und habe die tollsten Gesprächspartner.“ Viele Preise hat Gisela Graichen für ihre Arbeit erhalten, darunter internationale Auszeichnungen und das Bundesverdienstkreuz. Zuletzt verlieh ihr das Landesamt Schleswig Holstein die Goldene Schaufel. Die liegt nun blitzblank auf dem Regal über ihren Büchern. „Zum Graben im Garten ist die Schaufel wohl zu schade...“, meint sie und schaut mich an, als würde sie doch gern etwas Nützliches mit diesem Artefakt anstellen. Gisela ist sicher eine Frau, die zupacken kann, patent und pragmatisch, denke ich mir. Gibt es bei der Vielfalt ihrer Themen einen roten Faden? „Mein roter Faden ist eigentlich ein grüner Faden. Ich frage: Warum gehen Zivilisationen zugrunde?“ Und hat sie eine Antwort gefunden? „Wissenschaftler schlussfolgern aus ihren Grabungen, dass große Zivilisationen auch und vor allem an sich selbst zugrunde gehen, an Überbevölkerung zum Beispiel und Energieknappheit“, erklärt sie und verweist auf die Maya. Archäologie sei für sie keine rückwärts gerichtete Wissenschaft im Elfenbeinturm. Archäologie helfe zu verstehen, was uns in der Zukunft erwartet. „Wir könnten aus der Geschichte lernen, aber wir tun es nicht!“ Die islamistischen Gewalttäter wollten die Geschichte ganz bewusst ausradieren, meint Gisela Graichen. „Sie zerschneiden damit das Band, das Ethnien und Völker zusammenhält. Auch islamische Kulturgüter, Moscheen sehen sie als Ausdruck der Götzenverehrung. Mekka ist gefährdet. Das muss man sich vorstellen, Mekka! Das islamische Heiligtum!“ Sie macht darauf aufmerksam, dass der illegale Handel mit Antiken aus Raubgrabungen die Kriegskassen der Islamisten füllt. „Das ist ein Milliarden-Geschäft, ähnlich wie der Waffen- und der Drogenhandel.“ Und Deutschland sei eine wichtige Drehscheibe. „Dann heißt es immer: Das habe ich auf dem Dachboden meiner Großmutter gefunden. Und niemand kann beweisen, dass ein 3000 Jahre altes Rollsiegel nicht schon während der Kolonialzeit vom Großvater aus dem Orient mitgebracht wurde.“ Ihre Arbeit war nicht immer ungefährlich. Bei Dreharbeiten in Pakistan ist sie mit ihrem Team in einem Ballon über die Stadt geflogen. Der Ballon trieb ab, musste unvermutet weit entfernt landen. Einige hundert schaulustige Männer sammelten sich und begannen, die Gondel mit ihren Schuhen zu bewerfen, wütend, weil sie Gisela Graichen ohne Kopftuch erwischt hatten. „Es war mein Fehler, weil ich nicht korrekt gekleidet war.“ In einem iranischen Goldbergwerk hatte sie zwar brav ein Kopftuch angelegt, doch blieb das an einem Balken hängen und rutschte herunter. Klick, klick, klick, sofort wurden zahlreiche Fotos gemacht und als „Beweisstücke“ nach Teheran geschickt. In der folgenden Nacht horchte sie besorgt auf die schweren Schritte im Flur vor ihrem Hotelzimmer. Hatte sie große Angst? „Wenn man so frei aufgewachsen ist wie ich mit einer Jungsbande in Mülheim an der Ruhr, dann ist man vorbereitet“, wehrt sie lachend ab. Was sie antreibt, ist ihre Neugier auf fremde Kulturen. „Vielleicht möchte ich herausfinden, ob die anderen Lebensweisen auch für mich in Frage kommen“, sucht sie selbst nach ihrer Motivation, „man lernt, was wirklich wichtig ist.“ Sie staunt, was unsere Vorfahren schon alles wussten und kann immer noch nicht begreifen, wie deren umfassendes Wissen zum Teil gänzlich für Jahrtausende verloren gehen konnte. „Am Indus in Pakistan wussten die Menschen schon vor 4500 Jahren, dass Trink- und Brauchwasser unbedingt zu trennen sind“, hat sie bei einem ihrer Drehs erfahren, „während Hamburg im 19. Jahrhundert unter einer Cholera-Epidemie litt, weil das hier noch nicht beachtet wurde.“ Mit ihren Filmen sucht Gisela Graichen nach dem verlorenen Wissen, um es für unsere Zukunft nutzbar zu machen. Verlorene Welten, Zerstörtes Kulturerbe im Orient, gesendet So., 8.11., 19:30 Uhr, ZDF-Mediathek (Konzept von Gisela Graichen) DIE WELT 07.11.2015

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Katharina, die große Filmproduzentin

Katharina Trebitsch produziert seit 35 Jahren gute Unterhaltung für Kino und Fernsehen. Das Gejammer über die Zuschauerquote versteht sie gar nicht. Von Glitzer und Dünkel der Kultur-Schickeria grenzt sie sich ab: „Lieber spießig als schick!“

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Ihr Motto heißt „no surrender“, nicht nur weil es von Bruce Springsteen stammt. Langen Atem behalten, zäh sein und immer dranbleiben, lautet ihre freie Übersetzung, oder: Über Pannen vorwärts! The Boss sei ihr Lieblingsmusiker, erzählt sie mir in einem Café nahe der Elbphilharmonie. Springsteen oder was würde sie dort gerne mal hören? „Das Adagietto von Mahler und ein Cello-Konzert von Dvořák!“ Seit 35 Jahren ist Katharina Trebitsch im Filmgeschäft und hat damit bewiesen, dass sie ihrem Motto treu ist und dranbleibt. Sie produzierte unter anderem „Die Bertinis“ und „Die Drombuschs“, „Marlene“ und „Mein Leben – Marcel Reich-Ranicki“, Krimi-Serien wie „Bella Block“, „Donna Leon“ und „Commissario Laurenti“, sowie das Doku-Drama zu Helmut Schmidts 95. Geburtstag. Filmgeschäft – da denken wir schnell an Glimmer und Glamour. Aber mir gegenüber sitzt eine vollkommen unprätentiöse Frau, ungeschminkt, im schlichten Strickpulli, fein und charmant älter geworden (geboren 1949 in Hamburg-Wandsbek). Lieber spießig als schick! „Ist weniger anstrengend“, findet sie. Sie lacht häufig, während wir sprechen. „Ich selber bin nicht lustig“, meint sie, „aber ich lache gern.“ Und wenn sie lacht, dann zieht sie die Nase von der Wurzel aus hoch und macht ganz schmale Augen. Das sieht niedlich aus, als sei sie eine lustige Figur in einem Kinderfilm. Ihr aktuelles Projekt ist eine Komödie, ein politischer Stoff aus den 1970er-Jahren, der bis heute an Bedeutung nichts verloren hat: Ungleiche Bezahlung von Frauen und Männern. „Wenn wir das hinkriegen, richtig frech und rotzig, dann ist das für mich allerbeste Unterhaltung!“ Ist es wichtig für sie, dass man lacht, wenn man einen Film sieht? „Ich glaube, das ist eine Form von Katharsis, also seelischer Reinigung. Mir persönlich geht es besser, wenn ich gelacht habe“, sagt sie und zieht wieder die Nase kraus. Ihre Wangen haben sich ein wenig gerötet. Warmherzig und offen wirkt sie im Gespräch, frei von Dünkel und Koketterie. Im Vorgeplänkel über Alltägliches finden wir schnell Gemeinsamkeiten, lieben beide die Haribo Colorado-Mischung. Sie weiß obendrein genau, an welchem Kiosk es Maoam mit Zitronengeschmack gibt. In den hektischen Zeiten der Trebitsch Production Holding, in der 1991 die UFA Mitgesellschafter wurde, war das oft ihr Mittagessen. „Nochmal kurz zur Tankstelle und weiter ging’s. Unterirdisch, das darf man gar nicht erzählen.“ Hinter den Kulissen des Films war sie schon als Kind zu Hause. Wer wo im Studio steht und dass man bitte still ist, wenn der Abläutton – den gibt es heute nicht mehr – erklingt, das wusste sie von klein auf. Ihr Vater, Gyula Trebitsch, gründete 1947 das Studio Hamburg, eine der größten Filmproduktionsstätten Europas. Ihre Mutter, Erna Sander, war Kostümbildnerin (u.a. im Flora-Theater). Auch ihr Bruder Markus Trebitsch ist Filmproduzent. Eine Hamburger Film-Dynastie sozusagen. War es nicht merkwürdig, mit dem eigenen Bruder im Wettstreit zu liegen? „Wir sind uns nie in die Quere gekommen und haben uns immer ausgetauscht. Aber mir ist erst später, nach dem Tod unserer Eltern, klar geworden, dass es zwischen Geschwistern eine natürliche Konkurrenz gibt.“ Haben sie nie daran gedacht, ein gemeinsames Familienunternehmen zu gründen? Nein. Das müsse sie jetzt allein machen, hat der Vater ihr zu verstehen gegeben, Verantwortung übernehmen. Aber er stand ihr als Berater zur Verfügung. „Ohne das hätte ich mich nicht getraut.“ Ich denke, Katharina Trebitsch hätte sich doch getraut. Denn noch etwas anderes hat der Vater ihr vermittelt: „Wenn du hinfällst, stehst du wieder auf!“ Eine Ablehnung empfand sie deshalb nie als Katastrophe. Und diese Einstellung sei ihr „Hauptkapital“ gewesen. Wie ihr Bruder, nach der Schule direkt zum Film gehen, das wollte sie nicht. Sie musste sich erst mal abgrenzen, Kante zeigen und studierte Jura. „Die Rechtswissenschaften sind wie eine Röntgenaufnahme der Gesellschaft; die Gesetze sind das Skelett.“ Als sie dann doch zum Filmgeschäft kam, nannte sie ihre erste eigene Firma 1980 Objectiv Film GmbH, in Erinnerung an das von den Nazis „arisierte“ Unternehmen ihres jüdischen Vaters. Sie hat sogar das alte Logo übernommen. „Viele meinten, ich müsste mir mal ein anderes Logo zulegen. Sie hatten recht, aber ich habe es trotzdem behalten.“ Beide Eltern wurden verfolgt. Gyula Trebitsch, Jude deutsch-ungarischer Abstammung, wurde aus Budapest in mehrere Konzentrationslager verschleppt, seine Brüder überlebten den Holocaust nicht. Erna Sander, Kommunistin, wurde beim Flugblattverteilen von der Gestapo verhaftet und kam nur durch glückliche Umstände nach einem Jahr Untersuchungshaft in Fuhlsbüttel wieder frei. Welche Wirkung hatten diese qualvollen Erfahrungen von Vater und Mutter auf Katharina? Sie denkt einen Moment nach. „Ich gehörte nie zu den Menschen, die sagen: Für Politik interessiere ich mich nicht. Menschen, die so dachten, fielen als enge Freunde für mich aus. Und ich empfinde Solidarität mit Menschen, die anders sind.“ Katharina Trebitsch ist nicht religiös, bezeichnet sich als Agnostikerin. Die Familie war völlig assimiliert, hat die christlichen Feiertage gefeiert. „Normale“ Feiertage nennt sie die. „Und“, sie wird sehr nachdenklich, „da sehe ich auch ein Problem der Migration. Viele Menschen kommen aus Gesellschaften, wo die Trennung zwischen Religion und Staat nicht existiert. Ich möchte weiterhin in einem laizistischen Staat leben. Außerdem: Männer und Frauen sind gleichberechtigt, Schluss!“ Dann lacht sie wieder. „Schleier?“, fragt sie und mustert mich, „das steht Ihnen doch auch nicht! Aber das muss jede Frau für sich selbst entscheiden.“ So politisch sie auch denkt, ihre Filme sind keineswegs missionarisch. Gute Unterhaltung liebt sie. Von der verkopften Kulturelite grenzt sie sich ab. Die Künstler glaubten immer noch, sie veränderten die Welt, seufzt sie. Allen Ernstes habe ihr eine Theaterintendantin weismachen wollen, das Theater sei der einzige Ort in der Gesellschaft, wo noch Gegenwart verhandelt werde, „Nee, stimmt nicht!“, antwortete Katharina Trebitsch da mit Nachdruck. Wo denn sonst? „Bei Starbucks! So! Und das meine ich auch!“ Auch das Gejammer über die Orientierung an der Zuschauerquote geht ihr auf die Nerven. Gerade erst hörte sie im Radio anlässlich einer Preisverleihung an junge Regisseure den Moderator klagen, das Schielen auf die Quote sei eine Katastrophe. Diese Beschwerden haben für sie ideologischen Charakter. „Warum ist das eine Katastrophe? Es ist ein Maßstab! Ein Fieberthermometer.“ Dabei hält sie sich an einen weiteren Grundsatz ihres Vaters: „Es wird nicht alles gut werden, aber ich möchte mich nicht dafür schämen!“ In unzähligen Funktionen war und ist sie tätig: in Kuratorien (z.B. Welthungerhilfe und Übersee-Club), Aufsichtsräten (z.B. Schauspielhaus, Thalia Theater), Jurys (z.B. Grimme, Emmy). Als beste Produzentin hat sie 1996 den Telestar erhalten und 1999 wurde ihr das Bundesverdienstkreuz verliehen. Sogar in die Monopolkommission der Bundesregierung wurde sie berufen; und natürlich gehört sie zur Freitagsgesellschaft von Helmut Schmidt. Jetzt ist ihr Alltag etwas ruhiger geworden. Mitte fünfzig kam ihr der Gedanke, dass sie vielleicht einen anderen Rhythmus in ihr Leben bringen sollte. Die Reiserei – „ein Wahnsinnszirkus“ – hat ihr früher Spaß gemacht, doch irgendwann hat sie das nur noch als anstrengend empfunden. Gerne verbringt sie allerdings einige Wochen des Jahres in New York; die Stadt inspiriert sie. „Wenn man sich als geschäftsführende Gesellschafterin durch die Welt schlägt, dann pensioniert einen ja keiner. Das muss ich selber machen.“ Sie gründete 2004 eine kleinere Firma, die Trebitsch Entertainment GmbH, übernimmt seither weniger Aufträge. „Die Aufgaben, die ich übernehme, möchte ich noch besser machen. Das ist mein Wunsch!“ Ist es Zufall, dass sie – nie verheiratet, keine Kinder – erst seit sechs Jahren einen Mann an ihrer Seite hat? Wahrscheinlich nicht. Es gibt nur wenige Momente, wo sie denkt: „Ich wäre gern noch mal jung...“ Im Nächtedurchfeiern war sie noch nie gut und: „Wenn ich in den Spiegel gucke, kann ich es auch aushalten.“ Eins allerdings würde sie sehr reizen: Mitmischen in der neuen digitalisierten Filmwelt. „Die Digitalisierung macht alles möglich, es wird gerade neu gewürfelt. Das fände ich schon gut, wenn ich noch richtig Luft vor mir hätte, Ausdauer und Kraft.“ Da denkt Katharina Trebitsch manchmal: „Dafür wäre ich gerne noch mal jung.“ Aber dann freut sie sich wieder, Zeit für einen Spaziergang zu haben und nicht von Gummibärchen satt werden zu müssen. DIE WELT 24.10.2015

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Sie weiß, wie man in 30 Sekunden eine ganze Geschichte erzählt. Petra Felten-Geisinger macht seit drei Jahrzehnten Werbespots

©Bertold Fabricius

Ihr Durchbruch kam 1999 mit Boris Becker. „Bin ich schon drin?“, staunte er für AOL über den kinderleichten Zugang zum Internet. Die Verblüffung war echt, der Spruch stand nicht im Drehbuch, erinnert sich Petra Felten-Geisinger. Seit drei Jahrzehnten produziert sie Werbefilme: „Like Ice in the Sunshine“ für Langnese; „Sippin on Bacardi Rum“; Krombacher, eine Perle der Natur; das Unterwasserwohnzimmer für ein wasserdichtes Sony-Tablet. Auch „Horst Schlämmer – Isch kandidiere!“ stammt aus ihrem Haus. Der graubärtige Friedrich Liechtenstein tanzte für Petra Felten-Geisinger mit dem Electrolux-Staubsauger, bevor er sich für Edeka in die Badewanne legte. Werbedrehs sind normalerweise ungeheuer aufwendig, aber an diesem Sonnabend kommt Petra Felten-Geisinger mit kleiner Mannschaft zum Drehort in Bahrenfeld. Gedreht wird für Maggi bei einer ganz normalen Familie, die in ihrer Privatsphäre so wenig wie möglich gestört werden soll. Das sieht dann folgendermaßen aus: Jedes Zimmer der 160-Quadratmeter-Wohnung ist belegt mit Rucksäcken, Taschen, Stativen, Lampen und Kamerazubehör jeder Art. Auf dem Balkon hat sich der Foodstylist ausgebreitet. Seine Werkzeuge – Pinzette, Spritze, Tupfer, Spießchen – ähneln dem Besteck eines Chirurgen. Fünf Putenbraten wurden vorsichtshalber vorbereitet. „Wenn der Anschnitt nicht gelingt“, erklärt Petra, „dann können wir nicht vier Stunden warten, bis die Nächste gebraten ist.“ Durch die Zimmer springen zwanzig sympathische, meist jüngere Leute (das kleine! Team) in lockerer Kleidung über Kabel auf Teppich- und Parkettschonern. Im Wohnzimmer setzt sich Petra aufs Sofa. (Ich bleibe jetzt beim Vornamen, denn bei so einem Dreh duzen sich einfach alle.) Ganz entspannt, äußerlich jedenfalls, blond gelockt, in sommerlich hellem Türkis beobachtet sie auf ihrem iPad, was in der Küche gedreht wird. Sie spricht leise, ich wette, auch im größten Tumult wird sie nicht laut. „Ich bin keine Rampensau“, erklärt sie. „Wir sind keine Hotspot-Firma. Seit 1986 arbeite ich einfach still, kontinuierlich und solide.“ Als ich frage, was genau ihre Aufgabe hier sei, fangen alle am Set an zu lachen. „Sagen wir mal so“, erklärt schließlich einer, „wenn sie hier jetzt eine Aufgabe hätte, dann wäre etwas schiefgelaufen.“ Petra hatte dafür zu sorgen, dass pünktlich um acht alle Beteiligten mit dem entsprechenden Equipment auf der Matte standen, dass die Familie gut informiert wurde und die Puten vorbereitet waren. Sie plant den Dreh und hält alle zusammen: die Kameraleute und Schauspieler, die Regisseure, die Kreativen und andere Mitarbeiter der Werbeagentur. „Im Prinzip bin ich für alles verantwortlich“, erklärt sie. Am Ende natürlich dafür, dass die Zubereitung der Maggi-Pute in 30 Sekunden so appetitanregend rüberkommt, dass den Auftraggebern im Hause Nestlé das Wasser im Mund zusammenläuft. Denn das Unternehmen ist in diesem Fall der eigentliche Kunde. Macht sie sich große Sorgen, ob alles klappt? „Der Ofen hätte kaputt sein können“, antwortet sie, „oder ein Darsteller krank. Oder die Familie sagt: ‚Wir haben uns das anders vorgestellt, ihr müsst jetzt gehen …‘“ Ist sie deswegen gestresst? „Ich bin im Laufe der Jahre etwas ruhiger geworden, weil ich weiß, dass es für alles eine Lösung gibt.“ Dass es wirklich für alles eine Lösung gibt, kann ich nicht glauben. „Nicht für alles. Wenn es draußen regnet, und du willst Sonne, dann habe ich keine Lösung, dann kann ich dir nur den Regen einbauen. Aber oft gibt es eine Lösung. Manchmal ist sie etwas anders als das Original, aber das muss nicht schlechter sein!“ Alles managen zu können und dann doch absolute Hilflosigkeit zu erleben, ist eine fast unerträgliche Erfahrung. Vor zehn Jahren starb ihr Mann Harry mit 49 Jahren an Krebs. Sie war 46, der Sohn Maximilian erst neun Jahre alt. Drei Jahre lang hat sie Harry zu Hause gepflegt, einen „Spagat gemacht zwischen Kind, Firma und krankem Mann“. Sie musste lernen, dass der Tod zum Leben gehört, dass man darüber reden muss und in diesem Fall nichts delegieren kann. „Wir Producer können alles organisieren. Wenn jemand sagt: ‚Mach die Straße nass!‘, dann schicke ich ein Feuerwehrauto. Die Soße soll grün werden oder der Hubschrauber soll Rosen regnen – ich kann dir das alles machen. Aber da habe ich eine Machtlosigkeit gefühlt, die entsetzlich ist.“ Auf der anderen Seite hat ihr das Leid auch Kraft gegeben: „Der Blickwinkel ändert sich. Manche Dinge werden nebensächlich. Wie toll ist es, dass wir gesund sind! Und mir wurde bewusst, wie wichtig und schön es ist, eine Familie zu haben, miteinander alt zu werden. Das ist ein Gut, das viele Leute nicht richtig zu schätzen wissen.“ Nach dem Tod ihres Mannes brauchte sie Veränderung: „Wir haben uns ein neues Haus und eine komplett neue Aura gesucht.“ Natürlich gibt es Fotos von früher, besucht sie regelmäßig das Grab. „Aber die Vergangenheit ist etwas in unseren Herzen, das abgeschlossen ist. Das war für mich sehr wichtig.“ Seit drei Jahren hat sie wieder einen Mann an ihrer Seite. Ihr Sohn Max hat sein Abi und den Führerschein gemacht. Mit 27 hat Petra ihr erstes Unternehmen, die Telemaz, gegründet, in Düsseldorf, wo sie Germanistik und Romanistik studiert hatte. „Das war ein heißer Ritt, du kannst dir meine Eltern vorstellen: Sie dachten, ich werde Lehrerin, sahen mich schon in sicherer Beamtenstellung.“ Eigentlich hatte sie bereits im ersten Semester gemerkt, dass das Studium nicht wirklich ihren Interessen entsprach, aber: „Ich hatte nicht den Mut, das zu beenden.“ Anfang der 90er-Jahre gründete sie einen Telemaz-Ableger in Hamburg am Fischmarkt. Bevor sie den Mietvertrag bekam, sollte sie nachweisen, dass sie etwas mit Fisch zu tun hat, und verkündete: „Ich habe einen Bildschirmschoner, da sind Fische drauf.“ Sie hat die Räume bekommen. Vor der Tür standen die Prostituierten, für den Firmenparkplatz gab es einen Kondomaufhebedienst. Wo heute „Henssler & Henssler“ ist, war damals ihr Lager. Zwei Jahre nach dem Tod ihres Mannes hat sie die Telemaz GmbH verkauft. „Wenn man drei Filme parallel produziert und Millionen Euro draußen hat, dann ist das eine Riesenverantwortung. Ich war froh, die los zu sein.“ Für eine Weile jedenfalls. Sie blieb als Geschäftsführerin bei der Telemaz. Lange ging das allerdings nicht gut. Mit zwei Partnern hat sie, inzwischen 52 Jahre alt, noch einmal ein Unternehmen gegründet, die Bubbles Film GmbH, ein Sitz in Berlin, der andere im Hamburger Elbkaihaus. „Alle meine Kunden sind mitgegangen. Das war ein tolles Gefühl!“ Insider bezeichnen die Werbebranche gern als „brutal“ oder „Sauhaufen“. Ist was dran an dem Eindruck, Werbung und Ethik oder Fairplay passten schlecht zusammen? Petra findet das nicht. „Deshalb haben wir treue Kunden. Mich interessieren langfristige Geschäftsbeziehungen.“ Sie sei keine typische Werberin, betonte meine Freundin, als sie mich auf Petra aufmerksam machte. „Sie ist sehr reflektiert, supernett, warmherzig und klug. Und Preise räumen sie auch noch ab.“ Für die internationale VW-Werbung über Liebhaber Pedro und den gehörnten Ehemann, der nichts kommen sah, gab es 2013/14 sieben Auszeichnungen, u.a. den Bronze-Lion in Cannes. Was hat sich seit ihren Anfängen in der Branche geändert? „Die Budgets sind kleiner geworden!“, antwortet sie wie aus der Pistole geschossen. Und sonst? „In den 90ern war das Supermodel wichtiger als das Produkt: die Schiffer, die Campbell – du wusstest gar nicht, wofür die gelaufen sind. Heute sagen die Modeschöpfer: Ich brauch eine ganz Schmale, die aussieht, als wäre sie gerade aus dem Bett gestiegen. Die kennt niemand, aber die Marke ist wichtig.“ Eins allerdings ist ihrer Meinung nach gleich geblieben: „Die beste Art der Werbung ist, Geschichten zu erzählen.“ Wie erzählt man denn in 20–30 Sekunden eine ganze Geschichte? „Ja, das ist die ganz große Kunst!“ Und die beherrscht sie offensichtlich gut. Die Geschichte der schlanken Schönen, die im nächtlichen Madrid zusammen mit ihrer (gar nicht schlanken) Bulldogge durchs Büro tanzt, Männer am Fenster gegenüber in Verzückung versetzt, hat den Diätmittelhersteller Almased bekannt gemacht. Der Beau, der die Neuberger Wurst behandelt, als sei sie ein erotisches Spielzeug, ist ebenso bekannt wie die Politesse, die sich von ihrer Pflicht abbringen lässt: „I’ll be back After Eight!“ Am Drehort in Bahrenfeld diskutieren die Teammitglieder mittlerweile, wer die Pute anschneidet, ob das auf einem Brettchen oder einer Platte geschieht und wann die Soße ins Spiel kommt. Oft wird Petra dazu auserkoren, die Kreativen zu beraten, sprich: im Zaum zu halten. Jede neue Idee erfordert neue Einstellungen, kostet Zeit und damit viel Geld. Dann ruft einer der Producer: „Petra, wir brauchen dich!“ Und Petra Felten-Geisinger schafft es, das Team zusammen- und auf Kurs zu halten. DIE WELT 10.10.2015

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Die große Pose gibt es nur auf der Bühne

Johanna Christine Gehlen bereitet sich auf „Hamburg Royal“ vor und erzählt, wie sie sich gegen Inge Meysel behauptet hat

Sie hat ein schönes, ein besonderes Gesicht: katzenhafte Augen, hohe Wangenknochen und glatte blonde Haare. In kobaltblauem Hosenanzug und passenden Pumps posiert Johanna Christine Gehlen für den Fotografen vor der bunt gestrichenen Wand in einer ehemaligen Schule. Hier probt das Ensemble des St. Pauli Theaters für das Musical „Hamburg Royal“. Prüfende Blicke wirft sie auf den kleinen Monitor der Kamera, gibt dieses und jenes Detail zu bedenken, während ich einfach finde, dass sie auf jedem Foto klasse aussieht. „Sie ist eine Perfektionistin“, kommentiert Astrid Flohr, die Pressesprecherin des Theaters. Und außerdem ist Johanna Christine Gehlen Profi: „Wie die Außenwelt mich sieht, ist beruflich von extremer Bedeutung.“ Wir Hamburger kennen sie als Stella mit Ben Becker in „Endstation Sehnsucht“ oder als Tochter des an Alzheimer erkrankten Vaters, gespielt von Volker Lechtenbrink. Der Rest der Republik kennt sie aus Fernsehfilmen wie dem „Traumschiff“ oder „Mensch ohne Hund“. Zwar weiß sie zu posieren, doch im wirklichen Leben meidet sie die große Pose. Sie will möglichst nicht herausstechen, bei Unicef zum Beispiel, wo sie sich sehr engagiert, nicht nur die repräsentativen Aufgaben übernimmt, sondern Grußkarten im Einkaufszentrum verkauft wie alle anderen Helfer auch. Während unseres Gesprächs sitzen wir mit gegrätschten Beinen auf einer schmalen Bank in der Männergarderobe, nippen an kalt gewordenem Kaffee. Ab und zu steckt einer der männlichen Kollegen seine Nase durch die Tür, verschwindet aber lautlos, als hätten wir hier den Vortritt. Steht sie lieber auf der Bühne oder vor der Kamera? Da mag sie sich gar nicht entscheiden. Es muss auch nicht immer eine Hauptrolle sein, denn Nebenrollen, findet sie, haben ihren ganz eigenen Reiz: „Wenn du einen Charakter spielst, der von der Seite in den Handlungsverlauf hineinplatzt, dann kannst du viel mehr auf den Punkt spielen, offensiver mit deinem Charakter umgehen. Als Hauptfigur musst du zarter sein, weicher und runder arbeiten, damit der Zuschauer bei dir andocken kann.“ Zwei verschiedene Typen von Schauspielern gibt es ihrer Meinung nach: „Die einen spielen, weil sie sich bewegen und sich emotional veräußern wollen. Die anderen gehen psychologisch an die Rollen heran, suchen in der Geschichte, sind eher wie Trüffelschweine.“ Sie sieht sich eher als Suchende. Vor fast 15 Jahren habe ich sie zum ersten Mal getroffen. Wir sprachen über Inge Meysel. In dem Fernsehfilm „Die Liebenden vom Alexanderplatz“ stand Gehlen als Enkelin Sarah mit Meysel als Großmutter Ruth vor der Kamera. Die wesentlich ältere, prominente Spielpartnerin maßregelte und pisakte die junge Kollegin bei jeder Gelegenheit. Oft musste Johanna Christine, damals Anfang dreißig, tief Luft holen, aber: „Du kannst machen, was du willst“, wappnete sie sich innerlich gegen die biestige Meysel, „du kriegst es nicht hin, dass meine Sarah deine Ruth nicht liebt!“ Allen Sticheleien zum Trotz hat Johanna Christine an ihrer Liebe als Enkelin festgehalten. „Es war hinterher das größte Lob zu hören, dass man mir diese Liebe in dem Film glaubt. Ein menschlicher Erfolg für mich.“ Und eine Episode, die viel über Gehlens Haltung und Charakter sagt. Sie ist eine sanfte Kämpferin. Sie gibt nicht einfach klein bei, schlägt aber nicht gleich um sich. „Ich bin ein harmoniebedürftiger Mensch, auch in der Arbeit. Ich brauche das Gefühl, dass die Leute denken, ich bin da richtig, wo ich bin.“ Mit siebzehn stand sie zum ersten Mal auf der Schauspielhaus-Bühne, mit den University Players in einem Stück über Uwe Barschel als Shakespeares Macbeth. „Ich hatte zwei kleine Rollen, aber die haben gesessen“, erinnert sie sich. Nach diesem Abend kamen ihre Eltern zu dem Schluss: „Jetzt ist wohl klar, was du erst mal machst.“ Die Eltern wussten, wovon sie sprachen. Mutter Hanne tanzte als junge Frau durchs Operettenhaus, wurde später Lehrerin. Der Vater, Elmar Gehlen, entwickelte sich vom Schauspieler zum Regisseur. Johanna Christine bestand das Schauspieldiplom an der Hochschule für Musik und Theater in Hannover mit Auszeichnung. Anschließend spielte sie in Münster und Essen in Klassikern wie „Nathan, der Weise“, wirkte in Fernsehfilmen und der Fernseh-Comedy „Sketchup“ mit. Sie ist eine waschechte Hamburger Deern, 1970 hier geboren. Bis vor ein paar Jahren wohnte sie noch in derselben Ottenser Wohnung, in der sie aufgewachsen ist. Erst als sie mit Mann und zwei Kindern wirklich mehr Platz brauchte, konnte sie sich davon trennen. Der Umzug führte sie nur wenige Hundert Meter weit weg. Sie blieb in Elbnähe. Verheiratet ist sie mit Sebastian Bezzel, ebenfalls Schauspieler, bekannt als „Tatort“-Kommissar vom Bodensee und Dorfpolizist im Kinofilm „Winterkartoffelknödel“. Beide Schauspieler – ist das von Vorteil? „Ich finde schön, wenn man weiß, was der andere macht und durchstehen muss“, erklärt sie. So komme sie nicht in Versuchung zu sagen: Du hast doch als Schauspieler so ein tolles, buntes, bewegtes Leben! „Man weiß, wie wahnsinnig hart und einsam das manchmal ist.“ Wie sieht Sebastian Bezzel seine Christine? Langweilig wird es mit ihr nie, weiß er zu berichten. Sie ist immer für eine Überraschung gut, hat etwas „Sprunghaftes“. Da kann es passieren, dass sie plötzlich Gäste mit nach Hause bringt – das mag er. Oder dass er schon abreisefertig im Auto sitzt und wartet, während ihr plötzlich eingefallen ist, noch zwei E-Mails zu schreiben – das gefällt ihm weniger. „Sie hat Stilbewusstsein und Eleganz. Ihr ganzes Auftreten, das liebe ich!“ verrät er mir. „Und sie hat ein Riesenherz, das zeigt sich in ihrem Humor und ihrem Engagement.“ Ihren Einsatz für gute Zwecke nimmt sie wirklich ernst. Einmal sollte sie für Unicef eine Rede vor tausend Leuten halten und hatte schon bei Abschluss des Fernsehvertrages darauf hingewiesen. Als der Dreh dann ungeplant länger dauerte, brach sie ab, um pünktlich bei der Unicef-Veranstaltung zu sein. Die Szenerie musste für einen Nachdreh später aufwendig rekonstruiert werden. „Es tat mir wahnsinnig leid. Aber das war ein Moment der Entscheidung, und eine ehrenamtliche Sache ist in meinem Leben genauso viel wert wie alles andere auch.“ Der Regisseur hat seither nicht mehr mit ihr gearbeitet. In diesen Tagen macht sie sich auch für eine andere Sache stark. Johanna Christine Gehlen, die begeisterte Seglerin, wird Schutzherrin der Traditionsschiffparade, die vom Museumshafen Övelgönne am 26. September veranstaltet wird. Da musste sie nicht lange überlegen; sie ist mit den alten Schiffen quasi vor der Haustür aufgewachsen. Wie schafft sie das alles, frage ich mich und weiß noch, wie ich sie vor einiger Zeit mit dem Kinderwagen quer über die Straße zum Bus rennen sah, ganz außer Atem. Sie musste zur Probe, Sebastian war irgendwo drehen, und der Babysitter konnte erst später am Abend. Also musste der Kleine mit zur Probe. Inzwischen ist noch ein Kind da, ein Mädchen und ein Junge also, zwei und vier Jahre alt. „Wir verbringen viel Zeit zu viert, wir nehmen uns die Zeit. Ich lehne Angebote ab, und Sebastian hat sich den ganzen Sommer freigeschaufelt. Wir sind ziemlich strikt in der Verteidigung unseres Lebens.“ Ihr Blick aufs Leben ist von Grund auf positiv, und so manövriert sie wohlbehalten durch den größten Stress. Diese Stärke hat beruflich manchmal Nachteile. Sie fühlt sich zu sehr festgelegt auf ein bestimmtes Rollenbild. „Ich werde von Castern und Regisseuren gern gesehen als eine, die einen Schutzwall, eine Schale um sich aufgebaut hat. Die wird dann durch eine große Liebe, unverhoffte Mutterschaft oder schicksalhafte Erlebnisse durchbrochen, sodass die Figur eine emotionale Läuterung erfährt und schließlich weich und durchlässig werden darf.“ Ist sie wirklich so? Hat das Ähnlichkeiten mit der realen Johanna Christine? „Eigentlich nicht. Ich kann wohl schnell wirken, wie jemand, der sehr gerade durchs Leben geht, sehr gefasst und kontrolliert. Aber so empfinde ich mich überhaupt nicht.“ Doch auch von ihren Freunden hört sie häufig: „Du schaffst das doch alles!“ Zu gerne würde sie Frauen spielen, denen alles aus den Händen gleitet. „Nicht immer aus der Kontrolle in den Frieden, sondern auch mal aus der Kontrolle ins Chaos! Das erleben doch viele Menschen, gerade Frauen mit ihrer Mehrfachbelastung.“ In „Hamburg Royal“ wird sie ab nächster Woche gleich in drei verschiedenen Rollen auf der Bühne stehen. Im grauen Tweed-Kostüm als konservative alte Dame am Stock, ganz in Schwarz als knallharte Geschäftsfrau und als Brautmutter (Modell Elbvororte) mit extravagantem, wagenradgroßem Hut. Da wird es sicherlich hier und da chaotisch zugehen. Aber das ist wohl ein ganz anderes Chaos, als Johanna Christine Gehlen meint. DIE WELT 19.09.2015

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In der Schiffsklassifikation sorgt die Juristin Gesa Heinacher-Lindemann dafür, dass sich 16.000 Mitarbeiter an Ethik-Regeln und Gesetze halten

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Duzen ist eigentlich gar nicht ihr Ding. Aber als einer der Vorstände fragte: „Frau Heinacher, haben Sie etwas dagegen, wenn wir uns im Team alle duzen?“, da wollte sie nicht hintanstehen. Gut, dann duz ich jetzt mal meinen Vorstand, hat sie sich gedacht. Klingt ja auch komisch, wenn eine der in Englisch geführten Sitzungen so eröffnet wird: „Good morning, Sarah, Marc ... – and Miss Heinacher-Lindemann.“ Sie ist eine der wenigen Frauen, die es in der maritimen Wirtschaft nach oben geschafft haben. Seitdem der Germanische Lloyd mit der norwegischen Klassifikationsgesellschaft Det Norske Veritas zum DNV GL verschmolzen ist, weht ein anderer Wind durch die Konferenzräume, und das macht ihr Spaß. Seit 27 Jahren arbeitet sie für dasselbe Unternehmen, das nun ein ganz anderes ist, kein deutsches mehr, sondern ein internationales mit stark norwegischem Einschlag. Klassifikationsgesellschaften wie der DNV GL erstellen Richtlinien zum Bau von Schiffen und überwachen anschließend ihre Einhaltung. Sie erteilen dem Schiff ein sogenanntes Klassenzertifikat. Nur damit bekommt der Betreiber eine Versicherung und die Erlaubnis, jeden gewünschten Hafen anzulaufen. Seit geraumer Zeit beurteilen diese Gesellschaften auch andere Anlagen, in Windparks zum Beispiel oder auf Bohrinseln. „Als ich anfing, gab es hier nur Ingenieure, die nicht im Anzug herumliefen und eine ganz andere Unternehmenskultur hatten“, erinnert sich Gesa Heinacher-Lindemann, während ich den fantastischen Ausblick aus ihrem gläsernen Büro am Brooktorkai bestaune. Hemdsärmelig geht es hier nicht mehr zu. Sie trägt ein helles kariertes Kostüm, dezenten Goldschmuck und flache Lackpumps mit einer Schleife. Mit ihren blonden Haaren und strahlend hellblauen Augen könnte sie eigentlich die Vorzeigeskandinavierin sein. Ist sie aber nicht. Sie wurde 1959 in Lübeck geboren und ist später in Bad Bramstedt zur Schule gegangen. Die Mutter: Hausfrau. „Aber durchaus gleichberechtigt!“ betont sie. Der Vater: Beamter beim Bundesgrenzschutz. Preußisch geprägt, hat er Gesa und ihrem älteren Bruder beigebracht, dass Leistung zählt. „Und wenn man eine Aufgabe übernimmt, bringt man die zu Ende!“ Das hat sie sich gemerkt, das kann sie und das macht sie gern. Sie ist sehr diszipliniert. Und ordentlich. In ihrem Büro liegt nichts herum. Vergeblich halte ich Ausschau nach Fotos oder anderen persönlichen Dingen. Sie wirkt herzlich und offen, lässt aber auch spüren, dass sie lieber nur wenig von sich preisgeben möchte. Jura hat sie studiert, in Kiel, dann mehrere Auslandsstationen absolviert, darunter Brüssel, San Diego und Miami. Sie hat den Germanischen Lloyd fit für Europa gemacht, später die Rechtsabteilung aufgebaut. Das Internationale reizt sie an ihrem Job. Heute ist Gesa Heinacher-Lindemann der führende Compliance Officer des DNV GL. Auf der zweiten Führungsebene des Konzerns angekommen, sorgt sie dafür, dass sich knapp 16.000 Mitarbeiter in über 100 Ländern an Recht und Gesetz halten und an die ethischen Standards der Gesellschaft. Es geht dabei insbesondere ums Kartellrecht, um Korruption, um den Datenschutz und die Einhaltung von Sanktionen, wie aktuell gegenüber Russland oder dem Iran. Ein gut funktionierendes Compliance-Programm ist für ein Unternehmen nicht nur unter juristischen oder ethischen Aspekten wichtig, sondern vor allem auch unter wirtschaftlichen. Gesa Heinacher-Lindemann soll verhindern, dass der DNV GL zu Schadensersatzforderungen oder Bußgeldern verdonnert wird. „Was würde ein norwegischer Journalist denken, wenn wir dieses oder jenes täten?“ Diese Frage müsse man sich immer stellen, erklärt sie mir, denn in Skandinavien seien die Ansprüche in dieser Hinsicht sehr hoch. Im vergangenen Jahr hat sie 1200 Menschen weltweit trainiert, u. a. in London, Brasilien und Japan. „In meinen Workshops sage ich den Chinesen, dass wir nicht den chinesischen Level anstreben, sondern den skandinavischen. Dann wird immer gelacht und sie fragen: Willst du, dass wir norwegisch werden?“ Natürlich nicht, aber sie will dafür sorgen, dass das Integritätsniveau den norwegischen Anforderungen genügt. Und wie macht sich der norwegische Einfluss noch bemerkbar? „Ich muss sehr viel kommunizieren“, erklärt sie mir. Transparenz wird dort ganz groß geschrieben und der Führungsstil ist demokratischer. „Wir lyncen immer, das ist ähnlich wie Facetime.“ Aber sie fliegt auch oft nach Norwegen zu direkten Gesprächen in der Zentrale des DNV GL in Hovik bei Oslo. Es wird mehr in Teams gemacht und es muss mehr abgestimmt werden, und häufig wird überlegt, ob die Entscheidung der letzten Woche nicht doch noch einmal überdacht werden sollte. Das kennt sie aus deutschen Arbeitsstrukturen nicht. Ihr liegt das. Sie ist eine Teamarbeiterin. Allerdings, wenn sie unter starkem Druck steht, dann macht sie – sagen wir mal – sehr deutliche Ansagen. Neue Mitarbeiter klärt sie von vornherein auf: „Also, ich bin ganz nett und teamorientiert, aber wenn es schnell gehen muss, dann werde ich autoritär.“ Spricht etwas dagegen, dass wir in diesem oder jenem Land unseren Service anbieten? Fragen dieser Art landen auf ihrem Schreibtisch. Und dann muss es oft sehr schnell gehen. Die Geschäftspartner warten nicht, es geht um große Summen. Und es geht um Haftung, auch für sie persönlich. „Ich würde haften, wenn ich Missstände im Unternehmen verschleiere und nicht dem Vorstand oder anderen Gremien mitteile. Dafür könnte ich persönlich ins Gefängnis gehen“, erläutert sie mir. Für die Kollegen in aller Welt hat sie eine Checkliste angelegt. Falls der Vertragspartner auf einer schwarzen Liste steht, schlägt die Software zum Prüfen von Sanktionen sofort Alarm. „Dann brauchen sie mich gar nicht zu kontaktieren. Machen wir nicht!“ Ihr Sachverstand ist gefragt in komplizierten Situationen, zum Beispiel mit Blick auf den Iran, wenn europäisches und amerikanisches Recht nicht übereinstimmen. Mithilfe von Lobbyisten vor Ort beobachtet sie Obamas Anstrengungen, die Sanktionen gegenüber dem Iran zu lockern. „Aber die Lobbyisten sind manchmal gefärbt“, weiß sie aus Erfahrung. „Da muss man aufpassen, dass man sich nicht in ein politisches Feld hineinziehen lässt.“ Wenn ein Geschäft zwar rechtlich bedenkenlos, aber politisch fragwürdig scheint, ist ihr Urteil wichtig. „Compliance ist nicht nur eine rechtliche Frage, sondern häufig auch eine ethische“, meint sie. „Da bin ich ganz eng am Vorstand und frage: Wie siehst du das als Norweger? Denn ich bin ja Deutsche.“ Ach ja, da sind wir wieder bei den innereuropäischen Unterschieden: Im ersten halben Jahr hat sie gestaunt, mit welcher Selbstverständlichkeit die norwegischen Frauen Familie, Kinder und Arbeit verbinden. Und wie schaffen die das? „Die Männer haben eine andere Einstellung, sie übernehmen einen erheblichen Teil der Familienpflichten. Und die Arbeitszeiten sind flexibler.“ Gegen 16 Uhr verlassen die meisten Kolleginnen und Kollegen in Hovik das Büro; Mittagszeiten und Smalltalk mit Kollegen haben sie sehr knapp gehalten, damit sie gegen 18 Uhr – so halten das viele – gemeinsam mit ihren Familien am Abendbrottisch sitzen können. Später, ab 22 Uhr trudeln wieder die dienstlichen Mails ein, weiß Heinacher-Lindemann zu berichten, und das hält nicht selten bis nachts um ein Uhr an. Kürzer sind die norwegischen Arbeitszeiten, insbesondere für Führungskräfte, nicht, aber flexibler. Ganz oben in der Hierarchie, hat sie beobachtet, ist die Zeit für die Familie hier wie dort äußerst knapp. „Ich glaube nicht“, sagt sie etwas nachdenklich, „dass ich mit Kindern diese Karriere gemacht hätte.“ Schon ohne Kinder ist das mit der Work-Life-Balance ein Problem. „Wo sonst, außer in Ihrem Büro, könnte ich Sie denn noch antreffen?“, wollte ich vor unserer ersten Verabredung wissen. „Mit der Frage zielen Sie genau ins Schwarze“, hat sie, ein wenig betroffen, geantwortet. Ihr Leben spielt sich fast ausschließlich im Büro ab. Zwei- bis dreimal pro Woche joggt sie, das schafft sie meist. Für andere Interessen, zum Beispiel Ausstellungen und Kunst, bleibt ihr keine Zeit. Leider. Das will sie unbedingt ändern. „Ganz sicherlich möchte ich mehr Life-Balance entwickeln.“ Die Frage ist nur, wie. Ihr Mann, Otto Christian Lindemann, darf sich nicht beschweren. Der arbeitet nämlich in Köln und ist genauso oft unterwegs. „Ab und zu fahren wir morgens um fünf zusammen zum Flughafen und finden das sehr lustig. Jeder geht zu einem anderen Flugsteig.“ Und warum wohnt sie dann so weit ab vom Schuss im niedersächsischen Jesteburg? „Weil ich die Stille liebe! Ich liebe es, im Wald zu joggen und nicht um die Alster, wo man jeden kennt und grüßt.“ Auf der Alster hat sie – das ist schon eine Weile her – ihren Segelschein gemacht. Also hat sie auch privat Spaß am Bootfahren? „Nein. Das darf ich aber eigentlich gar nicht laut sagen: Ich werde seekrank.“ Dafür kann sie einem Richter erklären, wie so ein großer Frachter konstruiert ist. Das reicht doch, oder? DIE WELT 12.09.2015

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Ein Schuss Tragik, ein Schuss Komik

Ruth Toma, einst bei den Fliegenden Bauten, tastet sich mit ihren Drehbüchern durch die Grenzbereiche des Lebens

Ein Schuss Tragik, ein Schuss Komik – Stoffe, die beides in sich tragen, faszinieren sie. Ruth Toma schreibt Drehbücher. Sie tastet sich durch Grenzbereiche des Daseins, sucht nach den wirklich wichtigen Dingen des Lebens und nach dem ironischen Dreh in der Geschichte. Ihre Geschichten handeln von einem tamilischen Einwanderer, der erfolgreich Liebesmenüs liefert und an einen Waffenhändler gerät („Der Koch“, 2013). Oder von einem Lied, das Menschen in den Selbstmord begleitet: „Gloomy Sunday“, 1998. Das ist ihr Lieblingsfilm, wenn man das so sagen kann, und einer ihrer ersten, für den sie gleich den renommierten Deutschen Drehbuchpreis erhalten hat. Wir sitzen im sechsten Stock eines Gründerzeithauses in St. Pauli, genießen einen fantastischen Blick über die Baumwipfel und Dachfirste bis hin zu den Hafenkränen und zur Köhlbrandbrücke. „Noch“, sagt Ruth Toma mit leichtem Bedauern in der Stimme, „noch kann man die Köhlbrandbrücke sehen.“ Soll ja abgerissen werden, irgendwann. Zu meinen Füßen eine recht große Echse, die sich anschickt, ins Stuhlbein oder meinen Knöchel zu beißen. Nichts passiert, ein Bühnenrequisit. Hinter uns steht ihr Schreibtisch, nicht mal groß, aufgeräumt, ein Buch, ein paar Papiere, mehr nicht. Zu Hause arbeiten, das erfordert Disziplin. Sie kann das. Morgens ein paar Stunden und nachmittags ein paar Stunden. An der Wand hinter ihrem Schreibtisch ein riesiges Pinboard aus Kork mit vielleicht drei Dutzend ordentlich aufgereihten Notizzetteln. Jeder Zettel steht für eine Szene, die ersten zwei Reihen für den ersten Akt, die nächsten für den zweiten. „Da habe ich alles im Überblick“, erklärt sie mir, „kann sofort sehen, welcher Akt zu kurz oder zu lang ist, oder ob der Wendepunkt an der richtigen Stelle sitzt.“ Sie ist eine gut organisierte effektive Schreiberin, gefragt und erfolgreich. Produzenten und Regisseure kommen mit Ideen zu ihr, sie entwickelt eigene oder adaptiert Romane für den Film. Warum schreibt sie Drehbücher und keine Romane, will ich wissen. „Ein dramatisches Schreibtalent ist ein ganz anderes als ein episches oder ein romanhaftes“, antwortet sie ohne lange zu überlegen. „Beim dramatischen Schreiben erzählt sich alles über Handlung, und das ist sehr kurz.“ Kurze Pause. „Ich glaub, ich kann besser kurz! Dialoge sind eine sehr kurze Angelegenheit, man muss mit knappen Sätzen ein ganzes Bild malen. Und das entspricht mir mehr.“ Klein und zierlich ist sie, eine aparte Erscheinung, ihre grau melierten kurzen Haare sind dezent strubbelig. Sie trägt ein petrolfarbenes enges T-Shirt, eine helle Hose und schwarze Flipflops, winzige Ohrstecker und einen winzigen Anhänger an einer zarten Kette. Eigentlich hat Ruth Toma Bildende Kunst studiert, in München. Dort gründete sie mit anderen Studenten eine Theatergruppe, die Fliegenden Bauten. Das war in den 70er-Jahren, als das Theater sich politisierte und aus den vorgegebenen Institutionen ausbrach. Zehn Jahre lang reiste sie mit Wohnwagen und einem Zirkuszelt durch die Republik. „Da habe ich das Schreiben gelernt“, erzählt sie, „und viel über Dialoge. Auf der Bühne testet man sehr gut, was funktioniert und was nicht. Jeden Abend gibt es eine Rückmeldung vom Publikum. Aha, das war lustig, das hat gesessen – oder eben nicht.“ Die Stücke wurden weitgehend durch Improvisationen erarbeitet, wobei sich die Gruppe eher am Film als am Theater orientierte: der Einsatz von Musik, die Bildhaftigkeit, die Komik und die – wie sie sagt – „Volkstümlichkeit im besseren Sinne“. Nach und nach hat sie das Texten übernommen, weil sie „ein Händchen dafür hatte“. Wenn sie ein klassisches Theaterstück schreiben müsste, erklärt sie mir, würde ihr „gedanklich der Schnitt fehlen, also die Möglichkeit, übergangslos von einer Zeit in die andere, von einem Ort in den anderen zu springen.“ Die Auflösung der Fliegenden Bauten 1991 bedeutete einen harten Einschnitt in ihrem Leben. Hat das Theaterkollektiv doch zehn Jahre lang nicht nur zusammengearbeitet, sondern auch in der Gruppe gelebt, praktisch alles gemeinsam gemacht: Das Zelt auf- und abgebaut, gespielt und das Leben organisiert. Ruths Mann Sebastiano hat die Bühnenbilder erstellt. Die Fliegenden Bauten waren mit höchsten Idealen angetreten: „Wir ändern die Welt, weil wir so ein umwerfendes, sinnliches, wichtiges und unglaubliches Theater machen!“ Sie waren erfolgreich, hatten nun aber das Gefühl, kaum mehr zu sein als ein mittelständisches Theaterunternehmen. Das Ende wurde lange und fast endlos ausdiskutiert (wie es damals so üblich war). „Da habe ich zeitweise das Gefühl gehabt, es bricht eine Welt zusammen“, erinnert sich Ruth Toma. „Was soll aus mir werden? Ich war 33, habe mich gefragt: Wer bin ich denn ohne diese Gruppe?“ Fliegende Bauten – das war ein bekannter Name, aber wer war Ruth Toma? Sie studiert dann als eine der ersten an der von Hark Bohm gegründeten Filmschule in Hamburg und beginnt, Drehbücher zu schreiben. Schon der erste Film, eine Komödie mit dem Titel „Der schönste Tag im Leben“ (1995), wird ein Erfolg, erhält den Bayrischen Fernsehpreis. Es geht um eine Hochzeit zwischen einem Hamburger und einer Bayerin. „Ich nehme mir drei Tage“, hat Ruth Toma sich gedacht, „die Anreise, die Hochzeit, die Abreise. Dann muss ich nicht mit Jahren, geschweige denn Rückblenden umgehen. Und ich habe einen überschaubaren Ort, springe höchstens zwischen Kirche und Ballsaal.“ Den kulturellen Spagat zwischen zünftiger Volkstümelei und hanseatischem Understatement lässt sie gleich in dieses erste Drehbuch einfließen, so wie sie auch später immer wieder auf ihre persönlichen Erfahrungen zurückgreifen wird beim Schreiben. Der Einwanderer-Film „Solino“ (Regie: Fatih Akin) erzählt fast die Lebensgeschichte ihres Mannes Sebastiano Toma, dessen Eltern zu den ersten italienischen Gastarbeitern im Ruhrgebiet gehörten. Mit Sebastiano hat sie einen Sohn, inzwischen im Studium. Seit rund 30 Jahren ist sie nun sesshaft in Hamburg, geboren 1956 und aufgewachsen im Bayrischen Wald in Bodenmais, einem idyllischen Dorf 15 Kilometer entfernt von der tschechischen Grenze. Ihre Eltern führten eine Holzwarenfabrik. Natürlich träumten sie davon, die beiden Töchter würden den Betrieb eines Tages übernehmen. Ruth konnte sich das nie vorstellen. Und ihre sieben Jahre ältere Schwester, Jutta Mehler, schreibt jetzt auch. Ihren Roman „Am seidenen Faden“ hat Ruth Toma für den Film „Jeder Tag zählt“ adaptiert. Kann ich mal ein Drehbuch sehen, frage ich. „Oh, ich weiß gar nicht, ob ich eins hier habe“, sagt sie, schiebt die dicke Regalwand hinter ihrem Schreibtisch beiseite und findet tatsächlich ein einsames Exemplar. „Wohin du auch gehst“ lautet der Drehbuchtitel, aus dem dann 2008 der Film „Same Same but Different“ wurde. Es geht um einen jungen deutschen Mann, der sich in ein kam-bodschanisches Barmädchen verliebt. Behält die Autorin Einfluss auf die Gestaltung des Films oder nimmt ihr der Regisseur den Stoff einfach aus der Hand? Da gebe es Unterschiede, meint sie. Die Entwicklung eines längeren Fernseh- oder eines Kinofilms erfolge in der Regel als Teamarbeit, aber im Seriengeschäft komme es vor, dass die Autoren nicht mit eingebunden werden. „Neulich wurde ich in einem Projekt ersetzt. Der Sender war der Meinung, der Ton müsse komödiantischer sein und hat gedacht, das wäre nicht so mein Fach. Da wurde ein anderer Autor draufgesetzt und ich konnte nichts machen.“ Hat sie das verletzt, oder ist sie dafür zu sehr Profi? „Ich habe mich bemüht, sehr cool zu bleiben.“ Nur nach außen? „Nach innen habe ich schon das eine oder andere böse Wort gedacht. Das muss ich zugeben.“ Empfindet sie die Arbeit als anstrengend, oder fließt ihr der Text aus der Feder? „Oft gefällt mir die Idee, aber: Was ist der wirkliche Grund, diese Geschichte zu erzählen? Den muss man kennen, weil diese Erkenntnis so viel festlegt, so viel Hilfe bietet, zu entscheiden, wie ich die Geschichte erzähle. Welche Szene kommt nach der anderen? Welche Figur brauche ich? Diese Anfangsphase finde ich quälend. Da sitzt man Stunden und hat nichts auf dem Papier. Aber es ist nötig.“ Was treibt sie an, was motiviert sie, diese „Quälerei“ auf sich zu nehmen? Ruth Toma überlegt kurz. „Ich sitze da und es gelingt etwas“, antwortet sie dann, „das ist unglaublich erfüllend. Es ist wohl die Sehnsucht danach, dieses Gefühl immer wieder zu erleben, wahrscheinlich auch die Sehnsucht, in irgendeiner Weise etwas Bedeutendes zu schaffen, etwas Sinnhaftes.“ Zurzeit arbeitet sie mit Fatih Akin an einem Kinderfilm, der im nächsten Jahr gedreht wird: „Die Geister aus dem 3. Stock“. Eine Komödie aus scheinbar leichtem Stoff. Es spukt in einer Wilhelmsburger Arbeiterwohnung. Doch im Grunde geht es auch hier um Tiefgreifendes, um enge Bindungen, Abschied und darum, dass das Leben immer wieder etwas Neues zu bieten hat – nicht nur im Film. DIE WELT 29.08.2015

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Ulla Kopp will das Hamburger Kongresszentrum zum modernsten, schönsten und größten in Deutschland machen.

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Große Bilder brauchen große Themen, konstatierte ein Künstlerfreund. Das leuchtete Ulla Kopp sofort ein, und sie nannte ihr nächstes großformatiges Gemälde „Nicht Nichts“. Mit Acrylfarben malt sie am liebsten, oft abstrakte Motive, aber meist mit einem Thema im Hinterkopf. Abends oder am Wochenende rollt sie in ihrer Wohnung den Teppich beiseite, bedeckt das Parkett mit einer Malerfolie und schaltet die Tageslichtlampe an. 30 bis 50 Kunstwerke schafft sie im Jahr, manchmal ganz kleine. Sie kreiert auch filigrane lackierte Blechfiguren mit Löckchen aus Blumendraht und Röckchen aus Hasendraht. „Hund beißt Frau und Mann schaut zu“ hieß ihre erste Figur. Später widmete sie sich auch mit den kleinen Figuren den großen Themen der Welt: Auf ihrer Fensterbank entdecke ich die blecherne Odyssee vom trojanischen Pferd auf Rädern bis hin zur Penelope vor einem Berg getöteter Freier. Alles handgefertigt. „Was ich so schön finde, ist diese Gestaltungsmöglichkeit!“ Wenn Ulla Kopp so etwas sagt, meint sie gar nicht ihre Kunstwerke. Dann spricht sie von ihrem Job, von Be-to-be-Messen (für Fachbesucher) und Be-to-see-Messen (fürs breite Publikum). Sie spricht von Rechnungs- und Personalwesen, von Tätigkeiten also, die gemeinhin nicht im kreativen, sondern eher im Bereich der knochentrockenen Materie verortet werden. Ulla Kopp ist 50 Jahre alt, Wirtschaftsingenieurin und seit 2007 Geschäftsführerin der Hamburg Messe. Vorher hat sie u.a. in führenden Positionen für den Jahreszeiten Verlag und die Bertelsmann AG gearbeitet. Vor einigen Jahren schon bin ich auf sie aufmerksam geworden, als sie in einem Vortrag ihren Aufgabenbereich bei der Messe so bunt und begeistert darstellte, dass ich mir – bis dahin mit keiner besonderen Vorliebe fürs Messegeschäft ausgestattet – anschließend kaum noch eine interessantere Arbeit vorstellen konnte. Hatte ich anfangs gedacht, da kommt eine adrette Finanzverwalterin mit Kurzhaarschnitt und etwas altmodischer Brille, so war bald zu spüren, dass es hinter diesem Outfit einen frischen unkonventionellen Geist zu entdecken gibt. „Die Idee von Gestaltung sieht man im Bild viel mehr, aber aus meiner Sicht kommt sie auch in meinem Job zum Ausdruck“, erklärt mir Ulla Kopp, „egal, ob ich ein neues Berichtswesen konzipiere, oder ob es um Verträge und Verhandlungen geht. Auch bei meinen Bildern fange ich mit einer gewissen Analytik an, überlege mir, wie ich das Bild einteile oder was ich zum Ausdruck bringen will. Dann in der Umsetzung brauche ich Kreativität, weil es selten so läuft, wie ich mir das vorher vorstelle. Im Büro nicht, und beim Malen übrigens auch nicht.“ Eins ihrer bedeutenden Projekte in den kommenden Jahren wird die Vorbereitung der Hamburg Messe auf die Olympischen Spiele 2024 sein. (Da sind wir wieder bei den griechischen Göttern …) Das Messegelände soll – wenn es denn so weit kommt – zur großen Sportstätte werden. Wohin dann aber mit den Messen, die normalerweise hier stattfinden? „Unser Geschäft schwankt stark in Zweijahreszyklen“, gibt Ulla Kopp zu bedenken. Die größten Veranstaltungen, wie die Weltleitmesse für den Schiffbau und die WindEnergy, finden in einem geraden Jahr statt, ebenso wie die Olympiade. „Man muss sich also gut überlegen, wie man diese Probleme löst.“ Komplizierte Fragestellungen machen sie mitnichten nervös. „Wenn 2017 die Entscheidung fällt, kriegen wir das bis 2024 organisiert. Das können wir!“ Ulla Kopp ist Schwäbin von Haus aus. Das hört man auch nach dreizehn Jahren in Hamburg noch gut heraus, ein bissel wenigstens. Geboren und aufgewachsen in Reutlingen mit einer drei Jahre jüngeren Schwester, die Mutter Grundschullehrerin, der Vater Straßenbauingenieur, ein Beamtenhaushalt. Sonntagmorgens zu den Großeltern ins Bett gekrochen, wo der Opa seine Jäger-Geschichten erzählte. Ganz behütet, erinnert sie sich, sie sei als Kind nicht einmal umgezogen. Als Abi-Leistungskurse hat sie Mathe und Physik gewählt. Diese Fächer fand sie relativ einfach – wenn man es einmal kapiert hatte. Und Ulla kapierte schnell. Sie machte ihr Abi mit 1,1. Für ihr Diplom als Wirtschaftsingenieurin gab’s fünf Jahre später ebenfalls die Note sehr gut. Allzu viel Zeit wollte sie fürs Lernen nicht opfern, die verbrachte sie lieber auf dem Tennisplatz, wo sie übrigens auch heute noch gern hingeht. Sie betreibt außerdem regelmäßig Yoga, geht joggen, fährt Ski und hat vor Kurzem mit dem Golfen angefangen. Das Geheimnis ihres Zeitmanagements? „Ich verzettele mich nicht und daddele eigentlich nie herum. Ich konzentriere mich auf das, was ich gerade mache. Wenn ich mich beim Yoga erhole, dann entspanne ich mich entschieden und konsequent.“ Obendrein liest sie viel, kümmert sich gern und regelmäßig um die Kinder ihrer Schwester. „Ich finde Kinder niedlich und hab die gern, aber ich habe nie das Bedürfnis verspürt, eigene Kinder zu haben.“ Oft war sie die erste Frau in ihren Positionen. Das fing schon im Studium an der TH Karlsruhe an. Probleme gab es, als sie um 1990 in St. Gallen promovierte. „Warum heiratest du keinen, wenn du so scharf bist auf einen Doktor?“ Das war nur eine von vielen wenig charmanten Anmachen, die sie damals noch als persönliche Kränkung empfunden hat. „Es brauchte ein paar Monate, bis ich meine Waffen fand und wusste, wie ich zurückschieße.“ Wie hat sie denn zurückgeschossen? „Ähnlich blöd, weil subtil verstanden die nicht. In dem Moment, wo ich auf Gegenaggression geschaltet hatte, haben sie angefangen, mich zu akzeptieren.“ Ich solle mich mal mit „tit for tat“ beschäftigen, empfiehlt sie, einer Spieltheorie, die davon ausgeht, dass weiche Reaktionen auf harte Gegner nicht zum Sieg führen. Agiert sie auch heute noch „tit for tat“? Aber klar! Man schrieb bereits das Jahr 2012, als sie mit zwei deutschen Geschäftspartnern verhandeln wollte: „Die lehnten sich zurück und sagten: Wir verhandeln nicht mit Ihnen! Sag ich, das ist ja interessant und guck sie an. Da fangen sie an zu erklären, dass sie nicht mit Frauen verhandeln. Hundertprozentig wahr. Da konnte ich mich ebenso freundlich zurücklehnen und sagen: Das ist aber blöd, so kriegen Sie keinen Vertrag!“ Man schrieb das Jahr 2013, als das Verhandlungsteam der Messe gebeten wurde, Ulla Kopp doch bitte zu Hause zu lassen. Wenn sie mitkäme, dann würde die andere Partei ihre Steuerberaterin mitbringen, damit sich die Damen in der Bibliothek unterhalten könnten. Eine Frau am Verhandlungstisch war unerwünscht. Über solche Verhaltensweisen kann Ulla Kopp sich heute amüsieren: „Es bringt mich in eine relativ starke Verhandlungsposition, wenn die so ungeschickt sind. Aber sobald die Vorurteile einmal überwunden sind, legt sich das auch. Wir haben dann einen guten Vertragsabschluss gemacht.“ Früher hat sie mal gedacht, Qualität setze sich durch. Doch hat sie in der Praxis andere Erfahrungen machen müssen und spricht sich deshalb inzwischen für die Frauenquote aus. Es ist nicht zuletzt ihr Verdienst, dass die Messe den Helga-Stödter-Preis für mixed leadership erhalten hat, wobei es ihr nicht allein um die Geschlechterquote geht. Es geht auch um gemischte Altersstrukturen, ethnische Herkunft und unterschiedliche Ausbildungspfade. „Wir haben diesen Preis gewonnen, weil wir besonders heterogen sind. Wir haben ein ganzes Portfolio an Maßnahmen entwickelt, und damit haben wir gewonnen“, erklärt sie nicht ohne Stolz. Zu ihren nächsten großen Aufgaben gehört der Umbau des Congress Centrums, des CCH, ab Januar 2017. „Revitalisierung“ nennt sie das. Was passiert mit den Mitarbeitern während der Bauphase? Wie kann man den Besucher- und Lieferantenverkehr so steuern, dass er reibungslos fließt? Das sind die Fragen, mit denen sie sich – kreativ denkend selbstverständlich – beschäftigt. „Die Idee ist natürlich“, sagt sie, „zu den Top Five in Europa zu gehören und damit viele Reisende nach Hamburg zu bringen. Wir wollen weiter zu den weltweit führenden Kongresszentren gehören, auf jeden Fall in Deutschland das modernste, schönste und größte sein!“ Immer will sie hoch hinaus, bastelt mit Leidenschaft am perfekten Ergebnis. Die Freude am Gelingen treibt sie an. „Phasenweise habe ich immer die gleichen Bilder gemalt, solange bis ich das Gefühl hatte: Jetzt hab ich’s!“ Wann ist ein Werk fertig? Das sei eine der schwierigsten Fragen überhaupt, meint sie. „Wenn man glaubt: Alles, was ich jetzt hinzufüge, macht es schlechter.“ Sie übt sich in der Kunst des Weglassens. Das funktioniere nicht immer, bedauert Ulla Kopp. Und wenn sie an ihren Schuhschrank denkt … da klappt es gar nicht. DIE WELT 08.08.2015

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© Bertold Fabricius

Botschafterin zwischen den Kulturen

Ein Treffen mit Sonja Lahnstein-Kandel, deren eigene Lebensgeschichte ihr Wirken maßgeblich mitbestimmt.

Im schlichten schwarzen Kleid, die kleine Nadel des Bundesverdienstkreuzes am Kragen, steht sie im hinteren Teil des Raumes, wartet auf ihren Auftritt. Fünf Zigaretten habe sie morgens geraucht, gesteht sie, sonst höchstens eine pro Tag. Sie war eben aufgeregt. Davon bemerke ich wenig, als sie nach vorn geht, um mit ihrem Vortrag zu beginnen, nicht mal, als sie fast hinter dem massiven Mahagonirednerpult verschwindet. „Ich habe vergessen, um einen Hocker zu bitten“, entschuldigt sie sich. Der Saal lacht, wohlwollend, ihr Charme springt sofort über und natürlich eilt alsbald jemand mit einem Höckerchen herbei. Rund 100 Interessierte sind gekommen, um zu hören, was Sonja Lahnstein-Kandel über Multikulturalität in Israel zu sagen hat. Gleich zu Beginn attestiert sie uns, „dass Deutschland mit der Zeit in Sachen Erinnerung und Gewissenserforschung vorbildlich geworden ist – sogar weltweit vorbildlich“. Sie ist stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende der Universität von Haifa, der drittgrößten Stadt Israels in der Nähe des Berges Karmel. Kein anderer Ort weltweit, an dem Juden und Araber sich täglich in dieser Breite begegnen. Es ist angenehm, ihr zuzuhören. Sonja Lahnstein-Kandel spricht bescheiden, aber entschieden, zart, aber stark und lebendig. Sie verliert sich nicht in abstrakten Formeln. Ihr Ton bleibt ausgleichend, nicht herausfordernd, selbst als sie sich fragt, „warum hierzulande so oft der Zorn ausgerechnet auf den einzigen freien und demokratischen Staat in der Region gerichtet wird“. Israel meint sie natürlich und will, als wir uns später unterhalten, nicht gelten lassen, dass der Zorn auch Ausdruck der Verbundenheit sein könnte. Freunde geht man leider oft härter an, werfe ich ein, oder? Das sei aber „nicht logisch und wie eine verkehrte Welt“, findet sie, auch im Hinblick auf die USA: „Die Kritik ist vehement, aber das Gute wird als selbstverständlich genommen. Das kann verheerende Folgen haben.“ Ihre persönliche Lebensgeschichte prädestiniert Sonja Lahnstein-Kandel zur Botschafterin zwischen den Kulturen. 1950 in Zagreb geboren, 1966 als Jugendliche mit den Eltern nach Deutschland eingewandert. Die Eltern und Großeltern: kroatische Juden, die den Nazis und der faschistischen Ustascha entfliehen konnten. Ihr Vater: ein anerkannter Chirurg, der im Partisanenkrieg gegen die Faschisten schon nach zwei, drei Semestern Medizinstudium Beine amputierte und dann schrecklich enttäuscht wurde vom Korruptions- und Machtgehabe der sozialistischen Parteifunktionäre. Er suchte in Hamburg eine neue Existenz. „Mit nichts sind wir nach Hamburg gekommen“, erzählt mir Sonja Lahnstein-Kandel, „mit nichts.“ Sie formt mit den Händen ein kleines Schatzkästchen. „Mehr ist mir aus meiner Kindheit nicht geblieben.“ Sonja, 16 Jahre alt, klammerte sich damals an eine Hoffnung: In Hamburg ist das Meer. „Aber hier war gar nicht das Meer! Es war schrecklich. Eine große Enttäuschung. Und als ich dann endlich an die Ostsee gekommen bin, war das für mich kein Meer, das war nur etwas Graues.“ Blaue Wellen, die an eine Felsenküste schlagen, hatte sie sich vorgestellt. Hamburg zeigt sich ihr damals als „komplett verschlossen“. Immerhin hat sie so gelernt, über den eigenen Schatten zu springen und eine gewisse Schüchternheit abzulegen. „Denn abwarten, bis andere Menschen auf einen zukommen, das funktionierte nicht.“ Heute ist sie mittendrin im Hamburger Leben, oft der Mittelpunkt der Diskussion. Häufig betonten die Leute, das fällt ihr unangenehm auf, dass „man doch Israel auch mal kritisieren dürfe …“ Das würde man bei keinem anderen Land voranstellen, meint sie. Diese „nicht ehrlich gemeinten Präambeln“ sind ihr suspekt. Ebenso wie das Bedürfnis an vielen Dinnertafeln, ein Unrecht mit dem anderen zu vergleichen. „Was in Israel passiert, ist mindestens so schlimm, wie es damals bei uns war“, hört sie immer wieder und diese Aussage hat für sie einen „antisemitischen Anflug“. „Bei so einem Vergleich kommt nie etwas Gutes heraus!“ Und egal, wie eine Debatte um Terrorismus im Mittleren Osten verlaufe, am Ende komme immer die gleiche Frage: „Was ist mit der israelischen Siedlungspolitik? Als ob irgendein vernünftiger Mensch daraus den islamfundamentalistischen Terrorismus ableiten könnte.“ Was und wie dürfen wir Deutsche mit unserer historischen Schuld aussprechen, kritisieren, ohne Salz in offene Wunden zu streuen? Sind solche Diskussionsvorgaben überhaupt gut für eine Demokratie? Sie ist die Richtige, um darüber zu sprechen, aber jetzt möchte ich mehr über ihr Leben erfahren. Hamburg ist ihre Heimatstadt, aber nicht die einzige. Da bleiben noch Zagreb und auch Washington D. C., wo sie lange Jahre für den Internationalen Währungsfond und die Weltbank tätig war. Kaum hatte sie mit 24 ihr Diplom als Volkswirtin in der Tasche, wurde sie dort angenommen. „Das war ein bisschen Massel und Chuzpe“, freut sie sich noch heute. Jahrelang bereist sie asiatische Länder, vor allem die ärmsten, darunter Nepal, Bangladesch, Pakistan, entwickelt und betreut wirtschaftliche Projekte, überwacht die Verwendung von Strukturkrediten, zu einer Zeit, wo das Thema Nachhaltigkeit erst noch erfunden werden muss. Heute werde schnell gesagt, die Menschen in relativ unberührten Gebieten sollten möglichst ursprünglich weiterleben, stellt sie fest. „Aber wenn es eine hohe Kindersterblichkeit gibt und die lebensnotwendige Infrastruktur fehlt, dann kann man nicht einfach sagen: Die lassen wir halt so leben, wie sie sind!“ Ihr Büro erzählt von Reisen und den Projekten ihres Lebens in aller Welt, hier atmet man sofort kosmopolitische Luft. Von überall hat sie Erinnerungen mitgebracht, als wolle sie sich dafür entschädigen, dass ihr aus der kroatischen Kindheit nur so wenig geblieben ist. Auf dem Schreibtisch Tonfiguren aus Ghana, japanische Porzellanpuppen vor einer langen Reihe Leitzordner und natürlich Bücher über Bücher, viele dicke Kunstkataloge, das alles zwischen japanischen Wänden aus Shoji-Papier in filigranen Holzrahmen. Die Liebe für das Asiatische, besonders das Japanische, teilt sie mit ihrem Mann, Professor Manfred Lahnstein, Unternehmensberater und Bundesminister a. D. unter Helmut Schmidt. Das war 1982. Da hatten Sonja und Manfred gerade beschlossen, gemeinsam durchs Leben zu gehen. Nach langen Jahren in Washington kam sie seinetwegen nach Deutschland zurück. „Der letzte Sommer der sozialliberalen Koalition. Es war schrecklich, alles nur intrigenhaft, an die 40 Grad in Bonn und kein air conditioning.“ Das war bestimmt eine harte Zeit, auch politisch gesehen, merke ich an. Aber sie denkt nicht als Erstes an die Politik. „Vor allen Dingen hart fand ich“, die Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen, „dass ich plötzlich ein Niemand war. Alles drehte sich um ihn und ich war plötzlich eine Geliebte, die hatte eine türkise Bluse und ’ne weiße Hose an. Mehr nicht! Das werde ich nie vergessen. Ich hatte nicht einmal einen Namen. Herr Lahnstein führte seine neue Geliebte aus, wie einen Hund, der hat ein schönes Fell. Das war für mich sehr, sehr schwer.“ Kaum vorzustellen, wie jemand nicht neugierig genug sein kann, ihren Namen zu erfahren. Sonja Lahnstein-Kandel. 2004 wurde ihr das Bundesverdienstkreuz verliehen für die Gründung und Arbeit der Initiative step21. Deren Medienboxen zum Thema Toleranz und Rassismus werden mittlerweile von 20.000 Schulen genutzt. Toleranz und Koexistenz, das sind die Schlüsselwörter ihres Lebens. Sie organisiert Kunstauktionen im großen Maßstab, um ein künstlerisches Programm des Israel-Museums in Jerusalem zu unterstützen, das jüdische und arabische Jugendliche zusammenbringt. Sagenhafte 350.000 Euro hat die letzte Versteigerung eingebracht. Das Projekt heißt Bridging the Gap. Brücken bauen – ihr Lebensmotto. „Ach ja“, sagt sie, „und nebenbei arbeite ich ja auch noch.“ Das wäre jetzt fast nicht zur Sprache gekommen. Sonja Lahnstein-Kandel ist Unternehmensberaterin, gemeinsam mit ihrem Mann. „Klappt das?“, möchte ich wissen. „Am Ende funktioniert es gut, obwohl wir beide recht dickköpfig sind.“ So wirkt sie gar nicht auf mich. Aber eine wie sie, das habe ich sofort gemerkt, braucht eigentlich gar keinen Hocker, um gesehen zu werden und sich Gehör zu verschaffen. DIE WELT 18.07.2015

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Die Hitze treibt ihr Geschäft an: Claudia Hauswedell-Glaser betreibt den Beachclub Strandpauli. Dabei sollte das nur ein Hobby sein.

©Bertold Fabricius

Alles hier ist schief und krumm, die Sonnenschirme aus geflochtenem Bast und die orange-gestreiften Stehlampen. Vor der Photobox hängt ein zerrissener Jutesack, die Bambusmatten auf dem Dach der Bar hat der Wind durcheinander geweht. Der Bildschirm ihres Handys ist zersplittert. „Das macht nix“, stellt Claudia Hauswedell-Glaser gelassen fest, während sie an einem der robusten Holztische im Beachclub Strandpauli ihre pinkfarbene Lesebrille aufsetzt, um nach einer Telefonnummer zu suchen. Sie ist die Chefin von 140 Leuten, die den gekonnt schäbig-schräg eingerichteten Laden jede Saison wieder zum Brummen bringen. Gemeinsam mit ihrem Bruder und einem dritten Gesellschafter hat sie den Beachclub 2004 gegründet. Da waren ihre Zwillinge, zwei Mädchen, noch nicht einmal zwei und die ältere Tochter sieben Jahre alt. „Fragen Sie mich nicht, wieso ich dazu kam, obwohl die Zwillinge da waren. Es sollte eigentlich nur ein Hobby-Projekt sein, das wir neben unseren Berufen betreiben wollten.“ Dafür sieht es jetzt ziemlich professionell aus, finde ich. „Wenn ich nur einmal in meinem Hinterkopf gehabt hätte, was dieses Projekt mit sich bringt, dann hätte ich gesagt: Ey, das kann jeder andere machen, aber ich nicht! Ich wollte eigentlich nur die Gastgeberin sein.“ Wir sitzen an einem der abgeschabten Holztische auf eher unbequemen Stühlen und beobachten, wie ein Mitarbeiter einen halben ausgeschlachteten Mercedes hingebungsvoll mit goldener Farbe besprüht. An die zweitausend Menschen, die an einem sonnigen Wochenende auf breiten Polstern oder in Strandsesseln den Blick auf Kreuzfahrt- und Containerschiffe genießen, können froh sein, dass Claudia Hauswedell-Glaser erst handelt und dann denkt: „Ich glaube, nichts von dem, was ich in meinem Leben gemacht habe, hätte ich angefangen, wenn ich in Ruhe darüber nachgedacht hätte. Dann hätte ich Respekt vor der Sache bekommen und gedacht: Das kann ich nicht, das schaffe ich nicht.“ Spontan handelt sie, immer aus dem Bauch heraus und im Zustand der Euphorie. „Meine spinnerten Ideen, die hab ich bestimmt von meiner Mutter, die war auf liebenswürdige Weise verrückt.“ Eine ihrer „spinnerten Ideen“ hat Claudias Mutter, Erika Riemann, teuer bezahlt. 1945. Erika Riemann ist 14 Jahre alt. Das Hitlerbild in ihrer Schule im thüringischen Mühlhausen wurde durch ein Stalin-Porträt ersetzt. Erika nimmt einen Stift und verziert Stalins Schnauzbart mit einer Schleife. Für diesen kindlichen Streich steckt man sie in Lager und Zuchthäuser, u.a. ins ehemalige KZ Sachsenhausen. Als sie 1954 entlassen wird, ist sie 23 und hat keine Jugend gehabt. „Meiner Mutter fehlte so viel. Wenn ich in der Pubertät war, war sie mit in der Pubertät. Sie hat nicht gemerkt, dass sie gestört hat. Sie wollte dabei sein, weil sie das alles nicht hatte.“ Hat sie mit der Mutter über die Erfahrungen in der Haft gesprochen, frage ich. „Nein. Als Kind möchte man nicht wissen, was für schlimme Sachen die Mutter erlebt hat. Ich hatte auch Angst, dass ich noch Schlimmeres hören würde, als ich später erfahren habe. Eigentlich wollte niemand mit ihr über diese Zeit reden.“ Deshalb hat Erika Riemann ein Buch geschrieben: „Die Schleife an Stalins Bart“. Es wurde 2004 ein Bestseller. Claudia wollte es zunächst nicht lesen. Warum nicht? Sie kann es nicht genau erklären. Erst ein Jahr nach dem Erscheinen traut sie sich. „Da habe ich mir gesagt, ich muss es jetzt lesen, denn ich wurde permanent darauf angesprochen. Ich war unglaublich gerührt und angetan. Ich hatte immer die Befürchtung zu lesen, dass sie vergewaltigt wurde, aber das ist nicht passiert. Erstaunlicherweise.“ Die Bedienung bringt Tee und Claudia Hauswedell-Glaser blickt leicht konsterniert auf den Teebeutel im Papiertäschchen. „Wo ist denn der extra ausgesuchte gute Tee in den Stoffsäckchen?“ fragt sie freundlich aber stirnrunzelnd und erteilt dann eine kleine Teekunde-Lektion. Darin kennt sie sich aus. Ihr Vater war gelernter Teekaufmann, später wurde er Anwalt. Kopfschüttelnd nimmt sie zur Kenntnis, dass ich auf die künstlichen Aromen des 08/15-Tees hereinfalle, weil ich ihn (mit schlechtem Gewissen natürlich) bevorzuge. In der Hamburger Praxis ihres Vaters hat Claudia eine Lehre zur Anwaltsgehilfin absolviert, bevor sie Betriebswirtschaft studierte, Schwerpunkte Marketing und Personalwesen. Sie ist eine waschechte Hamburgerin: 1961 hier geboren, später fünf Jahre in Wuppertal und nach dem Abi sofort wieder zurück in die Hansestadt. Hierarchie wird im Strandpauli kleingeschrieben. Natürlich nennen sich alle hier beim Vornamen. Wenn Not am Mann ist, stehen auch die Barleute – oder Claudia selbst, und zwar gerne – einen halben Tag lang an der Spüle oder in der Küche. „Wir haben zwischendurch mit Profis gearbeitet, die an klare Rangordnung gewohnt waren. Mit denen konnte Strandpauli nichts anfangen.“ Ein guter Koch gab, wie er es aus seinen Sterne-Küchen gewohnt war, klare Anweisungen von oben herab. „Er ist hier so aufgelaufen, da machte niemand etwas. Und er wusste nicht, wie er reagieren sollte.“ Dabei ist sie selbst durchaus nicht zimperlich, wenn es um klare Ansagen geht. Aber immer auf Augenhöhe. Auch etwas, das sie von früher kennt: den offenen Umgang mit Menschen unterschiedlicher Couleur. Der Tankwart, der Briefträger oder auch mal James Last – sie alle waren gleichermaßen gern gesehene Gäste bei ihrer Mutter Erika Riemann. „Achtung, da kommt Muddi!“ warnen sich die Strandpauli-Mitarbeiter manchmal gegenseitig. Denn „Muddi“ kann auch böse werden. „Ich bin sehr impulsiv. Wenn mir etwas gegen den Strich läuft, dann lasse ich das direkt ‘raus, danach ist es sofort wieder weg. Deshalb trage ich nicht viel Langzeitstress mit mir. Ich entschuldige mich auch, wenn es ungerecht war. Da schäme ich mich nicht.“ „Das tut sie, auch wenn’s nicht immer leicht fällt!“ bestätigt ihr Mann, Uli Glaser, Schmuckdesigner mit einem Atelier im Industrie-Loft-Stil in Bahrenfeld, dessen Gestaltung im wesentlichen Claudia übernommen hat. Sie gestaltet mit Begeisterung. Eigentlich wollte sie mal Innenarchitektin werden. „Aber das Geschäft mit den Zahlen habe ich nun mal gelernt. Und deshalb haut mir jeder seine Zahlen auf den Tisch und sagt: Mach mal!“ Und so ist sie auch die Betriebswirtin des Schmuck-Ateliers. Uli und Claudia – eine Teenager-Liebe, er aus dem Osten, sie aus dem Westen. 1978 beide auf Urlaub in Ungarn. Es folgen acht Jahre konspirativer Liebe unter den Augen der Stasi. „Meine Mutter ist tausend Tode gestorben, wenn ich wieder ‘rübergefahren bin, unter Decknamen, mit Ablenkungsmanövern.“ Eine Weile geht es gut. Dann wird sie, 18 Jahre alt, in Ostberlin festgenommen und stundenlang verhört; Uli, 20, gerade beim Militär, wird unehrenhaft entlassen und für ein halbes Jahr strafversetzt in den Bergbau. Bis er da raus ist, hört Claudia nichts von ihm. Ganz überraschend wird am 24. Dezember 1986 die Ehe genehmigt, wenige Tage später ist sie verheiratet. „Ich kriege jetzt noch Gänsehaut, wenn ich davon erzähle.“ Ihr Leben, eine Abfolge von Hauruck-Aktionen. Kürzlich haben sie das über 100 Jahre alte Juweliergeschäft der Familie Glaser in Erfurt in ein modernes Schmuck-Studio verwandelt. Wieder ohne lange Planung? „Das Hü und Hott reichte mir. Ich habe einfach in der Nacht die Spitzhacke genommen und eine Wand durchbrochen.“ Und damit war klar, wo es lang ging! „Ich überrolle viele Menschen, das weiß ich, Uli hatte keine Chance. Meine spontanen Aktionen sind eine anstrengende Geschichte. Für den einen ist das positiv, für den anderen unheimlicher Stress.“ Auch in der Strandpauli-Küche haben sie gestern mal eben eine Wand eingerissen. „Die Claudia weiß genau, was sie will und bringt das mit Humor rüber“, erklärt mir die neue Küchen-Chefin, die schon nach zehn Tagen ahnt, wo im Strandpauli der Hammer hängt: „Das klingt dann locker, aber es gibt keinen Widerspruch.“ Und trotzdem, Claudia Hauswedell-Glaser ist bei ihren Leuten echt beliebt, das spüre ich bei jedem Mitarbeiter, der uns begegnet. Wenn das Familiengeschäft in Erfurt endgültig auf Zack gebracht ist und Strandpauli im Sommer brummt, dann sucht sie sich bestimmt wieder ein neues Projekt – und eine Spitzhacke. DIE WELT 04.07.2015

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© Bertold Fabricius

Mutter der Tanz-Compagnie

Ulrike Schmidt zieht als Betriebsdirektorin beim Hamburger Ballett im Hintergrund die Fäden.

Romeo & Julia, ein Ballett von John Neumeier, Musik von Sergej Prokofjew. Die Staatsoper ist voll besetzt, alle 1700 Plätze. Es ist die 170. Vorstellung seit der Premiere vor über vierzig Jahren. Ulrike Schmidt war mindestens zwei Dutzend Mal dabei. „Ich gucke mir alle Besetzungen an, weil es interessant ist, die Entwicklung der Tänzer zu sehen“, erklärt mir die Betriebsdirektorin des Hamburg Balletts. „Eine andere Besetzung – und das Ballett kann komplett anders wirken.“ Außerdem ist sie heute Abend im Dienst. Falls sich gleich jemand die Nase bricht (schon passiert) oder die Technik klemmt, ist sie es, die auf der Bühne verkünden muss, ob und wie es weitergeht. Wir betreten die Oper durch den Bühneneingang. Sie kennt jeden, der uns begegnet, hat ein paar letzte heißbegehrte Tickets zu verteilen. Freundlich, offen, unkompliziert und unprätentiös wirkt sie auf mich, und patent, ein bisschen wie die Mutter der Kompanie. Im Büro streift sie die Straßenschuhe ab und schlüpft in die mitgebrachten Pumps. „Das habe ich von den Amerikanerinnen gelernt“, sagt sie. Dann ein Gang über die Bühne, ein Blick hinter die Kulissen, grüßen, ermutigen, schauen, ob alles in Ordnung ist. Tänzerinnen und Tänzer sind kostümiert, geschminkt, startklar. Wenige Minuten bevor der Vorhang aufgeht, huschen wir auf die beiden Randplätze in der zweiten Reihe, Ulrike Schmidt in dunkler Hose, Blazer und buntem Schal. Vor uns Ballettmeister Lloyd Riggins. Wäre John Neumeier in Hamburg, säße er auch hier; er schaut sich fast jede Vorstellung an, wenn er in der Stadt ist. Das Ballett ist ungeheuer viel auf Reisen. Tanz kennt keine sprachlichen Grenzen. In den letzten Monaten war Ulrike Schmidt in Kopenhagen, Wien, Madrid, Salzburg, in Tokio und in Oslo, in Baden-Baden und im Oman. Wie kommt das Hamburg Ballett denn ausgerechnet in den Oman? „Witzigerweise war dort in Maskat eine künstlerische Direktorin, die aus Hamburg stammt“, erklärt Ulrike Schmidt. „Sie tauchte hier auf mit einer imposanten Broschüre des wirklich imposanten Opernhauses dort und hat uns eingeladen. Wir haben uns erkundigt und zugesagt.“ Erfahrungen mit der arabischen Welt hatte das Ballett bis dahin noch nicht. Jetzt galt es, die besonderen Bedingungen zu berücksichtigen. Zu viel Freizügigkeit in den Kostümen, Tänzerinne und Tänzer nur in hautengen Trikots, das war nicht möglich, also wurde ein eher klassisches Stück ausgewählt: Der Nussknacker. „Aber es kommt dort eine betrunkene Tante vor, die konnte nicht auftreten wegen des Alkoholverbots. Sie wurde zur Kuchen essenden Tante, die immer Petit Fours aß.“ Ansonsten musste nur ein Kostüm verändert werden, zunächst jedenfalls, bis während des Aufbaus in Maskat eine Besuchergruppe verschleierter Frauen durch den Saal geführt wurde und auf die Bühne starrte. Da wurde schlagartig allen bewusst, was auf den Bühnenprospekten zu bewundern war: ein paar schöne nackte Männer. Sofort ließ der technische Leiter des omanischen Teams den Vorhang fallen und der Requisitenmeister wurde angewiesen, Lendenschürzchen für die Bilder zu basteln. „Das fiel nachher kaum auf“, lacht Ulrike Schmidt. Auf Tourneen ist sie immer dabei, als Koordinatorin, als Notfall-Managerin für die rund 100 Reisenden, als Netzwerkerin und Verhandlerin mit den ausländischen Partnern. In Tokio hat sie gerade über die nächsten Aufführungen verhandelt, in Madrid dafür gesorgt, dass trotz eines Streiks alle Tänzer und Techniker pünktlich zur Vorstellung nach Hamburg zurück kamen. In Chicago, da war ihr Organisationstalent ganz besonders gefragt. Wegen zugefrorener Wasserwege kam die verschiffte Ausrüstung – Kostüme, Bühnenausstattung, Technik – nicht an. Ulrike Schmidt ließ Ersatz einfliegen, aus Paris, aus Hamburg, wo immer das benötigte Material zur Verfügung stand. Und als schließlich alles beisammen war, stand plötzlich während der Durchlaufprobe das Theater in Flammen. Tänzerinnen und Tänzer ohne Schuhe in dünner Trainingskleidung auf der Straße in frostiger Kälte. Da ging nichts mehr. Im kommenden Februar wird die Vorstellung nachgeholt. Ins Ausland zu gehen, das war schon als Kind in Leverkusen ihr Traum, den sie aber aufgab, weil ihr Vater starb, als sie gerade im Abitur steckte. Sie mochte die Mutter und die jüngere Schwester nicht allein lassen und machte genau das, was sie eigentlich vermeiden wollte: Sie landete wie ihr Vater (Diplom-Kaufmann) beim großen Bayer-Konzern. Dort ließ sie sich zur Wirtschaftsassistentin ausbilden. Eine Auslandsposition könne sie sich aus dem Kopf schlagen, machte ihr der Personalchef bald klar: „Frauen schicken wir nicht ins Ausland!“ Das war Mitte der 1970er Jahre. „Ich habe mich nie als starke Emanze gesehen, aber das stach wie tausend Nadeln gegen meinen Gerechtigkeitssinn“, sagt sie, heute mit einem Lachen. Aber immerhin liegen hier die Anfänge ihrer Karriere als Kulturmanagerin, die sie sehr erfüllt. Zum Heiraten und für Kinder kam nie die richtige Zeit. Mit 20, 21 schon organisiert Ulrike Schmidt das gesamte Kulturprogramm der Firma Bayer, wenig später ganze Tanz- und Musikfestivals in Nordrhein-Westfalen. 1987 übernimmt sie dann die Leitung des Konzert- und Ballettreferats der Salzburger Festspiele und arbeitet unter anderem unter Herbert von Karajan, erlebt seine letzte Probe vor seinem Tod. „Das war jemand – wie auch John Neumeier – der einen Raum betritt, und man fühlt genau: Er ist da!“ erinnert sie sich. Seit 1991, also fast ein viertel Jahrhundert schon, ist sie beim Hamburger Ballett. Ihr Büro befindet sich in Hamm im Ballettzentrum, einem der letzten Gebäude, das Fritz Schumacher gestaltet hat. Sie führt mich durch einige der neun hellen Ballettsäle, einer davon genauso groß wie die Bühne in der Staatsoper. Neben Trainings- und Büroräumen gibt es auch eine Internatsetage, wo 35 Schüler und Schülerinnen aus vielen verschiedenen Nationen ihr Zuhause haben. Ob man es Multikulti nennen will oder nicht, Integration funktioniert hier reibungslos. Die Verkehrssprache ist Englisch, oder: einfach zeigen, wie es geht. Der erstaunlichste Raum jedoch ist das Schuhlager, rund zwölf Quadratmeter bebaut mit fast deckenhohen Regalen, klimatisiert und vollgestopft mit blassrosa Ballettschuhen, zwei Fächer voller handgemachter Spezialanfertigungen für jedes Mitglied der Kompanie. „Die Hauptrolle in Dornröschen, die Aurora, vertanzt an einem Abend drei Paar Schuhe, in jedem Akt ein Paar“, erklärt Ulrike Schmidt. Zweimal muss ich nachfragen, bis ich das glaube. „Das ist ein teurer Spaß“, bestätigt sie. „Manche Kompanien setzen Limits für die Schuhe, das machen wir nicht. Wir finanzieren das. Die Füße sind das Kapital der Tänzer, das Wichtigste, was sie haben.“ Bei einem guten Schuhmacher kann es vierzehn Monate dauern, bis die Schuhe fertig sind. „Und dann verändern sich manchmal die Füße, und wir haben die Schuhe über. Die bekommen dann die Schülerinnen.“ Hat sie selbst mal getanzt? „Ich habe im Alter von drei Jahren mit dem Balletttraining angefangen, aber ich wollte nie Tänzerin werden. Irgendwann habe ich aufgehört mit dem ernsthaften Training, weil ich die Zeit nicht mehr hatte.“ Mit blutendem Herzen? „Nein, nein! In meinem Job muss man nicht selbst getanzt haben, aber ich finde es hilft, um viele Dinge zu verstehen und nachzuvollzie- hen.“ Zum Beispiel, dass die Karriere sehr früh endet, weil die körperlichen Ansprüche so hoch sind. „Tänzer, die aufhören, manchmal auch ganz plötzlich durch Verletzungen, können sich oft gar nicht vorstellen, etwas anderes zu machen“, weiß Ulrike Schmidt. Deshalb ist sie Mitbegründerin und Vorstandsmitglied der Stiftung TANZ (Transition Zentrum Deutschland), die Tänzer berät, um herauszufinden, wo ihre Möglichkeiten und Interessen liegen. „Wo kann ich mich so sehr engagieren wie im Tanz? Das gilt es herauszufinden.“ Und sie, was treibt sie an, möchte ich wissen. „Die Neugierde. Und die Beziehung zu Menschen. Ich muss mich mit einer Sache identifizieren können, dann begeistere ich mich.“ Wir sind wieder vor ihrem Büro angekommen, wo eine große rote Transportkiste mit Jahrbüchern, Programmheften und Gastgeschenken auf die nächste Reise wartet. Wenn vor Ort nicht vorhanden, wird sogar der Schwingboden für die Bühne plattenweise eingepackt. „Die Ballette, die auf Tour gehen, können wir längere Zeit hier nicht spielen, weil die Ausstattung unterwegs ist. Wenn ich etwas disponiere und die nötige Zeitspanne nicht einhalte, ist das tödlich – für den Spielplan jedenfalls. Dann schaffen wir das nicht.“ Bisher hat sie es immer geschafft, und das wird sicher auch so bleiben. DIE WELT 27.06.2015

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